[Debatte-Grundeinkommen] Emanzipatorisches BGE und Identität

Joerg Drescher iovialis at gmx.de
Mi Apr 25 16:11:11 CEST 2007


Seit Wochen beobachte ich ein größer werdendes Interesse an der FDÄ (Front
Deutscher Äpfel) und die Gründungen weiterer "Gaus" in ganz Deutschland. In
einem Forumsbeitrag wurde dazu geschrieben, daß die Mitglieder aus allen
möglichen Parteien seien - angefangen von den Grünen, der SPD, der CDU, den
Linken bis hin zu AntiFa-Aktivisten. Was die Leute überparteilich vereint:
sie sind gegen Rechts.



Die FDÄ hat in meinen Augen ein "Feindbild" geschaffen, womit sich Massen
mobilisieren lassen, um ein gemeinsames Ziel (gegen die "rechte Ideologie")
zu verfolgen. Dabei basiert dieses "Feindbild" (Rechts) auf Symptomen und
Auswirkungen der heutigen Politik. Die Ursachen sind meines Erachtens anders
gelagert, worauf ich im folgenden eingehe.



Mit Robert (Ulmer) hatte ich außerhalb der Listen eine angenehme Diskussion
über die philosophischen Grundlagen des Existenzialismus. Es ging dabei um
Identität und Verantwortung. Unsere Diskussion wurde dadurch ausgelöst, weil
ich den Existenzialismus (als letzte große Philosophie aus den 60ern) für
den übertriebenen Individualismus verantwortlich gemacht hatte.



In dieser Diskussion führte Robert an, daß Satre den Menschen als für sich
und die Welt verantwortliches Individuum auffaßte - sowohl im kleinen Kreis
(Familie, Geliebte, Freunde, Bekannte), als auch gesellschaftlich. Sartres
Philosophie bestreitet auch keineswegs, daß es so etwas wie sinnvolle
gesellschaftliche Normen gibt, oder vorgegebene Sinn-Inhalte, auch
Religionen. Er weist nur mit großem Nachdruck darauf hin, dass diese Normen
nicht von alleine gelten, sondern dass jeder Mensch, jedes Individuum dafür
verantwortlich ist, ob es diese Normen anerkennt oder nicht.



Meine Argumentation demgegenüber war, daß ich eben diese Eigenverantwortung
als Ursache sehe, jedwede Sinnvorgabe und Norm zu sprengen. Jeder muß sich
seinen eigenen Sinn suchen und soll keine Vorgaben unreflektiert
übernehmen - diese Forderung besteht schon in der Aufklärung. Dabei setze
ich "Sinn" und Identität gleich, für die man Verantwortung übernehmen muß.



Nun bietet der "Weltanschauungsmarkt" tausende Möglichkeiten, sich seinen
Sinn (und seine Identität) zusammenzubasteln - angefangen von Religionen,
Parteien und sonstigen Vereinigungen. Diese Identifizierung mit einer Gruppe
ist durchaus gut, solange sie Andersdenkende nicht ausschließt und dem
Humanismus folgt. Andernfalls führten solche "kollektiven Identitäten"
(Gruppenidentität) immer wieder zu Kriegen und gewalttätigen
Auseinandersetzungen. Es ist einfach schwer, sich mit der größten
Gemeinsamkeit abzufinden, daß alles einfach nur Menschen sind.



Die heutige Zeit hat ein Problem, eine solche "kollektive Identität"
vorzugeben. Vor allem scheinen die Deutschen in einer Art "Neurose" zu
leben, weil die nationale Identität durch die Zeit des Nationalsozialismus
in Ungnade gefallen ist. Die "psychotische" Suche (ein anderer Begriff aus
der Psychologie: Kompensation) nach einer neuen Identität brachte meiner
Meinung nach die Europäische Union hervor und förderte die Globalisierung.
Diese Sinnkompensation will ich nicht negativ bewerten, denn es entspricht
eigentlich den Gedanken der Aufklärung und der Idee Satres.



Allerdings führte die "Neuropsychose", wie ich es nenne, zur Identifizierung
mit neuen Werten - allem voran: Arbeit. Der Kapitalismus, der alles
irgendwie in Geld verwertbar zu machen versucht, zerstörte anderweitige
Identifikationsvorgaben, wie Religionen und damit verbundene Moral- und
Ethikvorgaben. Schon Hegel warnte davor und später kann man bei Nietzsche
lesen: "Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet!". Karl
Marx verstärkte diesen "Tod", indem er "Religion als Opium für's Volk"
deklarierte. Doch die neuen Identifikationswerte (Kommunismus,
(National-)Sozialismus, Solidarität ua.) wurden von ihren Führern nicht in
der Art vorgelebt, wie sie ihn "predigten". Somit wurden auch jene Vorgaben
fahl und leer.



Im Abschiedsbrief des Amokläufers von Emsdetten, Sebastian B., kommt diese
Sinnsuche auch zum Ausdruck, weil er nicht mit der Vorgabe "S.A.A.R.T."
(Schule, Ausbildung, Arbeit, Rente, Tod) einverstanden war. Mir scheint, daß
solche Identitätskrisen massenhaft in unserer Gesellschaft vorhanden sind.
Vor allem bei jenen, die ihre Arbeit verlieren und sich nicht anderweitig
identifizieren können. Sinn und Identität sind deshalb sehr eng miteinander
verbunden. Man sucht sich Gruppen, wenn man keinen anderen Halt hat (der
Mensch ist ein Gemeinschaftswesen).



Um nun auf das BGE zu sprechen zu kommen, wird klar, daß vielen ihre
Identifikation durch ihre Arbeit genommen wird. Vor allem dann, wenn sie das
BGE als "Arbeitsersatz" verstehen. Nicht umsonst versuchen einige
BGE-Modelle diese Identifikationsmöglichkeit über Arbeit aufrecht zu halten
(z.B. die TG-M-Derivate).



Dabei basiert das BGE auf der existenziellphilosophischen Tatsache, zur
Freiheit verdammt zu sein. Wie Robert es ausdrückte: Das Grundeinkommen
bewirkt mehr an individueller Freiheit (die eigene Freiheit ebenso wie die
Freiheit der anderen), was den Leuten mehr oder weniger Angst macht - warum?
Weil dann die "Freiheit zu der wir verurteilt sind" (Sartre) immer weniger
gut verdrängt werden kann. Die Grundeinkommensgesellschaft als "Gesellschaft
ohne Ausrede"; Ausreden vom Typus: "eigentlich würde ich in meinem Leben ja
gern ..., aber mein Beruf, meine finanziellen Verpflichtungen hindern mich
daran" solche Ausreden würden in einer Gesellschaft mit BGE nicht mehr so
ziehen.



Ein emanzipatorisches BGE meint das "Erwachsenwerden der Menschheit", mit
dem Ziel, mehr Freiheit, Selbstbestimmung und Gleichberechtigung zu
erlangen. Sieht man die Kritiken (wie jüngst von Carsten Schneider oder
Norbert Blüm), wird deutlich, daß die BGE-Idee nicht richtig verstanden
wird, weil an "alten" Identifikationsmustern (über Arbeit) festgehalten
wird - dies wird durch BGE-Modelle verstärkt, welche eben diese
Identifikationsmuster aufrecht halten wollen. Götz Werner spricht von
Paradigmenwechsel, ich nannte es Dekonditionierung, und gemeint ist das
Verständnis der existenzphilosophischen Freiheit, wie sie schon in den 60ern
gefordert wurde. Das kommunistische Ziel einer klassenlosen Gesellschaft
schlägt in die gleiche Kerbe; die Gedanken der Aufklärung, ja sogar die
"schöngeistige Gegenbewegung" der Romantik (weil eben nicht alles auf
Vernunft basiert) werden durch ein emanzipatorisches BGE gefördert.



So schön sich das alles auch anhören mag, so bitter schmeckt diese Freiheit.
Freiheit muß in meinen Augen erlernt werden und hängt eng mit der Identität
zusammen. Identität ist sehr vielschichtig und eine Forderung nach einer
"globalen Identität" wäre falsch. So wäre zum Beispiel eine Gleichschaltung
der Kulturen deshalb abzulehnen, weil die Individualität der Kulturen
verloren ginge. Vielmehr meine ich, daß jede Kultur zu respektieren ist.
Kultur als Identität würde bedeuten, daß alle Kulturen allen Menschen
gehören.



Ein emanzipatorisches BGE nimmt keinen direkten Einfluß auf die Traditionen
einer Gesellschaft (=Kultur), vielmehr ermöglicht es das Ausleben dieser
Traditionen, da die Existenzangst der Gesellschaftsmitglieder in den
Hintergrund rückt. Die Abgrenzung der einzelnen Kulturen (und damit der
Identität) nimmt damit einen anderen Charakter an, weil in der jeweils
anderen Kultur kein Gegner gesehen wird, der die Existenz (das Überleben)
der eigenen Kultur gefährdet.



Ein emanzipatorisches BGE macht Menschen auf einer existenziellen (der
biologischen) Ebene gleich, nicht aber die individuellen Eigenschaften und
Fähigkeiten. Besondere Leistungen können immer noch durch Geldleistungen
belohnt werden - was im Kommunismus nicht möglich und gewünscht war. Das BGE
soll in der Gemeinschaft die Selbstverwirklichung fördern und unterstützen,
um die individuelle Identität zu finden - frei von äußeren, kollektiven
Identitäten. Diese werden damit nicht abgeschafft, sondern bleiben weiterhin
vorhanden - es wird immer Gemeinsamkeiten bei Eigenschaften und Fähigkeiten
einzelner Individuen geben. Aber der "Zwang", sich über diese Gruppen zu
identifizieren, soll an Bedeutung verlieren. Damit ist gemeint: Ich bin
vorrangig Mensch (ich selbst) und in zweiter Linie Arzt, Musiker, Ingenieur
oder sonst etwas.



Der Jovialismus versteht sich deshalb als "BGE-Philosophie", bei der die
Gemeinschaft den Einzelnen im Individualisierungsprozeß unterstützt, damit
der Einzelne seine eigene Identität findet, um sich selbst zu verwirklichen.
Der Einzelne leistet gegenüber der Gemeinschaft den Beitrag, seine
Eigenschaften und Fähigkeiten für deren Fortbestand einzusetzen. Frei nach
dem Prinzip: "Alle für einen, einer für alle".



Diese Philosophie bietet keine Identität und will dies auch nicht. Der
Projekt-Charakter (deshalb "Projekt Jovialismus") soll eben diesen
Individualisierungsprozeß fördern - und dabei vorhandenes Wissen
(Philosophien) nutzen, um den Ansprüchen der Aufklärung, bzw. des
Existenzialismus gerecht zu werden. Es geht um die Schaffung von
Möglichkeiten, seine Identität zu finden und nicht um die Vorgabe eines
konkreten Ziels oder einer Identität. Trotzdem ist der Jovialismus eine
Philosophie, aus der sich diese Methoden begründen.



Im emanzipatorischen BGE spiegeln sich die Gedanken des Jovialismus wider:
Es will kein Geld (BGE) geben, damit Menschen Arbeiten (Subventionierung von
Arbeit, bei der Vorgabe, daß Arbeit Identität sei), sondern damit die
Menschen die Freiheit haben, sich ihre Arbeit nach ihren Eigenschaften und
Fähigkeiten auszusuchen (Identitätsfindung gekoppelt mit Arbeit - nach Karl
Marx: "jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen!").



Das emanzipatorische BGE ist ein Weg aus der Identitätskrise, hin zu
Selbstbestimmung und Eigenverantwortung.



Kiew, 25. Apr. 2007



Jörg Drescher





Lesenswerte Links in diesem Zusammenhang:

http://de.wikipedia.org/wiki/Identit%C3%A4t und weiterführende Verweise

http://de.wikipedia.org/wiki/Emanzipation

http://de.wikipedia.org/wiki/Existenzialismus

http://de.wikipedia.org/wiki/Nietzsche#.E2.80.9EGott_ist_tot.E2.80.9C

http://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Marx#Religion_und_Religionskritik



Allgemein zum grundlegenden Philosophieverständnis:

Sofies Welt, Jostein Gaarder, ISBN: 978-3423620000




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