[Debatte-Grundeinkommen] [Genugfueralle] Emanzipatorisches BGE und Identität

Manfred Bartl sozial at gmail.com
Mi Apr 25 23:28:42 CEST 2007


Hallo, Jörg!

Ich mache mir das gerne so deutlich: Reiche sehen überhaupt kein
Problem darin, ihre Risiken rundum abzusichern - wer seine Beine,
Brüste, sein Gesicht versichern lässt, bekommt man ja immer wieder in
der Regenbogenpresse mit und zu ihrer "Grundsicherung" ein Zitat von
Oskar Lafontaine:

"Diejenigen, die hier gegen den Mindestlohn kämpfen, sorgen dafür,
dass bestimmte Berufsstände einen Mindestlohn bekommen: Rechtsanwälte,
Steuerberater, Architekten und andere selbständige Berufsgruppen haben
eine gesetzliche Gebührenordnung, die ihnen ein Mindesthonorar
sichert. So gesehen sind wir für ein Mindesthonorar." Mit diesen
Worten eröffnete am 8. Mai Fraktionschef Oskar Lafontaine die
öffentlichen Anhörung der Fraktion DIE LINKE. zum Mindestlohn.

Bei Armen hingegen wird eine VOLLKASKOMENTALITÄT beklagt - dabei steht
sie im Zentrum der Sozialstaatsidee: Keiner soll sich über die
gesellschaftssystembedingten Lebenskrisen Sorgen machen müssen!

Darum bin ich für das Grundeinkommn und für umfassende Vollkaskomentalität!

Mit solidarischen Grüßen
Manfred

On 4/25/07, Joerg Drescher <iovialis at gmx.de> wrote:
>
> Seit Wochen beobachte ich ein größer werdendes Interesse an der FDÄ (Front
> Deutscher Äpfel) und die Gründungen weiterer "Gaus" in ganz Deutschland. In
> einem Forumsbeitrag wurde dazu geschrieben, daß die Mitglieder aus allen
> möglichen Parteien seien - angefangen von den Grünen, der SPD, der CDU, den
> Linken bis hin zu AntiFa-Aktivisten. Was die Leute überparteilich vereint:
> sie sind gegen Rechts.
>
>
>
> Die FDÄ hat in meinen Augen ein "Feindbild" geschaffen, womit sich Massen
> mobilisieren lassen, um ein gemeinsames Ziel (gegen die "rechte Ideologie")
> zu verfolgen. Dabei basiert dieses "Feindbild" (Rechts) auf Symptomen und
> Auswirkungen der heutigen Politik. Die Ursachen sind meines Erachtens anders
> gelagert, worauf ich im folgenden eingehe.
>
>
>
> Mit Robert (Ulmer) hatte ich außerhalb der Listen eine angenehme Diskussion
> über die philosophischen Grundlagen des Existenzialismus. Es ging dabei um
> Identität und Verantwortung. Unsere Diskussion wurde dadurch ausgelöst, weil
> ich den Existenzialismus (als letzte große Philosophie aus den 60ern) für
> den übertriebenen Individualismus verantwortlich gemacht hatte.
>
>
>
> In dieser Diskussion führte Robert an, daß Satre den Menschen als für sich
> und die Welt verantwortliches Individuum auffaßte - sowohl im kleinen Kreis
> (Familie, Geliebte, Freunde, Bekannte), als auch gesellschaftlich. Sartres
> Philosophie bestreitet auch keineswegs, daß es so etwas wie sinnvolle
> gesellschaftliche Normen gibt, oder vorgegebene Sinn-Inhalte, auch
> Religionen. Er weist nur mit großem Nachdruck darauf hin, dass diese Normen
> nicht von alleine gelten, sondern dass jeder Mensch, jedes Individuum dafür
> verantwortlich ist, ob es diese Normen anerkennt oder nicht.
>
>
>
> Meine Argumentation demgegenüber war, daß ich eben diese Eigenverantwortung
> als Ursache sehe, jedwede Sinnvorgabe und Norm zu sprengen. Jeder muß sich
> seinen eigenen Sinn suchen und soll keine Vorgaben unreflektiert
> übernehmen - diese Forderung besteht schon in der Aufklärung. Dabei setze
> ich "Sinn" und Identität gleich, für die man Verantwortung übernehmen muß.
>
>
>
> Nun bietet der "Weltanschauungsmarkt" tausende Möglichkeiten, sich seinen
> Sinn (und seine Identität) zusammenzubasteln - angefangen von Religionen,
> Parteien und sonstigen Vereinigungen. Diese Identifizierung mit einer Gruppe
> ist durchaus gut, solange sie Andersdenkende nicht ausschließt und dem
> Humanismus folgt. Andernfalls führten solche "kollektiven Identitäten"
> (Gruppenidentität) immer wieder zu Kriegen und gewalttätigen
> Auseinandersetzungen. Es ist einfach schwer, sich mit der größten
> Gemeinsamkeit abzufinden, daß alles einfach nur Menschen sind.
>
>
>
> Die heutige Zeit hat ein Problem, eine solche "kollektive Identität"
> vorzugeben. Vor allem scheinen die Deutschen in einer Art "Neurose" zu
> leben, weil die nationale Identität durch die Zeit des Nationalsozialismus
> in Ungnade gefallen ist. Die "psychotische" Suche (ein anderer Begriff aus
> der Psychologie: Kompensation) nach einer neuen Identität brachte meiner
> Meinung nach die Europäische Union hervor und förderte die Globalisierung.
> Diese Sinnkompensation will ich nicht negativ bewerten, denn es entspricht
> eigentlich den Gedanken der Aufklärung und der Idee Satres.
>
>
>
> Allerdings führte die "Neuropsychose", wie ich es nenne, zur Identifizierung
> mit neuen Werten - allem voran: Arbeit. Der Kapitalismus, der alles
> irgendwie in Geld verwertbar zu machen versucht, zerstörte anderweitige
> Identifikationsvorgaben, wie Religionen und damit verbundene Moral- und
> Ethikvorgaben. Schon Hegel warnte davor und später kann man bei Nietzsche
> lesen: "Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet!". Karl
> Marx verstärkte diesen "Tod", indem er "Religion als Opium für's Volk"
> deklarierte. Doch die neuen Identifikationswerte (Kommunismus,
> (National-)Sozialismus, Solidarität ua.) wurden von ihren Führern nicht in
> der Art vorgelebt, wie sie ihn "predigten". Somit wurden auch jene Vorgaben
> fahl und leer.
>
>
>
> Im Abschiedsbrief des Amokläufers von Emsdetten, Sebastian B., kommt diese
> Sinnsuche auch zum Ausdruck, weil er nicht mit der Vorgabe "S.A.A.R.T."
> (Schule, Ausbildung, Arbeit, Rente, Tod) einverstanden war. Mir scheint, daß
> solche Identitätskrisen massenhaft in unserer Gesellschaft vorhanden sind.
> Vor allem bei jenen, die ihre Arbeit verlieren und sich nicht anderweitig
> identifizieren können. Sinn und Identität sind deshalb sehr eng miteinander
> verbunden. Man sucht sich Gruppen, wenn man keinen anderen Halt hat (der
> Mensch ist ein Gemeinschaftswesen).
>
>
>
> Um nun auf das BGE zu sprechen zu kommen, wird klar, daß vielen ihre
> Identifikation durch ihre Arbeit genommen wird. Vor allem dann, wenn sie das
> BGE als "Arbeitsersatz" verstehen. Nicht umsonst versuchen einige
> BGE-Modelle diese Identifikationsmöglichkeit über Arbeit aufrecht zu halten
> (z.B. die TG-M-Derivate).
>
>
>
> Dabei basiert das BGE auf der existenziellphilosophischen Tatsache, zur
> Freiheit verdammt zu sein. Wie Robert es ausdrückte: Das Grundeinkommen
> bewirkt mehr an individueller Freiheit (die eigene Freiheit ebenso wie die
> Freiheit der anderen), was den Leuten mehr oder weniger Angst macht - warum?
> Weil dann die "Freiheit zu der wir verurteilt sind" (Sartre) immer weniger
> gut verdrängt werden kann. Die Grundeinkommensgesellschaft als "Gesellschaft
> ohne Ausrede"; Ausreden vom Typus: "eigentlich würde ich in meinem Leben ja
> gern ..., aber mein Beruf, meine finanziellen Verpflichtungen hindern mich
> daran" solche Ausreden würden in einer Gesellschaft mit BGE nicht mehr so
> ziehen.
>
>
>
> Ein emanzipatorisches BGE meint das "Erwachsenwerden der Menschheit", mit
> dem Ziel, mehr Freiheit, Selbstbestimmung und Gleichberechtigung zu
> erlangen. Sieht man die Kritiken (wie jüngst von Carsten Schneider oder
> Norbert Blüm), wird deutlich, daß die BGE-Idee nicht richtig verstanden
> wird, weil an "alten" Identifikationsmustern (über Arbeit) festgehalten
> wird - dies wird durch BGE-Modelle verstärkt, welche eben diese
> Identifikationsmuster aufrecht halten wollen. Götz Werner spricht von
> Paradigmenwechsel, ich nannte es Dekonditionierung, und gemeint ist das
> Verständnis der existenzphilosophischen Freiheit, wie sie schon in den 60ern
> gefordert wurde. Das kommunistische Ziel einer klassenlosen Gesellschaft
> schlägt in die gleiche Kerbe; die Gedanken der Aufklärung, ja sogar die
> "schöngeistige Gegenbewegung" der Romantik (weil eben nicht alles auf
> Vernunft basiert) werden durch ein emanzipatorisches BGE gefördert.
>
>
>
> So schön sich das alles auch anhören mag, so bitter schmeckt diese Freiheit.
> Freiheit muß in meinen Augen erlernt werden und hängt eng mit der Identität
> zusammen. Identität ist sehr vielschichtig und eine Forderung nach einer
> "globalen Identität" wäre falsch. So wäre zum Beispiel eine Gleichschaltung
> der Kulturen deshalb abzulehnen, weil die Individualität der Kulturen
> verloren ginge. Vielmehr meine ich, daß jede Kultur zu respektieren ist.
> Kultur als Identität würde bedeuten, daß alle Kulturen allen Menschen
> gehören.
>
>
>
> Ein emanzipatorisches BGE nimmt keinen direkten Einfluß auf die Traditionen
> einer Gesellschaft (=Kultur), vielmehr ermöglicht es das Ausleben dieser
> Traditionen, da die Existenzangst der Gesellschaftsmitglieder in den
> Hintergrund rückt. Die Abgrenzung der einzelnen Kulturen (und damit der
> Identität) nimmt damit einen anderen Charakter an, weil in der jeweils
> anderen Kultur kein Gegner gesehen wird, der die Existenz (das Überleben)
> der eigenen Kultur gefährdet.
>
>
>
> Ein emanzipatorisches BGE macht Menschen auf einer existenziellen (der
> biologischen) Ebene gleich, nicht aber die individuellen Eigenschaften und
> Fähigkeiten. Besondere Leistungen können immer noch durch Geldleistungen
> belohnt werden - was im Kommunismus nicht möglich und gewünscht war. Das BGE
> soll in der Gemeinschaft die Selbstverwirklichung fördern und unterstützen,
> um die individuelle Identität zu finden - frei von äußeren, kollektiven
> Identitäten. Diese werden damit nicht abgeschafft, sondern bleiben weiterhin
> vorhanden - es wird immer Gemeinsamkeiten bei Eigenschaften und Fähigkeiten
> einzelner Individuen geben. Aber der "Zwang", sich über diese Gruppen zu
> identifizieren, soll an Bedeutung verlieren. Damit ist gemeint: Ich bin
> vorrangig Mensch (ich selbst) und in zweiter Linie Arzt, Musiker, Ingenieur
> oder sonst etwas.
>
>
>
> Der Jovialismus versteht sich deshalb als "BGE-Philosophie", bei der die
> Gemeinschaft den Einzelnen im Individualisierungsprozeß unterstützt, damit
> der Einzelne seine eigene Identität findet, um sich selbst zu verwirklichen.
> Der Einzelne leistet gegenüber der Gemeinschaft den Beitrag, seine
> Eigenschaften und Fähigkeiten für deren Fortbestand einzusetzen. Frei nach
> dem Prinzip: "Alle für einen, einer für alle".
>
>
>
> Diese Philosophie bietet keine Identität und will dies auch nicht. Der
> Projekt-Charakter (deshalb "Projekt Jovialismus") soll eben diesen
> Individualisierungsprozeß fördern - und dabei vorhandenes Wissen
> (Philosophien) nutzen, um den Ansprüchen der Aufklärung, bzw. des
> Existenzialismus gerecht zu werden. Es geht um die Schaffung von
> Möglichkeiten, seine Identität zu finden und nicht um die Vorgabe eines
> konkreten Ziels oder einer Identität. Trotzdem ist der Jovialismus eine
> Philosophie, aus der sich diese Methoden begründen.
>
>
>
> Im emanzipatorischen BGE spiegeln sich die Gedanken des Jovialismus wider:
> Es will kein Geld (BGE) geben, damit Menschen Arbeiten (Subventionierung von
> Arbeit, bei der Vorgabe, daß Arbeit Identität sei), sondern damit die
> Menschen die Freiheit haben, sich ihre Arbeit nach ihren Eigenschaften und
> Fähigkeiten auszusuchen (Identitätsfindung gekoppelt mit Arbeit - nach Karl
> Marx: "jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen!").
>
>
>
> Das emanzipatorische BGE ist ein Weg aus der Identitätskrise, hin zu
> Selbstbestimmung und Eigenverantwortung.
>
>
>
> Kiew, 25. Apr. 2007
>
>
>
> Jörg Drescher
>
>
>
>
>
> Lesenswerte Links in diesem Zusammenhang:
>
> http://de.wikipedia.org/wiki/Identit%C3%A4t und weiterführende Verweise
>
> http://de.wikipedia.org/wiki/Emanzipation
>
> http://de.wikipedia.org/wiki/Existenzialismus
>
> http://de.wikipedia.org/wiki/Nietzsche#.E2.80.9EGott_ist_tot.E2.80.9C
>
> http://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Marx#Religion_und_Religionskritik
>
>
>
> Allgemein zum grundlegenden Philosophieverständnis:
>
> Sofies Welt, Jostein Gaarder, ISBN: 978-3423620000
>
> -----
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