[Debatte-Grundeinkommen] Zehn Thesen / Beitrag Tobias Crefeld

Florian Hoffmann florian.hoffmann at intereasy.de
Mi Aug 30 10:37:42 CEST 2006


Hallo Tobias,

eine Erwiderung in aller Kürze:

1. Existenzsicherung gehört nicht zu den Kriterien eines BGE.

2. Die Frage "Wie soll denn ...?" Muß jeder für sich beantworten. Zur Frage
des Überlebens empfehle in Schirrmachers neues Buch "Minimum".

3. Erschreckend finde ich Deine Ablehnung einer Sozial-Dividende für
"strukturell unterentwickelte Länder". Du schreibst wörtlich: "Hier muß man
vielleicht mal ganz klar sagen, dass eine Nation sich ein BGE leisten können
muß."

Aha, wir sind die Reichen, die sich den Bauch vollschlagen dürfen. Für die
Armen haben wir kein Rezept. Oder wie? Wo bleibt denn Dein soziales
Gewissen? (Bewußte Irreführung kann man Dir bestimmt nicht vorwerfen!)

Gilt "sozial" nur für uns? Wie wär's denn mit einem sozialen Ausgleich
(Länderausgleich)? Ist doch nichts ungewöhnliches, innerhalb Deutschlands
seit Jahrzehnten (Jahrhunderten?) praktiziert!

4. Überleg' Dir mal, wie leicht wir in fremden Ländern millionenfach
Existenzsicherung betreiben könnten - mit ein bisschen BGE!


Gruss
Florian Hoffmann


> Message: 2
> Date: Tue, 29 Aug 2006 13:33:16 +0200
> From: Tobias Crefeld <tc-wasg at onlinehome.de>
> Subject: Re: [Debatte-Grundeinkommen] Debatte-grundeinkommen / Zehn
> 	Thesen
> To: debatte-grundeinkommen at listen.grundeinkommen.de
> Message-ID: <20060829133316.119257f8 at tux3d.tangocharly>
> Content-Type: text/plain; charset=UTF-8
>
> On Tue, 29 Aug 2006 09:17:14 +0200 "Florian Hoffmann"
> <florian.hoffmann at intereasy.de> wrote:
>
> > Liebe Listis,
>
> Nein danke, lieber nicht.
>
> > Im uebrigen gehoert "existenzsichernd" bei B.I.E.N nicht zu den
> > Kriterien!
> >
> > Die drei Kriterien bei BIEN sind:
> > *      it is being paid to individuals rather than households;
> > *      it is paid irrespective of any income from other sources;
> > *      it is paid without requiring the performance of any work or the
> > willingness to accept a job if offered.
>
> Das ist dann wohl ein Mangel. Es wäre mal zu überprüfen, ob das als so
> selbstverständlich angenommen wurde, dass es nur deshalb dort fehlt.
> Außerhalb Deutschlands kommt das gelegentlich vor... ;)
>
>
> > Ich habe dazu zehn Thesen entwickelt, deren Plausibilität vielleicht
> > sogar schon beim ersten Durchlesen gegeben ist:
>
> Zum Thema Kindergeld: Es ist nicht existenzsichernd für das Kind,
> ergo müssen die Eltern zuschießen. Woher, wenn kein anderes Einkommen
> existiert? Aus der Sozialhilfe. IIRC leben derzeit 10% der Kinder auf
> diesem Niveau, also überproportional viele.
>
> Die Logik mit den 'kindergeldabzockenden' Ausländern verstehe ich
> nicht. Was hat das Lohnniveau in deren Heimatland mit dem
> Finanzbedarf in Deutschland zu tun?
>
> Von ein paar Pendlern abgesehen, hat ein Ausländer in Deutschland
> mindestens denselben Finanzbedarf wie ein Deutscher. Eigentlich sogar
> mehr, wenn man bedenkt, dass zur Kontaktpflege in die Heimat sowie für
> zusätzliche bürokratische und sonstige integrativ bedingte Aufwendungen
> (Pass, Aufenthaltserlaubnis, Visa, Anerkennung von Zertifikaten,
> Sprachschule) zusätzliche Mittel nötig sind. Ich kenne einige Leute,
> die im Ausland leben und arbeiten und dort definitiv höhere Ausgaben
> als ihre einheimischen Nachbarn und Kollegen haben.
>
>
> Eine Frage, die diese Thesen völlig ausklammern, ist die Frage nach der
> Existenzsicherung. Wenn eine Person vom BGE nicht leben kann, woher
> soll sie dann ihren Unterhalt bestreiten? Diese Frage bleibt offen.
>
> Einen Rückfall ins Mittelalter mit Bettlern auf der Straße, illegalen
> Arbeitsverhältnissen, usw. kann wohl kaum unser Ziel sein. Also braucht
> es doch wieder eine Form von Sozialhilfe, ALG-2, etc.. Ergo sind wir
> wieder soweit wie heute, dass genau die Bürokratien zur Zuteilung
> dieser Zusatzgelder benötigt werden, wie wir sie mit dem BGE eigentlich
> vermeiden wollen. Hört sich ziemlich sinnlos an.
>
>
> Thema Kopplung an "gesamtwirtschaftlichen Leistung, bzw. nach den
> Steuereinnahmen".
>  Diese Vermengung geht offenbar davon aus, dass das Steueraufkommen
> einzig und allein von der Wirtschaftsleistung (eines Lands?) abhängt.
> Das ist natürlich aus mindestens zwei Gründen nicht richtig:
>
> Erstens, weil der Staat festlegt, wer wieviel Steuer zu zahlen
> hat und damit mittelbar auf das Steueraufkommen Einfluss nimmt.
>
> Zweitens, weil die Wirtschaftsleistung sich vielleicht an den
> Ergebnissen der Unternehmen festmachen lässt, aber ganz gewiss keine
> zwangsläufige Verknüpfung mit den Gehältern und damit wiederum
> auf das Einkommenssteueraufkommen besitzt. Man benötigt also Steuern,
> die tatsächlich an die Wirtschaftsleistung gebunden sind - kenne ich
> nicht. Selbst unter Zuhilfenahme von Dingen wie Tobin- oder
> Maschinensteuer wird sicher nicht alles an Wirtschaftsleistung
> abgedeckt.
>
> Anders formuliert: Um die politische Entscheidung, wo eine solide
> Existenzsicherung anfängt, werden wir nie herum kommen. Das ist nun mal
> Politik. Da gibt es keine Garantien. Möglicherweise wird man sogar am
> Anfang unterschiedliche Höhen des BGE haben, um das Gefälle der
> Lebenshaltungskosten von Süd nach Nord (und von West nach Ost) zu
> kompensieren. Langfristig kann man sich natürlich überlegen, dass es
> auch eine Form von angewandter Strukturförderung ist, wenn man das
> Wohnen in billigen Gegenden durch gleiches BGE belohnt. Aber das sind
> Detailfragen.
>
>
> Ein nur am Rande (These 9) angesprochenes Thema ist die weltweite
> Umsetzbarkeit. Das mag unter dem Aspekt fehlenden Existenzsicherung
> richtig sein, führt aber in die Irre, weil es in entsprechend
> strukturell unterentwickelten Ländern eine "Sozial-Dividende" wenig
> über Null ergäbe, also de facto sinnlos ist.
>
> Hier muss man vielleicht mal ganz klar sagen, dass eine Nation sich ein
> BGE leisten können muss. Ein Kriterium dafür scheint mir die
> weitgehende Sättigung des Binnenmarkts, geringes Bedürfnis nach
> nationaler Arbeitszeitverkürzung mit Lohnausgleich sowie ein
> Exportüberschuss zu sein, ich bin aber kein Wirtschaftsexperte. Für die
> meisten (alten) EWG-Länder könnte das gelten, aber bereits bei
> Schwellenländern des ehemaligen Ostblocks habe ich meine Zweifel. Bei
> Ländern mit einem 'Importüberschuss' dürfte ein BGE zu mehr
> wirtschaftlicher Abhängigkeit der Nation vom Ausland führen. In den
> ganz armen Regionen haben wir ja mit Lebensmittelhilfen, etc. de facto
> eine Art nicht-existenzsicherndes BGE und das führt nach allem was wir
> heute wissen, hauptsächlich zu einer Schädigung des eigenen Markts,
> also z.B. der Produktion von Nahrungsmitteln und Textilien, der
> mitunter nur an einem nationalen Verteilproblem leidet.
>
>
> > Ich meine, mit der Berücksichtigung dieser Thesen würde das BGE
> > verständlicher und politisch leichter durchsetzbar - in Parteien aller
> > Coleur.
>
> Mag sein, aber letztlich ändert es strukturell nichts.
>
> Das erinnert ein wenig an die Diskussion um den Mindestlohn. Dort wird
> auch argumentiert, dass man erstmal den Mindestlohn auf niedrigen Niveau
> durchsetzen muss, um ihn dann später anzuheben. Das führt nun zu
> Vorschlägen, die den Mindestlohn auf einem Niveau anzusiedeln, die
> selbst bei Vollzeitstellen zu einer Unterschreitung der Grenze für nicht
> pfändbares Einkommen und teilweise sogar zur Unterschreitung des
> ALG-2-Niveaus führen. Das alles nur, um nicht die Öffentlichkeit mit
> scheinbar zu hohen Beträgen zu schockieren.
>
> Ich halte sowas für den Versuch einer bewussten Irreführung und das hat
> noch nie funktioniert. "Das Volk" ist intelligenter als jeder einzelne
> von uns, auch wenn einige gerne ihre mittelalterlichen Vorstellung des
> 'tumben Plebs' pflegen, besonders wenn sie selbst über umfangreiche
> akademische Bildung verfügen.
>
>
> Gruß,
>  Tobias.
>





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