[Debatte-Grundeinkommen] Funktioniert die Demokratie inDeutschland?

Joerg Drescher iovialis at gmx.de
Mi Feb 21 15:42:08 CET 2007


Hallo Guido,

entschuldige bitte, aber ich wollte Dich bestimmt nicht in die Ecke eines
Liberalisten stellen! Die meisten Menschen sind sich kaum bewußt, daß ihre
Vorstellungen und Aussagen schon von anderen Denkern gedacht wurden und in
gleicher (oder ähnlicher) Form in irgendwelchen "Ismen" auftauchen. Diesen
Umstand versucht der Jovialismus zu nutzen, indem geprüft wird, ob irgendein
"ismus" "joviale Gedanken" enthält. Diese Ansätze sollen dann Teil des
Jovialismus werden, bzw. darin weitergeführt werden. Deshalb ist der
Jovialismus keine "Ideologie", sondern ein "philosophisches Projekt".

Zum Beispiel gehen die (nichtjovialen) Aussage von Franz Müntefering "Wer
nicht arbeitet, soll auch nicht essen" über Hitler, Lenin, bis auf Paulus
zurück (vgl.:
http://www.tacheles-sozialhilfe.de/forum/thread.asp?FacId=423850). Dies
sollte zeigen, daß es kaum wirklich Neues unter der Sonne gibt. Selbst der
Jovialismus ist nicht "neu", sondern eine Weiterführung der Aufklärung (wie
es Rüdiger Heescher fordert). Neu ist nur der Name.

Du schreibst weiter, daß die Demokratie weit mehr ist, wie der
Entscheidungsfindungsprozeß. Dem stimme ich uneingeschränkt zu. Das große
Problem der Demokratie ist allerdings, wie man die größtmögliche Zahl an dem
Entscheidungsprozeß beteiligt. Bisher funktioniert das über Wahlen
(Abstimmungsverfahren mit Mehrheitsbeschluß), bei denen Repräsentanten
gefunden werden, die die Meinung des einzelnen (mehr oder weniger) vertreten
(sollen). Dadurch haben wir eine Diktatur der Mehrheit, die durch Parteien
repräsentiert wird. Von aktiver Teilhabe eines Einzelnen kann keine Rede
sein.

Auch will ich Dir bei der Vorbildfunktion der Repräsentanten zustimmen. Was
"die da oben" vorleben, wird gerne auch in der Bevölkerung "nachgelebt".
Doch Tugendhaftigkeit kann man nicht erzwingen. Vielmehr sollten wesentliche
Tugenden wieder vorgelebt werden. Dabei will ich aber nicht "Belohnung" in
den Vordergund stellen (die Diäten der Abgeordneten sind mitdessen so hoch,
daß sie sich tugendhaft benehmen, um z.B. unbestechlich zu sein).
"Belohnung" und "Bestrafung" liegen dabei sehr eng beieinander (eine
entgangene Belohnung ist eine Art Bestrafung, weshalb wir wieder bei dem
Thema "Pflicht" und "Zwang" wären). Ich verweise deshalb auf die Diskussion
über dieses Thema (oder auf den Aufsatz "verhaltenstheoretische Betrachtung
eines Grundeinkommen").

Entgegen den Liberalisten (weshalb ich auch die Wirtschaftsform des
Liberalismus ablehne) bin ich der Meinung, daß der Staat durchaus die
Wirtschaft regulieren sollte und durch Steuern, bzw. Abgaben eine
Verteilerrolle einnehmen müßte. Dies, damit auch dem schwächsten Glied in
der Gruppe ein Überleben möglich wird. Wie schon in meiner Ausführung zu
Rüdigers "Kritik" an unserer "Ideologie", behaupte ich, daß es nicht genügt,
ein Recht zu gewähren, wenn nicht die Möglichkeiten geschaffen, bzw. gegeben
werden, das Recht auch anzuwenden.

Deine Abschließende Forderung, den Menschen so sein zu lassen, wie er ist,
bringt wieder die Frage auf, wie der Mensch eigentlich ist. Die Gesellschaft
wird Menschen immer beeinflussen. Der Mensch ist nichts statisches, festes.
Der Mensch verändert sich, seine Gedanken, Vorstellungen, Ziele etc. Und
selbst der Körper (um Rüdigers Forderung einzuhalten, nicht alles aus dem
geistigen Blickwinkel zu sehen) verändert sich.

Mir scheint, Dein Ansatz ist sehr individualistisch - aber der Mensch wird
erst durch den Mitmenschen zum Menschen (keine Ahnung von dem das jetzt
stammt, aber hat ein kluger Mann schon vor mir gesagt). Der Staat ist nun
genau dafür da, dieses Zusammenleben zu organisieren - und zwar mit der
kleinstmöglichsten Einflußnahme (wie es z.B. im Liberalismus gefordert
wird). Der Staat (die Gemeinschaft) schützt dabei den einzelnen Menschen vor
der Freiheit eines anderen Menschen.

Das Grundeinkommen spielt bei der ganzen Geschichte die Rolle einer
gerechten Verteilung und der Schaffung von Möglichkeiten, die gegebenen
Menschenrechte (UN-Resolution 217 A (III) vom 10.12.1948) zu verwirklichen.

Sorry, ist (wieder) etwas länger geworden...

Viele Grüße aus Kiew,

Jörg (Drescher)



----- Original Message ----- 
From: Guido Casper
To: debatte-grundeinkommen at listen.grundeinkommen.de
Sent: Wednesday, February 21, 2007 10:11 AM
Subject: Re: [Debatte-Grundeinkommen] Funktioniert die Demokratie
inDeutschland?


Hallo Jörg,

um es kurz zu machen: Ich habe Deine Email komplett gelesen :-) und stimme
Dir in allem zu.

Stell mich ruhig in die liberale Ecke :-) Wenn man schon einem Ismus
angehören muss, dann ist mir Dieser der Liebste.

Ich möchte aber noch einen Punkt ergänzen und erläutern, warum das
Grundeinkommen für die Demokratie so wichtig ist. Die Demokratie wird oft so
reduziert, als wäre sie ein Mechanismus zur Entscheidungsfindung. Das ist
auch richtig. Sie ist aber mehr. Es gibt auch gesellschaftliche Aufgaben,
die sich nicht durch eine Entscheidung lösen lassen: Kooperations- und
Koordinationsaufgaben, z.B.:

Wie finden wir zu einem Zusammenleben, das unserer Gesellschaft entspricht?

Diese Aufgabe kann nicht entschieden und von oben aufgezwungen werden. Die
Politik tut aber oft so, als ginge das. Sie zerstört dabei Werte, bzw.
verhindert, dass Werte entstehen. Tugenden wie Fleiß, Sparsamkeit,
Ehrlichkeit, Respekt, Engagement, Mitgefühl, Charakter und Verantwortung
werden im heutigen System oft nicht mehr belohnt. Warum soll ich
Verantwortung für meine Mitmenschen übernehmen, wenn das doch der Staat
schon tut? Diese Tugenden haben ihren Sinn verloren, weil der Staat sich um
alles kümmert. Sie werden ersetzt durch das Streben so zu sein, wie der
Staat einen haben möchte. Und alles, was ich vom Staat zu erwarten habe, ist
Geld. Mehr ist nicht übrig gebleiben. Das ist es was heute zählt.

Das Pradoxon ist, dass es genau diese Werte sind, die die Gesellschaft
braucht, um sich von unten heraus zu entwickeln. Und welche Politiker sind
es dann, die diesen Werteverfall als Erstes beklagen?

Das Grundeinkommen (neben anderen Werkzeugen) ermöglicht eine soziale
Gesellschaft, die sich von unten heraus entwickeln kann und dabei jeden
Menschen so sein lässt, wie er ist.

Guido




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