[Debatte-Grundeinkommen] Antwort an Matthias Dilthey , Band 23, Eintrag 24

Joerg Drescher iovialis at gmx.de
Sa Feb 10 11:22:18 CET 2007


Hallo Florian, hallo Liste,

jetzt bin ich so frei und Duze jeden in der Liste, was nicht
Respektlosigkeit vor dem Alter darstellen soll, sondern für mich einfacher
ist und jeden "gleich" macht.

Dein Beispiel mit dem Spiegelei gefällt mir sehr gut. Ich will noch weitere
Beispiele bzgl. Wertschöpfung und Arbeit anführen, um zu zeigen, wie
schizophren wir mit diesen Begriffen umgehen:

Wenn ich meiner Tochter Unterricht gebe, ist das Freizeitbeschäftigung. Wenn
ich einen Nachhilfelehrer engagiere, ist das Arbeit und muß bezahlt werden.
Wenn meine Frau die Wohnung putzt, ist das "Freizeitbeschäftigung".
Beschäftige ich eine Putzfrau, ist das Arbeit und muß bezahlt werden. Einmal
ist eine Tätigkeit Freizeitbeschäftigung, ein anderes Mal ist es Arbeit (und
Wertschöpfung). Das Spiegelei trifft die Sache auf gleiche Weise.

Gerade bin ich mit der Hälfe eines Buchs durch, das 1968 geschrieben wurde.
Es nennt sich "Falsch programmiert" und war auf der Spiegel-Bestsellerliste.
Kurt Steinbuch prangerte damals den Bildungsstand an und machte dafür ein
"hinterweltliches Denken" verantwortlich. Die Richtigkeit der darin
enthaltenen Aussagen in Bezug auf Heute sind in unserer schnellebigen Welt
verblüffend, obwohl das Buch "alt" ist. Kurt Steinbuch war Kybernetiker und
Informationstheoretiker.

In dem Buch wird unter anderem ein Zwist zwischen den zwei großen
Wissenschaftszweigen der Geisteswissenschaft und der Naturwissenschaft
beschrieben. Mir scheint, seit jener Zeit hat die Wirtschaftswissenschaft
das Rennen gemacht (nach dem Motto: wenn zwei sich streiten, freut sich ein
Dritter). Was ist aber Wirtschaftswissenschaft?

Sie bedient sich naturwissenschaftlichen Methoden (Mathematik), die auf
geisteswissenschaftlichen Ideen beruhen (Philosophie: was ist Wert?). Die
moderne Wirtschaftswissenschaft nimmt heute allerdings mehr und mehr
physikalischen Methoden aus der statistischen Mechanik und
Vielteilchenphysik auf. Aus meinem Buch:
----------
In den vergangenen Jahren hatten Physiker Arbeitsplätze bei Investmentbanken
und Unternehmensberatern gefunden. Das lag daran, dass sich die Physik mehr
und mehr auch für wirtschaftliche und soziale Phänomene Interessierte. In
den 1990er Jahren erlebte die ökonomische und soziologische Physik weltweit
einen wahren Boom. Gegenüber den USA, Italien oder Polen war Deutschland in
diesem Bereich eher zurückhaltend. Nur in einer Stadt gab es einen
Studiengang in >Wirtschaftsphysik<.



Ökono- und Sozio-Physiker nahmen sich der Themen des Börsenhandels, der
Stauforschung und der Meinungsbildung an. Dabei kamen Methoden der
statistischen Mechanik - insbesondere der Vielteilchenphysik - sowie der
nichtlinearen Dynamik zum Einsatz. Es zeigten sich Analogien zwischen
Turbulenzen in Flüssigkeiten und >Turbulenzen< an den Finanzmärkten.
Physikalische Begriffe, wie Phasenübergang, Nichtgleichgewicht oder
Selbstorganisation tauchten seither in Wirtschafts- und Sozialstudien auf.

----------
In Ulm kann man seit dem Wintersemester 1998/99 Wirtschaftsphysik studieren
(vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Wirtschaftsphysik).

Wie ich in meinem (hier veröffentlichten) Referat über
Ernährungswissenschaft geschrieben hatte, läßt sich Wertschöpfung
physikalisch erklären. Ich gehe mit Matthias konform, daß wir von "alten"
Denkmustern wegkommen sollten, die gar nicht so alt sind, sondern nur
festgefahren. Steinbuch nannte diese Denken "Hinterwelt" und bezieht sich
dabei auf Nietzsche.

Nicht umsonst fordere ich eine "neue Volkswirtschaftslehre", die auf einer
naturwissenschaftlich begründeten Philosophie basiert. Es wird Zeit, daß
sich die Ergebnisse der Naturwissenschaft in der Geisteswissenschaft
wiederfinden. Ganz zu schweigen von den Religionen. Es geht immer um eine
Weltanschauung (also: wie sehe ich einen gewissen Sachverhalt), auf der
unser Denken beruht. Kombiniert mit einem Menschenbild (das aus der
Weltanschauung abgeleitet werden kann) können wir eine Wirtschafts- und
Staatstheorie aufbauen. Das war jedenfalls bisher meine Intension und ein
"Grundeinkommen" ist eher ein "Abfallprodukt" daraus, weil "zwingende"
Notwendigkeit.

Weder Marx, noch Keynes haben die Physik in ihren Theorien bedacht. Alles
entsprang auf alten Denkmustern, die ihren Ursprung in der Philosophie
hatten (Marx hatte Hegel zum Vorbild; Keynes hatte Smith  zum Vorbild). Das
war vor Einstein, der theoretisch vorhersagte, daß Materie gleich Energie
sei. Wo bleibt aber diese Feststellung in der Wirtschaft?

Naturwissenschaftliche Erkenntnisse sind Auslöser für Paradigmenwechsel, bei
dem alte Denkmuster durch neue abgelöst wurden. Dieser "Denkwechsel" vollzog
sich noch nicht in der Wirtschaftslehre. Steinbuch macht dafür die
"Hinterwelt" verantwortlich, die an alten Glaubensmustern festhalten. Ich
habe nichts gegen diese "Hinterweltler", wenn sie nicht gerade in
Führungspositionen sitzen würden und sich daran klammerten. Das ist
allerdings fast immer der Fall.

Jörg (Drescher)





----- Original Message ----- 
From: "Florian Hoffmann" <florian at hoffmannlaw.de>
To: <debatte-grundeinkommen at listen.grundeinkommen.de>
Cc: "Matthias Dilthey" <matthias.dilthey at psgd.info>
Sent: Saturday, February 10, 2007 9:44 AM
Subject: Re: [Debatte-Grundeinkommen] Antwort an Matthias Dilthey , Band
23,Eintrag 24



Guten Morgen Matthias,

gut dass Du in die Diskussion die Bremse reingehauen hast, aber in einem
Punkt muß ich Dich leider widerspechen. Ich darf Dich, zur leichteren
Verständlichkeit, zitieren:

"Nachdem ein BGE ausschließlich über von Automaten vorgenommener
Wertschöpfung/Produktion finanziert werden kann (darf ich den Beweis
schuldig bleiben oder soll ich ihn nachliefern?) müssen wir zwingend
zumindest für die BGE-Finanzierung physikalische Gesetzmäßigkeiten bei den
volkswirtschaftlichen Zusammenhängen berücksichtigen."

Richtig ist, dass Automaten auch für Wertschöpfung verantwortlich sein
können, aber der Zusammenhang zwischen Produktion und volkswirtschaftlicher
Wertschöpfung ist ein anderer: Wenn ich mir morgens ein Spiegelei mache,
dann produziere ich zwar, aber es ist keine Wertschöpfung, denn meine
Leistung hat keinen Preis und wird auch nicht verkauft. Anders, wenn ich ins
Hotel gehe und mir dort ein Frühstücksei machen lasse. Das muss ich
bezahlen. Der Preis ist weit höher als das, was das Ei im Laden gekostet
hat, also hat Wertschöpfung stattgefunden.

Noch anders ist es bei der vollautomatischen Produktion von Taschenrechnern:
Das Zeug wird einem für 3 Euro nachgeworfen (und der Einzelhändler hat ihn
für 1 Euro eingekauft. Da die Produktionskapazitäten beliebig erweiterbar
sind, haben die Dinger keinen ordentlichen Preis mehr. Es findet kaum noch
Wertschöpfung statt. Deshalb werden auch keine neuen Fabriken mehr dafür
gebaut. (Ich habe für meinen ersten Taschenrechner vor 35 Jahren für 900
Mark Bezahlt!)

Noch anders ist es beim Ölscheich. Die Exploration von Erdöl kostet ca 10
Euro pro Tonne. Der Weltmarktpreis liegt bei 60 Euro pro Tonne. (Oder
Barrel? egal!) Der Mehrwert ist frei von jeglicher Bearbeitung. Die
Wertschöpfung ist allein nachfragebedingt. Die Leute verdienen ein
Schweinegeld! Sie wären die optimalen Opfer für ein BGE, abgesehen davon
dass sie es schon lange eingeführt haben, die Saudis, weil sie nicht wußten
wohin mit dem vielen Geld.

Deshalb, mein lieber Matthias, sollte man auch die Physik draußen lassen!

Schöne Grüße

Florian

> Message: 4
> Date: Sat, 10 Feb 2007 06:05:46 +0100
> From: Matthias Dilthey <info at psgd.info>
> Subject: Re: [Debatte-Grundeinkommen] Das BGE und die Volkswirtschaft
> To: debatte-grundeinkommen at listen.grundeinkommen.de
> Cc: Joerg Drescher <iovialis at gmx.de>, Klaus-Dieter Birkholz
> <kdbirkholz at yahoo.de>
> Message-ID: <200702100605.47056.info at psgd.info>
> Content-Type: text/plain;  charset="iso-8859-1"
>
> Hallo Klaus, hallo Liste,
>
> die Diskussion führt uns in´s Abseits. Denn wir machen den alten
> Fehler, daß
> wir Paradigmen ungeprüft übernehmen, psychologische Befindlichkeiten
> dazugeben, umrühren und schauen, wie uns der Cocktail schmeckt.
>
> Je größer der Anteil der durch Automaten hergestellten Produkte
> wird, um so
> notwendiger wird das Einhalten physikalischer Gesetzmäßigkeiten.
> Mit einem Menschen kann man (tarif-)verhandeln, mit einem Roboter nicht.
>
> Auch einen hungrigen Menschen kann man zur Arbeit bewegen, kann ihm klar
> machen, daß er den Gürtel noch ein wenig enger schnallen muß. Die
> Hoffnung
> stirbt zuletzt!
>
> Der Roboter arbeitet oder arbeitet nicht, wenn die Bedingungen nicht
> ausreichen, wenn z.B. kein Strom vorhanden ist.
> Abstrahieren wir unsere Wirtschaft gedanklich und gehen von 100%
> Automatisation aus: Funktioniert unser System dann noch immer,
> sind unsere
> Thesen richtig.
> Stürzt das System unter der Bedingung 100% Automatisation ab,
> haben wir einen
> Systemfehler.
>
>
> Steigt der durch Automaten erzielte Anteil an der
> Volkswirtschaft, sinkt der
> tarif-verhandelbare volkswirtschaftliche Anteil. Systemfehler
> treten immer
> offener zu Tage, denn der "Ausgleichsfaktor Mensch" verliert
> volkswirtschaftlich immer weiter an Bedeutung!
>
> Nachdem ein BGE ausschließlich über von Automaten vorgenommener
> Wertschöpfung/Produktion finanziert werden kann (darf ich den
> Beweis schuldig
> bleiben oder soll ich ihn nachliefern?) müssen wir zwingend
> zumindest für die
> BGE-Finanzierung physikalische Gesetzmäßigkeiten bei den
> volkswirtschaftlichen Zusammenhängen berücksichtigen.
>
>
> Dabei helfen uns Begriffe wie Luxus, Aldi oder Restaurant nicht weiter ...
>
>
> Klären müssen wir Begriffe wie "was ist Arbeit, was ist
> Wertschöpfung, was
> ist ..."; und zwar in wirtschaftlich und physikalisch sauberer Form.
>
>
> Das BGE wird einen Automatisationsschub auslösen, der
> verhandelbare Anteil an
> Produktion/Wertschöfung wird weiter sinken.
>
>
> Matthias Dilthey
>
>
>


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