[Debatte-Grundeinkommen] Sprache und Grundeinkommen

Joerg Drescher iovialis at gmx.de
Fr Apr 6 22:43:32 CEST 2007


Hallo Guido (und der Rest der Liste),

derzeit habe ich sehr viel Arbeit und in der Ukraine geht's (mal wieder)
drunter und drüber. Was die Medien in Deutschland darüber berichten,
erschreckt mich, weil es eine Verdrehung der Tatsachen ist. Man sieht die
Situation hier aus den Augen der Politik, ohne dabei auf Land und Leute zu
achten. Noch schlimmer: der Blick ist durch die Brille Russlands verfälscht.

Bei allem, was Du aufgeführt hast, kann ich Dir zustimmen. Leider sehe ich
in Deutschland wenig Chancen für das Grundeinkommen, weil dort der
"Individualismus" so groß geschrieben wird. Ich mache dafür die
Existenzial-Philosophie aus den 60ern (von Satre und Camus) verantwortlich,
obwohl diese Philosophen diese Entwicklung vielleicht gar nicht so gewollt
hatten. Die Abwesenheit eines "allgemeinen Sinns" führte zu der
"individuellen Sinnsuche". Der Markt für Weltanschauungen ist in den
westlichen Industrieländern riesig und man will sich nicht festlegen,
sondern pickt sich das (vermeintlich) Beste (individuell) heraus und baut
sich seine eigene Anschauung zusammen. Daran wäre nichts zu bemängeln, wenn
damit nicht die Gemeinschaft (der Fortbestand der Menschheit als Ganzes)
gefährdet wäre.

Die Ukraine ist in der Hinsicht anders. Das reicht weit in die Geschichte
zurück (z.B. war die Ukraine einmal eine Anarchie). Die Bevölkerung wurde
durch verschiedene Systeme unterdrückt (z.B. Sowjetunion), wobei sich die
Leute hier stark für die Politik interessiert (stärker als in Deutschland),
aber eigentlich ihre Ruhe haben wollen, um das zu machen, für das sie sich
berufen fühlen: zu leben (und zu arbeiten). Hier ist dieser Individualismus
nicht so weit verbreitet, weil die Leute aufeinander angewiesen sind. Es
gibt einen kausalen Zusammenhang zwischen "Reichtum" und "Solidarität": je
mehr Geld einer Person oder Personengruppe zur Verfügung steht, desto
weniger interessiert sie sich für das Leid anderer - das Gewissen wird
maximal anonym über Spenden beruhigt, nicht aber durch direkte Hilfe (bei
der man sich die Hände schmutzig machen könnte).

An der Entwicklung der "deutschen Musik" läßt sich auch sehen, wie es um das
Land bestellt ist: gab es in den 70ern noch Musikgruppen, wie "Ton, Steine,
Scherben", in den 80ern dann Punkbands (z.B. Slime, Toxoplasma, Daily Terror
etc.), in den 90ern dann die "Neue Deutsche Welle" (Nena ua.) und heute
"Tokio Hotel". Ein wahres Drama!

Ich wollte, es wäre einfacher, aber dann frage ich mich oft, was denn
eigentlich passieren muß, damit sich etwas ändert. Die alte
"Feindbild-Geschichte" schweißt zwar Menschen zusammen, aber die Krise, in
der der Westen steckt, ist die Abwesenheit eines solchen Feindbilds, nachdem
die UdSSR zusammengebrochen ist. Die USA versuchten es mit dem
"internationalen Terrorismus" (ein Phantom) und machten die arabischen
Länder verantwortlich (Personifizierung des Phantoms). Allerdings klappt das
auch nicht mehr so richtig, weil die "sinnsuchende Bevölkerung" nicht mehr
so einfach auf die "Feinbild-Geschichte" hereinfällt. Deshalb wünsche ich
mir manchmal eine "Ufo-Invasion" ;-)

Das biblische Babylon haben wir heute wieder mehr, als je zuvor, denn selbst
die Leute, die eine gemeinsame Sprache sprechen, verstehen einander nicht
mehr. Man war zu ehrgeizig damit beschäftigt, den Turm der Erkenntnis zu
bauen, um Gott näher zu sein - und nun können wir in dem Turm herumklettern
und aus den vielen Fenstern sehen, um die Welt zu betrachten. Aber wir
können uns nicht mehr darüber verständigen, was wir denn sehen. Geschichte
wiederholt sich permanent...

Vielleicht ist die Ukraine aufgeschlossener für die Ideen eines
Grundeinkommens? Wenn ich mehr Luft habe, werde ich den Versuch starten,
hier die Idee unters Volk zu bringen - frei nach dem Motto: "Wird der
Prophet nicht im eigenen Land gehört, sucht er sich ein anderes." - Dabei
bin ich kein Guru oder Prophet (vgl. "Das Leben des Brian") ;-)

Viele Grüße soweit aus Kiew,

Jörg (Drescher)
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2. Grundeinkommenstag am 12.05.07
http://grundeinkommenstag.org


----- Original Message ----- 
From: "Guido Casper" <nurleute at googlemail.com>
To: <debatte-grundeinkommen at listen.grundeinkommen.de>
Sent: Thursday, April 05, 2007 8:54 PM
Subject: Re: [Debatte-Grundeinkommen] Sprache und Grundeinkommen


Hallo Jörg,

ich finde das eine wichtige Feststellung. Die Sprache "macht" unsere
Gedanken.

Friedrich Nietzsche schrieb: "Der wirkliche Machtinhaber der Zukunft
wird der sein, der neue Sprachregelungen durchsetzen kann."

Auch die Politiker wissen, welch mächtiges Werkzeug die Sprache sein
kann. Daher haben sie die Begriffsverdrehung zu ihrer Spezialität
gemacht. Sie haben dazu sogar ihre eigene Sprache erfunden. Es ist die
[Baader-Zitat] "Nagel-mich-nicht-fest-Sprache der zerebralen
Darmverschlingung, mit der sich viel, ununterbrochen und zu allem
reden lässt, ohne dass man sich festlegen müsste oder Gefahr laufen
würde, irgendwelchen Wählergruppen zu vergraulen". Es ist eine
Sprache, die ihre Wörter sinnentleert.

Wer hätte z.B. gedacht, dass mit "Kopfpauschale" und
"Gesundheitsprämie" dasselbe Prinzip beschrieben wird. Oder was ist
mit "sozialer Gerechtigkeit"? Was bitte soll das sein? Ein sinnloserer
Begriff ist mir noch nicht begegnet.

Wenn Herr Rüttgers fordert, dass ein Mensch, der jahrzehntelang in die
Sozialkassen einbezahlt hat, dann auch länger ALG bezieht, als ein
20-jähriger und nicht vom Sozialsystem mit ihm auf eine Stufe gestellt
wird - ist das gerecht?? Na klar ist das gerecht!! Aber ist das auch
sozial? Nein. Sozial ist es, den Schwächsten zu helfen - denen, die
sich nicht selbst helfen können.

                            --- oOo ---

Konfuzius sagte: "Wenn die Wörter ihre Bedeutung verlieren, verlieren
die Völker ihre Freiheit."

Genau das passiert. Die Politiker sprechen [Baader-Zitat] "eine
Sprache, die gescheit klingt und dennoch inhaltsleer ist; eine Sprache
auch, die banale Aussagen auf Stelzen stellt und sie damit wie
bedeutende Gedanken daherstolzieren lässt." Übrig bleiben Worthülsen,
die Wahrheit und Lüge ununterscheidbar machen. Durch eine permanente
Taktik des Verschleierns und Verkomplizierens nehmen wir kaum noch
wahr, wie unsere Freiheit im täglichen Leben immer weiter
eingeschränkt wird.

George Orwell nannte das "Neusprech."

Ein gewisser Herr Rockwell schrieb: "Orwell musste die Idee des
Neusprech nicht erfinden, er musste nur dem einen Namen geben, was
Regierungen schon immer gemacht haben, ... nämlich die Realität mit
doppelzüngigen Begriffen zu verschleiern, zu verdrehen und zu
verfälschen."

Ich bevorzuge eine einfache, klare Sprache. Wenn wir neue Begriffe
brauchen, dann nur weil die Existierenden verhunzt worden sind.

                            --- oOo ---

Mir ist es dabei völlig schnurz, ob ich die Parteien oder die
politischen Führer überzeugen kann. Meine Version des Grundeinkommens
(ich hatte schon daran gedacht, sie "Casper-Modell" zu nennen, aber
dann könnten die Leute sich verarscht vorkommen :-) funktioniert nur,
wenn die politische Kaste entmachtet wird.

Das Parteiensystem in der jetzigen Form - ja das ganze System der
Machtverteilung - ist ein Auslaufmodell. Junge Leute engagieren sich
immer weniger in Parteien. Sie suchen sich ihre Wege "um die
bestehenden Systeme herum". Es wird nicht lange dauern, und sie nehmen
es nicht mehr hin, dass ihnen die politische Kaste nicht nur im Wege
steht, sondern ihnen gar Schaden zufügt. Dieser Schaden entsteht nicht
nur durch eine Vielzahl von Fehlentscheidungen, sondern - und das
wiegt viel schwerer - durch die systematische (wenn auch bestenfalls
unbeabsichtigte) Zerstörung der demokratischen Kultur.

Die politischen Führer werden das Grundeinkommen niemals aufgrund der
besser vorgetragenen Argumente (oder gar der besseren Argumente)
beschließen. Der einzige Weg, dass Grundeinkommen durchzusetzen, ist,
die Menschen auf der Strasse davon zu überzeugen. Eigentlich ist daran
auch gar nichts auszusetzen, denn so sollte es sein. Aber ich will das
auf eine ehrliche Art und Weise tun, in einer einfachen und klaren
Sprache, die von den Menschen auf der Strasse verstanden wird. So kann
die einfache Sprache ein ebenso mächtiges Werkzeug sein, wie der
politische Neusprech.

Guido




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