[Debatte-Grundeinkommen] Sprache und Grundeinkommen

Guido Casper nurleute at googlemail.com
Do Apr 5 19:54:39 CEST 2007


Hallo Jörg,

ich finde das eine wichtige Feststellung. Die Sprache "macht" unsere Gedanken.

Friedrich Nietzsche schrieb: "Der wirkliche Machtinhaber der Zukunft
wird der sein, der neue Sprachregelungen durchsetzen kann."

Auch die Politiker wissen, welch mächtiges Werkzeug die Sprache sein
kann. Daher haben sie die Begriffsverdrehung zu ihrer Spezialität
gemacht. Sie haben dazu sogar ihre eigene Sprache erfunden. Es ist die
[Baader-Zitat] "Nagel-mich-nicht-fest-Sprache der zerebralen
Darmverschlingung, mit der sich viel, ununterbrochen und zu allem
reden lässt, ohne dass man sich festlegen müsste oder Gefahr laufen
würde, irgendwelchen Wählergruppen zu vergraulen". Es ist eine
Sprache, die ihre Wörter sinnentleert.

Wer hätte z.B. gedacht, dass mit "Kopfpauschale" und
"Gesundheitsprämie" dasselbe Prinzip beschrieben wird. Oder was ist
mit "sozialer Gerechtigkeit"? Was bitte soll das sein? Ein sinnloserer
Begriff ist mir noch nicht begegnet.

Wenn Herr Rüttgers fordert, dass ein Mensch, der jahrzehntelang in die
Sozialkassen einbezahlt hat, dann auch länger ALG bezieht, als ein
20-jähriger und nicht vom Sozialsystem mit ihm auf eine Stufe gestellt
wird - ist das gerecht?? Na klar ist das gerecht!! Aber ist das auch
sozial? Nein. Sozial ist es, den Schwächsten zu helfen - denen, die
sich nicht selbst helfen können.

                            --- oOo ---

Konfuzius sagte: "Wenn die Wörter ihre Bedeutung verlieren, verlieren
die Völker ihre Freiheit."

Genau das passiert. Die Politiker sprechen [Baader-Zitat] "eine
Sprache, die gescheit klingt und dennoch inhaltsleer ist; eine Sprache
auch, die banale Aussagen auf Stelzen stellt und sie damit wie
bedeutende Gedanken daherstolzieren lässt." Übrig bleiben Worthülsen,
die Wahrheit und Lüge ununterscheidbar machen. Durch eine permanente
Taktik des Verschleierns und Verkomplizierens nehmen wir kaum noch
wahr, wie unsere Freiheit im täglichen Leben immer weiter
eingeschränkt wird.

George Orwell nannte das "Neusprech."

Ein gewisser Herr Rockwell schrieb: "Orwell musste die Idee des
Neusprech nicht erfinden, er musste nur dem einen Namen geben, was
Regierungen schon immer gemacht haben, ... nämlich die Realität mit
doppelzüngigen Begriffen zu verschleiern, zu verdrehen und zu
verfälschen."

Ich bevorzuge eine einfache, klare Sprache. Wenn wir neue Begriffe
brauchen, dann nur weil die Existierenden verhunzt worden sind.

                            --- oOo ---

Mir ist es dabei völlig schnurz, ob ich die Parteien oder die
politischen Führer überzeugen kann. Meine Version des Grundeinkommens
(ich hatte schon daran gedacht, sie "Casper-Modell" zu nennen, aber
dann könnten die Leute sich verarscht vorkommen :-) funktioniert nur,
wenn die politische Kaste entmachtet wird.

Das Parteiensystem in der jetzigen Form - ja das ganze System der
Machtverteilung - ist ein Auslaufmodell. Junge Leute engagieren sich
immer weniger in Parteien. Sie suchen sich ihre Wege "um die
bestehenden Systeme herum". Es wird nicht lange dauern, und sie nehmen
es nicht mehr hin, dass ihnen die politische Kaste nicht nur im Wege
steht, sondern ihnen gar Schaden zufügt. Dieser Schaden entsteht nicht
nur durch eine Vielzahl von Fehlentscheidungen, sondern - und das
wiegt viel schwerer - durch die systematische (wenn auch bestenfalls
unbeabsichtigte) Zerstörung der demokratischen Kultur.

Die politischen Führer werden das Grundeinkommen niemals aufgrund der
besser vorgetragenen Argumente (oder gar der besseren Argumente)
beschließen. Der einzige Weg, dass Grundeinkommen durchzusetzen, ist,
die Menschen auf der Strasse davon zu überzeugen. Eigentlich ist daran
auch gar nichts auszusetzen, denn so sollte es sein. Aber ich will das
auf eine ehrliche Art und Weise tun, in einer einfachen und klaren
Sprache, die von den Menschen auf der Strasse verstanden wird. So kann
die einfache Sprache ein ebenso mächtiges Werkzeug sein, wie der
politische Neusprech.

Guido


On 3/24/07, Joerg Drescher <iovialis at gmx.de> wrote:
> Hallo zusammen,
>
> wie einige wissen, lebe ich in Kiew und arbeite hier als Übersetzer und
> Sprachlehrer. Dabei fällt mir immer wieder auf, daß die russische Sprache
> etwas anders funktioniert, als die deutsche, englische oder französische.
> Ich denke oft, daß deshalb der Kommunismus in den slawischsprachigen Ländern
> eher Fuß fassen konnte.
>
> Im russischen (und anderen slawischen Sprachen) sagt man nicht "Ich habe"
> (im Sinne von "Ich besitze"), sondern hier heißt es (wörtlich übersetzt):
> "bei mir gibt es". Es existieren noch mehr Beispiele, die "weicher"
> ausdrücken, wem etwas gehört, wer etwas tun muß oder was man braucht.
>
> Kann es nun sein, daß unsere Sprache ein wichtiger Hemmschuh bei der
> Einführung eines Grundeinkommens ist? Es wäre eine Überlegung wert, wie weit
> die Sprache auf unsere Vorstellungen und unser Denken Einfluß haben - mir
> fällt es nur deshalb auf, weil ich täglich damit umgehen muß. Was meint ihr?
>
> Viele Grüße aus Kiew,
>
> Jörg (Drescher)
> ---------------------------------------
> 2. Grundeinkommenstag am 12.05.07
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