[Debatte-Grundeinkommen] [Genugfueralle] Katja Kipping und Björn Böhning zum BGE bei Stern.de

Manfred Bartl sozial at gmail.com
Do Jun 28 12:09:01 CEST 2007


Hallo, Jörg!

Ich antworte mal anstelle von Werner, von dem ich annehme, dass er es
genauso sieht.

"Polemik unterhalb der Argumentationsschwelle" habe ich nicht
entdeckt, denn eine realistische Darstellung der 35-Stunden-Woche -
die im Prinzip ohnehin längst passé ist, auch wenn sie irgendwann mal
durchgesetzt worden sein sollte - ist nicht gleich eine Forderung :-)

Über Deine Darstellung der Gewerkschaften musste ich schmunzeln, denn
Du scheinst noch nicht bemerkt zu haben, dass die Richtung der
Gewerkschaften und die Richtung der Arbeiterschaft zwei völlig
verschiedene Vektoren darstellen! Ich habe mir gerade vorhin das
ver.di PUBLIK Extra zur Urabstimmung angesehen und da steht zu lesen:
"Der Streik hat
sich gelohnt"! HAHAHA! Und in den NachDenkSeiten wurden "Bemerkungen
zum Artikel 'Brüder, zur Sonne, zur Nichtigkeit' von Marcus
Hammerschmitt in Telepolis vom 25.06.07 von Jörg Hobland, ver.di
Bayern" veröffentlicht, in denen Hobland die "Krokodilstränen einer
Presse", kritisiert, "die sich ganz ungeniert freut, wenn
Gewerkschaften Niederlagen erleiden." Es sei "leider aber auch eine
der großen Niederlagen der Pressefreiheit, dass der heutige
Journalismus sich nicht die Mühe macht, wenigstens ein bisschen zu
recherchieren" - oder in anderen Worten: Hobland weint
Krokodilstränen, dass Hammerschmitt seine eigene Meinung
niedergeschrieben hat, anstatt die (oben angegebene) Darstellung der
Gewerkschaft 1 zu 1 zu übernnehmen! Meines Erachtens sind die
Darstellungen von Marcus Hammerschmitt in "Telepolis", Peter Kurz im
"Freitag" (vor der "Einigung") und Werner Rätz in der vorhergehenden
Mail aber um viele Dimensionen realistischer als das
Rechtfertigungsgestammel von ver.di im Allgemeinen und Jörg Hobland im
Besonderen! Die sieben im PUBLIK Extra abgedruckten Statements von
Telekom-MitarbeiterInnen und GewerkschaftsfunktionärInnen sind dagegen
allesamt Musterbeispiele für Realsatire! (Das PDF-Magazin ist auf
verdi.de nur einen Klick entfernt, aber VORSICHT! Ein Krampf in den
Lachmuskeln ist vorprogrammiert!)

Ich schiebe noch eine Anekdote aus eigener Erfahrung nach, die den
Streik im öffentlichen Dienst 2006 noch klarer charaktersiert als das
bescheuerte Polonäse-Tanzen der Gewerkschaftsfunktionäre vor laufender
TV-Kamera, nachdem sie gerade die 8 bzw. 14 Wochen bekämpfte
Arbeitszeitverlängerung hinnehmen mussten...
Ich war zu dieser Zeit jeden Tag in Mannheim, einer Hochburg der
Streikaktionen. Dort fragte ich Streikposten, warum sie denn ohne
Forderung in einen mehrwöchigen Streik gegangen sind. Und sie meinten,
sie hätten doch eine Forderung, nämlich "Null Stunden Mehrarbeit!".
Dass diese "Forderung" im Rahmen einer Kompromissfindung keinerlei
Verhandlungswert hatte, haben die Arbeiter offenbar nicht kapiert. Ich
fragte sie nach ihrer Motivation: "Würdet Ihr für die Erreichung Eures
Ziels, jedwede Mehrarbeit gleich gesellschaftsweit zu verhindern, bei
einem Generalstreik mitkämpfen?" Ja, DAS würden sie sofort. Wie
hilfreich das bei solch einer "Maximalforderung" sein würde, behielt
ich lieber für mich...

Gruß
Manfred



On 6/28/07, Joerg Schindler <joergschindler at gmx.de> wrote:
>
> Hallo,
>
> > -----Ursprüngliche Nachricht-----
>
> > Das stammt ganz offensichtlich aus dem Lehrbuch des Alltagsmarxismus
> > und ist ebenso offensichtlich gegen jegliche praktische Evidenz. Wer
> > hat denn in den letzten 40 Jahren irgendetwas durchgesetzt in diesem
> > Land? Ja, gut, eine Art "35-Stunden-Woche mit massenhaft Überstunden
> > und krassester Arbeitszeitverdichtung" haben immerhin die
> > Gewerkschaften erkämpft. Alles Andere? Fehlanzeige.
>
> Lieber Werner, das halte ich nun wirklich für Polemik unterhalb der
> Argumenteschwelle. Nach dieser Logik sollten wir am besten fuer
> Arbeitszeitverlaengerung sein, weil damit die Ueberstunden und
> Arbeitszeitverdichtung zurueckgeht?? Tatsache ist, dass die 35-Stunden-Woche
> ein großer gesellschaftlicher Fortschritt war - und zwar über die
> Metallbranche hinaus: Damit schien zumindest der Sieg der Volkswirtschaft
> über die Betriebswirtschaft als prinzipiell moeglich. Nicht umsonst wurde
> dieser in einer der zentralen gesellschaftlichen Kaempfe, naemlich in der
> IG-Metall-Tarifauseinandersetzung 2004, so extrem hart von Unternehmen,
> BILD-Zeitung und Regierung bekaempft.
>
> > Gesellschaftliche Bewegungen haben die sozialliberalen Reformen
> > erstritten, den Ausbau der Atomkraft gestoppt, Ökologie auf die
> > Tagesordnung gesetzt, zahlreiche Privatisierungen verhindert der
> > verzögert und vieles andere mehr. Während die Gwerkschaften mühsam ein
> > paar absolut schäbige und miserabel bezahlte Arbeitsplätze "sichern"
> > wie jetzt bei der Telekom, sind es ausschließlich gesellslchaftliche
> > Bewegungen, die überhaupt ein Interesse daran haben, ökologischen
> > Umbau, Ausstieg aus der Wachstumsdynamik, soziale Sicherheit für alle
> > auch nur zu thematisieren.
>
> Lieber Werner: Keine dieser o.g. "gesellschaftlichen Bewegungen" waere
> politisch nur einen Deut weit gelangt, wenn sie nicht mindestens die passive
> wohlwollende Akzeptanz, wenn nich gar die aktive Zustimmung erheblicher
> Teile der Arbeiterschaft gehabt haette.
>
> Lass uns das an einigen politischen Ereignissen ueber die Jahre verfolgen:
> Die sozialliberalen Reformen der 70er waren nur als Ergebnis der
> SPD-Wahlerfolge und ihrem Buendnis mit dem fortschrittlichen
> Kleinbuergertum, den Linksliberalen, ueberhaupt denkbar. Die Umweltbewegung
> konnte mindestens auf ein gewisses Unbehagen bei den Arbeitnehmern ueber die
> Auswirkungen der Umweltzerstoerung zaehlen; selbst die Gruen-Alternativen
> galten in der Regel dem fortschrittlichen Teil der Bevoelkerung, klassisch
> SPD-Waehlern als "unsere Kinder", mit ihren Spleens, versteht sich. Dabei
> bin ich sofort bei Dir, wenn "der Bewegung" hier eine positive
> Katalysatorfunktion - die furchtlose und konfliktuale Thematisierung als
> Minderheit - zugewiesen wird. Aber allein so waere es auch nicht erfolgreich
> gewesen. Oder lass uns z.B. auch einbeziehen, dass es bei den Gewerkschaften
> schon frueher als anderswo Beschluesse gab, der Atomkraft ein Ende zu machen
> - trotz "der Arbeitsplaetze". Und dass u.a. diese Beschluesse es ermoeglicht
> haben, dass ein - wenn auch widerspruechlicher und kompromisslerischer -
> Atomausstieg 1998 vereinbart wurde, und zwar unter einer Parole
> gesellschaftlicher Modernisierung durch Rot-Gruen, die immerhin damals eine
> satte Stimmenmehrheit errang. Dass diese "Modernisierung" dann doch recht
> schnell eine ganz besonders regressive Form bei allem annahm, was nicht die
> moralischen Parolen von Frieden, Umwelt, Menschenrecht und
> Eigenverantwortung, also die gruenen "soft skills" eben, ausmachte  - das
> waere allerdings ein eigenes Thema.
>
> Daher wird die Gegenueberstellung von - da - unfaehigen oder miesepetrigen
> Gewerkschaften und - hier - tolle fortschrittliche gesellschaftliche
> Bewegungen noch der Vorwurf des Alltagsmarxismus der Sache gerecht. Im
> Gegenteil: Nur durch Synergieeffekte bei der solidarischen Zusammenarbeit
> und der Akzeptanz bestimmter differierender Funktionen von sozialen
> Teilbereichsbewegungen, Gewerkschaften (und auch linken Parteien) wird ein
> effektiver politischer Widerstand und gesellschaftlicher Fortschritt
> moeglich.
>
> soweit
> Joerg
>


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