[Debatte-Grundeinkommen] Grundeinkommen, Marktwirtschaft und Demokratie (war: Re: Funktioniert die Demokratie in Deutschland?)

Guido Casper besserwisser3 at yahoo.de
Do Feb 22 18:38:15 CET 2007


Nur fürs Protokoll: Ich bin nicht gegen eine Regulierung des Marktes. Das Kartellamt ist eine der wichtigsten Institutionen, die wir haben. Es kommt aber sehr darauf an, WIE man die Märkte reguliert. Auch das Grundeinkommen ist ein regulierender Eingriff. Es ist aber ein einfaches, elegantes und zugleich sehr ausgeklügeltes Instrument. Mit roher Gewalt erreicht man in der Marktwirtschaft gar nichts - höchstens das Gegenteil von dem, was man eigentlich will.

Wer schonmal auf einem Pferd gesessen hat, weiss vielleicht, was ich meine. Reiten funktioniert nicht gegen den Willen des Pferdes. Wer versucht, dem Pferd seinen Willen aufzuzwingen, wird verlieren. Das Pferd ist stärker - viel stärker. Aber man kann ein Pferd bändigen und beherrschen. Wer sich aber mit dem Pferd nicht auseinandersetzen will, wird nie reiten lernen. Er wird am Ende dem Pferd die Schuld geben. Von mir aus soll er zu Fuß gehen. Aber er soll die Pferde und die anderen Reiter in Ruhe lassen.

Wir müssen lernen, die Märkte zu reiten (quasi :-). Aber wir müssen den Reitplatz auch wieder öffnen für Ponies und Ackergäule, anstatt ihn zu beschränken auf edle Rassepferde aus staatl. kontrollierter Zucht und auf staatl. geprüfte Rittmeister. Wirtschaft ist ein Breitensport. Wenn aber immer nur die Spitzensportler zu Lasten der Basis gefördert werden, dann verändert sich der Sport irgendwann.

Überleg doch mal, was es wirklich ist, das einen Durchschnittsverdiener - oder Dich oder mich - daran hindert, seine Ideen umzusetzen. Die Einstiegshürden sind so verdammt hoch geworden. Und es ist der Staat, der die Latte kontinuierlich höher legt.

                     --- oOo ---

Für jeden, der auch nur ansatzweise verstehen möchte, wie schlimm dieses Problem ist, wie marode unser Sozialsystem wirklich ist, wie alternativlos das Grundeinkommen und wie relevant die Finanzierung ist, dem empfehle ich den Leitartikel des Magazins brand eins in der Ausgabe 01/07 zu lesen:
http://www.brandeins.de/home/inhalt_detail.asp?id=2205

brand eins mag vielleicht nicht zu den Magazinen gehören, die von Mitgliedern dieses Forums oft gelesen werden. Das sollte es aber. Der Autor des Artikels, Wolf Lotter, schreibt in jeder Ausgabe den Leitartikel und er ist immer lesenswert. Ich wollte eigentlich einige der besten Passagen des Artikels zitieren, aber dann hätte ich den ganzen Artikel zitieren müssen. Übrigens - das Grundeinkommen kommt auch drin vor. (Es gibt in der gleichen Ausgabe auch einen Artikel, der sich dediziert nur mit dem Grundeinkommen beschäftigt :-)

Ok, jetzt doch noch ein kleines Zitat: "Derzeit zahlen rund 22 Millionen Bürger netto mehr ins Sozialkassensystem ein, als sie herausbekommen, das ist kaum ein Drittel der Wahlberechtigten."

Dieses Sozialsystem mit seinen über 150 Transfersystemen hat schon längst nichts mehr damit zu tun, den Schwächsten der Gesellschaft zu helfen. Es ist zu einem Machtinstrument verkommen. Wir müssen das Grundeinkommen auch als ein Instrument zur Entmachtung der politischen Kaste und zur Stärkung der Demokratie begreifen.

Macht korrumpiert. Auch Dich und mich. Wenn ich an der Macht bin, wie gehe ich dann mit Kritikern um, die mich daran hindern wollen, das zu tun, was richtig ist. Mit Kritikern, die meine überragenden Argumente einfach nicht verstehen wollen?

"Wäre das hier eine Diktatur, dann wäre einiges erheblich einfacher, solange ich der Diktator bin." George W. Bush.

                     --- oOo ---

Die Machtkonzentrationen werden immer schlimmer. Ich weiss nicht, was die Ursachen sind. Aber ich weiss, dass wir die Werkzeuge haben, um unsere Demokratie neu zu "konfigurieren".

Guido


Joerg Drescher <iovialis at gmx.de> schrieb: Hallo Guido,

entschuldige bitte, aber ich wollte Dich bestimmt nicht in die Ecke eines
Liberalisten stellen! Die meisten Menschen sind sich kaum bewußt, daß ihre
Vorstellungen und Aussagen schon von anderen Denkern gedacht wurden und in
gleicher (oder ähnlicher) Form in irgendwelchen "Ismen" auftauchen. Diesen
Umstand versucht der Jovialismus zu nutzen, indem geprüft wird, ob irgendein
"ismus" "joviale Gedanken" enthält. Diese Ansätze sollen dann Teil des
Jovialismus werden, bzw. darin weitergeführt werden. Deshalb ist der
Jovialismus keine "Ideologie", sondern ein "philosophisches Projekt".

Zum Beispiel gehen die (nichtjovialen) Aussage von Franz Müntefering "Wer
nicht arbeitet, soll auch nicht essen" über Hitler, Lenin, bis auf Paulus
zurück (vgl.:
http://www.tacheles-sozialhilfe.de/forum/thread.asp?FacId=423850). Dies
sollte zeigen, daß es kaum wirklich Neues unter der Sonne gibt. Selbst der
Jovialismus ist nicht "neu", sondern eine Weiterführung der Aufklärung (wie
es Rüdiger Heescher fordert). Neu ist nur der Name.

Du schreibst weiter, daß die Demokratie weit mehr ist, wie der
Entscheidungsfindungsprozeß. Dem stimme ich uneingeschränkt zu. Das große
Problem der Demokratie ist allerdings, wie man die größtmögliche Zahl an dem
Entscheidungsprozeß beteiligt. Bisher funktioniert das über Wahlen
(Abstimmungsverfahren mit Mehrheitsbeschluß), bei denen Repräsentanten
gefunden werden, die die Meinung des einzelnen (mehr oder weniger) vertreten
(sollen). Dadurch haben wir eine Diktatur der Mehrheit, die durch Parteien
repräsentiert wird. Von aktiver Teilhabe eines Einzelnen kann keine Rede
sein.

Auch will ich Dir bei der Vorbildfunktion der Repräsentanten zustimmen. Was
"die da oben" vorleben, wird gerne auch in der Bevölkerung "nachgelebt".
Doch Tugendhaftigkeit kann man nicht erzwingen. Vielmehr sollten wesentliche
Tugenden wieder vorgelebt werden. Dabei will ich aber nicht "Belohnung" in
den Vordergund stellen (die Diäten der Abgeordneten sind mitdessen so hoch,
daß sie sich tugendhaft benehmen, um z.B. unbestechlich zu sein).
"Belohnung" und "Bestrafung" liegen dabei sehr eng beieinander (eine
entgangene Belohnung ist eine Art Bestrafung, weshalb wir wieder bei dem
Thema "Pflicht" und "Zwang" wären). Ich verweise deshalb auf die Diskussion
über dieses Thema (oder auf den Aufsatz "verhaltenstheoretische Betrachtung
eines Grundeinkommen").

Entgegen den Liberalisten (weshalb ich auch die Wirtschaftsform des
Liberalismus ablehne) bin ich der Meinung, daß der Staat durchaus die
Wirtschaft regulieren sollte und durch Steuern, bzw. Abgaben eine
Verteilerrolle einnehmen müßte. Dies, damit auch dem schwächsten Glied in
der Gruppe ein Überleben möglich wird. Wie schon in meiner Ausführung zu
Rüdigers "Kritik" an unserer "Ideologie", behaupte ich, daß es nicht genügt,
ein Recht zu gewähren, wenn nicht die Möglichkeiten geschaffen, bzw. gegeben
werden, das Recht auch anzuwenden.

Deine Abschließende Forderung, den Menschen so sein zu lassen, wie er ist,
bringt wieder die Frage auf, wie der Mensch eigentlich ist. Die Gesellschaft
wird Menschen immer beeinflussen. Der Mensch ist nichts statisches, festes.
Der Mensch verändert sich, seine Gedanken, Vorstellungen, Ziele etc. Und
selbst der Körper (um Rüdigers Forderung einzuhalten, nicht alles aus dem
geistigen Blickwinkel zu sehen) verändert sich.

Mir scheint, Dein Ansatz ist sehr individualistisch - aber der Mensch wird
erst durch den Mitmenschen zum Menschen (keine Ahnung von dem das jetzt
stammt, aber hat ein kluger Mann schon vor mir gesagt). Der Staat ist nun
genau dafür da, dieses Zusammenleben zu organisieren - und zwar mit der
kleinstmöglichsten Einflußnahme (wie es z.B. im Liberalismus gefordert
wird). Der Staat (die Gemeinschaft) schützt dabei den einzelnen Menschen vor
der Freiheit eines anderen Menschen.

Das Grundeinkommen spielt bei der ganzen Geschichte die Rolle einer
gerechten Verteilung und der Schaffung von Möglichkeiten, die gegebenen
Menschenrechte (UN-Resolution 217 A (III) vom 10.12.1948) zu verwirklichen.

Sorry, ist (wieder) etwas länger geworden...

Viele Grüße aus Kiew,

Jörg (Drescher)



----- Original Message ----- 
From: Guido Casper
To: debatte-grundeinkommen at listen.grundeinkommen.de
Sent: Wednesday, February 21, 2007 10:11 AM
Subject: Re: [Debatte-Grundeinkommen] Funktioniert die Demokratie
inDeutschland?


Hallo Jörg,

um es kurz zu machen: Ich habe Deine Email komplett gelesen :-) und stimme
Dir in allem zu.

Stell mich ruhig in die liberale Ecke :-) Wenn man schon einem Ismus
angehören muss, dann ist mir Dieser der Liebste.

Ich möchte aber noch einen Punkt ergänzen und erläutern, warum das
Grundeinkommen für die Demokratie so wichtig ist. Die Demokratie wird oft so
reduziert, als wäre sie ein Mechanismus zur Entscheidungsfindung. Das ist
auch richtig. Sie ist aber mehr. Es gibt auch gesellschaftliche Aufgaben,
die sich nicht durch eine Entscheidung lösen lassen: Kooperations- und
Koordinationsaufgaben, z.B.:

Wie finden wir zu einem Zusammenleben, das unserer Gesellschaft entspricht?

Diese Aufgabe kann nicht entschieden und von oben aufgezwungen werden. Die
Politik tut aber oft so, als ginge das. Sie zerstört dabei Werte, bzw.
verhindert, dass Werte entstehen. Tugenden wie Fleiß, Sparsamkeit,
Ehrlichkeit, Respekt, Engagement, Mitgefühl, Charakter und Verantwortung
werden im heutigen System oft nicht mehr belohnt. Warum soll ich
Verantwortung für meine Mitmenschen übernehmen, wenn das doch der Staat
schon tut? Diese Tugenden haben ihren Sinn verloren, weil der Staat sich um
alles kümmert. Sie werden ersetzt durch das Streben so zu sein, wie der
Staat einen haben möchte. Und alles, was ich vom Staat zu erwarten habe, ist
Geld. Mehr ist nicht übrig gebleiben. Das ist es was heute zählt.

Das Pradoxon ist, dass es genau diese Werte sind, die die Gesellschaft
braucht, um sich von unten heraus zu entwickeln. Und welche Politiker sind
es dann, die diesen Werteverfall als Erstes beklagen?

Das Grundeinkommen (neben anderen Werkzeugen) ermöglicht eine soziale
Gesellschaft, die sich von unten heraus entwickeln kann und dabei jeden
Menschen so sein lässt, wie er ist.

Guido


 
 		
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