[Debatte-Grundeinkommen] Sprache und Grundeinkommen

Guido Casper nurleute at googlemail.com
Di Apr 10 15:25:25 CEST 2007


Hallo Jörg,

On 4/6/07, Joerg Drescher <iovialis at gmx.de> wrote:
> Leider sehe ich
> in Deutschland wenig Chancen für das Grundeinkommen, weil dort der
> "Individualismus" so groß geschrieben wird.

Hmm... Also ich bin für ein Grundeinkommen. Und ich schreibe den
Individualismus groß. Ich sehe da keinen Konflikt. Im Gegenteil: ich
bin für das Grundeinkommen, WEIL ich Individualismus groß schreibe.
Das Grundeinkommen ist das einzige Sozialsystem, dass die Leute leben
lässt, wie sie es für richtig halten und ihnen nicht permanent alles
vorschreibt (vor allem, wenn das Grundeinkommen mit einer drastischen
Vereinfachung des Steuerrechts einhergeht).

Ich betrachte die Individualisierung als einen der größten
Fortschritte unserer Gesellschaft. Sie wurde möglich durch den
technischen Fortschritt und unseren Wohlstand. Es ist ein Segen, dass
sich niemand mehr mit anderen zusammen tut, nur weil er auf sie
angewiesen ist. Der Gedanke, das führe zwangsläufig zum sozialen
Verfall der Gesellschaft, ist einer der fatalsten Irrtümer unserer
Tage. Besonders gängig und "beliebt" ist dieser Irrtum bei
Vereinigungen, die mit schwindenden Mitgliederzahlen konfontiert sind.
Tatsächlich ist die individualisierte Gesellschaft eine Gesellschaft
voller Toleranz und Menschlichkeit. Und wenn man genau hinschaut, dann
sieht man, dass sich die Menschen nach wie vor zusammentun (oder es
zumindest möchten). Sie tun es aber freiwillig und "zielgenauer".

Die Individualisierung ist eine große Veränderung. Bei jeder
Veränderung entsteht Neues und Altes geht kaputt. Dass Altes kaputt
geht, ist also völlig normaler Bestandteil eines jeden
Veränderungsprozesses. Wie sollte Veränderung sonst möglich sein? Wie
sollte Verbesserung möglich sein? Aber um die positiven Kräfte dieser
Veränderung zu sehen, darf man seinen Blick nicht nur auf das richten,
was verloren geht. Wer die Individualisierung als Bedrohung oder gar
Verfall betrachtet, hat nicht verstanden, in welch fundamentalen
Veränderungsprozess sich unsere Gesellschaft befindet. Es ist eine
Veränderung zum Besseren.

Es ist schwer zu beschreiben, was ich meine. Das Internet ist ein
wesentlicher Bestandteil dieser Veränderungen. Diese Veränderungen
machen es überhaupt erst möglich, dass jeder sich mit dem Besten
einbringt, was er hat. Aber zwingen kann ich niemanden. Das Internet
läutet eine neue Ära der Zusammenarbeit ein.

Stell Dir ein Bienenvolk vor, dass immer erst im Konsens entscheidet,
welcher Weg zum besten Blumenfeld als nächstes evaluiert werden soll.
Dann wird dieser Weg von allen Bienen gemeinsam gegangen. So würden
sie wohl nie das beste Blumenfeld finden. Echte Bienenvölker finden es
immer.

Schlimmer noch - die Politik (in unserem Sprachgebrauch auch ein
Synonym für Taktierereien und versteckte Absichten; das Verfolgen
persönlicher Interessen unter dem Vorwand des Allgemein- oder
Gruppenwohls) verhindert, dass Fehler zugegeben werden und fördert
eine Kultur der Intransparenz und Fehlinformationen.

In der Summe ist ein Bienenvolk unglaublich intelligent. Diese
Intelligenz ist aber nur möglich, weil jede einzelne Biene autark
agiert und ihre Entscheidungen freiwillig trifft. Würde sich das
Bienenvolk in einen Konsenz zwängen, wäre es maximal so intelligent,
wie die intelligenteste Biene (die im Vergleich zur kollektiven
Intelligenz des Bienenvolkes unsagbar primitiv und dumm ist).

> Die Abwesenheit eines "allgemeinen Sinns" führte zu der
> "individuellen Sinnsuche".

Die Suche nach dem individuellen Sinn ist genau das, wofür jeder von
uns mehr Zeit haben sollte. Das würde uns zu einer besseren und
stärkeren Gesellschaft machen. Die individuelle Sinnsuche kann nur als
Bedrohung empfunden werden, wenn man seine eigene Anschauung
durchsetzen und anderen aufzwingen will. Aber jeder einzelne von uns
kann etwas Bedeutendes beitragen. Statt dessen sind wir gefangen in
einem Alltagstrott, der durch einen abstumpfenden Existenzkampf
dominiert ist. In diesem Existenzkampf werden so viele Werte geopfert
und zerstört.

> Der Markt für Weltanschauungen ist in den
> westlichen Industrieländern riesig und man will sich nicht festlegen,
> sondern pickt sich das (vermeintlich) Beste (individuell) heraus und baut
> sich seine eigene Anschauung zusammen. Daran wäre nichts zu bemängeln, wenn
> damit nicht die Gemeinschaft (der Fortbestand der Menschheit als Ganzes)
> gefährdet wäre.

Individualismus hat aber nichts mit einer Anschauung zu tun. Oder
anders ausgedrückt, der Individualist lässt jeden so sein, wie er will
und versucht niemandem, seine Anschauung aufzuzwingen. So wird es
möglich, dass jeder sich mit dem Besten einbringen kann, das er hat.
Und jeder hat die Chance, nach seinen Möglichkeiten dazuzulernen. Es
ist die Viefalt der Ansichten und Perspektiven, die uns alle in der
Summe intelligenter macht. Kombiniert mit einer Kultur
uneingeschränkter Offenheit werden wir uns auch weiterhin verbessern,
weil  wir immer neue Ansichten und Perspektiven erhalten.

Von außen betrachtet mag das chaotisch wirken. Aber genau das ist die
Art, wie man das beste Blumenfeld findet. Mehr noch - so hält sich
jeder auf dem Blumenfeld auf, das er selbst für das Beste hält. Das
ist überhaupt erst die Voraussetzung dafür, herauszufinden, was das
beste Blumenfeld ist. Und auch die Voraussetzung, um weiterhin
dazuzulernen. Dagegen ist das Ausschließen neuer Perspektiven der
Beginn der totalen Verdummung.

                        --- oOo ---

Die Vorstellung, dass wir als Volk von wenigen Machtinhabern geführt
werden müssen und dass eine gesellschaftliche Ordnung nur auf eine
zentrale Art und Weise hergestellt werden kann, ist tief in uns
verankert. Sie stammt aus Zeiten, als Einzelne vielleicht wirklich
intelligenter waren, als die Masse. Aber diese Dummheit der Masse (der
Mob) resultierte aus einer Ungebildetheit und Uninformiertheit des
normalen Bürgers.

Heute sind wir besser informiert als je zuvor, auch wenn die
politische Kaste uns durch Verkomplizierung und Intransparenz gerne
weiterhin im Dunklen lässt. Aber diese systematische Intransparenz
(auch der großen Konzerne) aufrechtzuerhalten wird immer schwieriger.
Heute kann sich jeder mit einem Internetanschluss über beliebige
Themen per Knopfdruck auf eine nahezu unbegrenzte Weise informieren.
Er kann mit jedem anderen in Verbindung treten und auf eine
unglaublich vielfältige Weise zusammenarbeiten. Nie war das Individuum
so stark wie heute. Und es wird stärker. Das bedeutet, dass die großen
Konzerne an Bedeutung verlieren (wenn sie von der Politik nicht
weiterhin auf unfaire Weise bevorzugt werden; die Allianz zwischen
Politik, Konzernen, Banken und Justiz ist so stark wie
undurchschaubar). Und der Aufwand für die Aufrechterhaltung dieser
Intransparenz wird immer größer.

In einer Welt in der Routinetätigkeiten jeder Art immer mehr
automatisiert und/oder outgesourct werden, gewinnen kreative
Tätigkeiten immer mehr an Bedeutung. Leidenschaft und Kreativität sind
die Wirtschaftsressourcen der Zukunft und die haben in einem großen
Konzern kein Zuhause (dort werden Politiker geboren). Wir befinden uns
an einem Wendepunkt der demokratischen Entwicklung.

Als Gutenberg im 15. Jahrhundert den Buchdruck erfand, ahnte niemand,
wie sehr das die Demokratie von heute beeinflussen würde. Heute kann
nahezu jeder erwachsene Mensch lesen und schreiben. So ist eine
Demokratie wie die unsere überhaupt erst möglich geworden.

Es ist leicht, sich auszumalen, wie das Internet einmal einen
ähnlichen Einfluss auf unsere demokratische Kultur ausüben wird. Aber
wofür der Buchdruck Jahrhunderte brauchte, dafür braucht das Internet
nur wenige Jahre. Vor etwa 15 Jahren entstand das denzentral
organisierte Internet. Alle Versuche, etwas ähnliches mit zentraler
Organisation aufzubauen (BTX, Compuserve, Prodigy, AOL, MSN, etc.),
scheiterten. Wer jedoch die letzten 15 Jahre als Maßstab für die
nächsten 15 Jahre betrachtet, macht einen Fehler. Wir erleben derzeit
eine Explosion der Kreativität und Zusammenarbeit, die ohne Beispiel
ist. Natürlich sind diese Veränderungen ungleich verteilt, allein
schon wegen ihrer Geschwindigkeit. Aber die Politik tut ihren Teil
dabei, die Verteilung dieser Veränderungen zu behindern. Es entwickeln
sich quasi Parallelwelten.

Wer die neue Form der Zusammenarbeit und des Demokratieverständnisses
sehen will, der muss beobachten, wie junge Menschen mit dem Internet
umgehen. Dabei entwickeln sie eine Kultur der bedingungslosen
Transparenz, die zum ersten Mal auch  technisch machbar ist. Diese
Transparenz setzt so ganz nebenbei auch neue moralische Standards.
Moralische Standards haben sich von je her aus den Notwendigkeiten des
täglichen Lebens gebildet. Das Internet macht Dinge sichtbar und
vergisst sie nie. Das wird unsere Vorstellungen von Ethik verändern.

Gleichzeitig werden wir von Menschen regiert,die, wie der
Bundeswirtschaftsminister Michael Glos (Zitat), "[ihre] Leute [haben],
die für [sie] das Internet bedienen."
http://blog.handelsblatt.de/indiskretion/eintrag.php?id=1167

Daher wird es wohl eine Generation dauern, bis sich diese
Veränderungen auf breiter Front durchsetzen. Aber die Zukunft ist
rosig für uns alle. Das ist meine feste Überzeugung.

Guido



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