[Debatte-Grundeinkommen] Frage zur Abwesenheit eines Arbeitszwangs

Reimund Acker reimund.acker at t-online.de
So Dez 18 02:48:14 CET 2005


Ralf Westphal schrieb:
> [...]
> Allerdings: Wenn die Häufigkeit des Begriffs über eine gewisse Grenze
> steigt, wittere ich auch immer etwas Befreiungszwang oder, hm,
> Sorglosigkeit

"Befreiungszwang" gefällt mir ;-)

> Mein persönliches Verständnis der menschlichen Natur lässt mich jedoch die
> Stirn runzeln, ob damit denn schon "das Ziel" erreicht wäre. [...]

Das Ziel wird nie erreicht (vielleicht weil es sich bewegt). So bleibt es
interessant.

> Nach meiner
> Erfahrung können nämlich a) viele Menschen mit Abwesenheit von
> Zwängen (oder
> anders: vorgegebenen Strukturen) nicht umgehen und brauch b) die meisten
> Menschen recht konkrete "Rückkopplungsschleifen", um Errungenschaften
> dauerhaft zu schätzen.

Das scheint nach einem therapeutischen Ansatz für die künftigen
Zwangsbefreiten.
Zwangstherapie?

> zu a) Wenn Menschen befreit sind von der Notwendigkeit, für ihr Überleben
> (auch auf einem gehobenen Niveau) zu sorgen, sind sie auch
> befreit von einem
> guten Teil an Sinn, den ihnen das bisherigen System durch die
> Arbeitsnotwendigkeit gegeben hat. Dieser Sinn hat sich ergeben aus dem
> Erfolg ihrer Arbeit, aus erarbeiteten Geld und aus ihrer sozialen
> Eingebundenheit während der Arbeit.
> Wenn Menschen nun nicht mehr arbeiten müssen, dann fehlen zunächst einmal
> diese sinngebenden Komponenten. Damit umzugehen, will gelernt sein. Das
> können - so meine These - nur sehr wenige.

Um den Umgang mit Freiheit und Selbstverantwortung zu lernen, muß man sie
ersteinmal
haben. Die Sinnfrage wird durch die Erwerbsarbeit typischerweise wohl eher
verdrängt
als beantwortet. Auch wenn Arbeit einem Zweck dient, ist sie dadurch nicht
automatisch
sinnvoll.

> Nun gut, mag man sagen, dann sollen diese Menschen doch einfach weiter
> arbeiten und nicht mit ihrem (B)GE zufrieden sein.
> Das jedoch funktioniert in einer Welt mit (B)GE nicht, denn sie ist ja
> gerade eine Reaktion darauf, dass es eben nicht mehr genügend Arbeit gibt.
> D.h. die arbeitswilligen Menschen finden nicht einfach genügend
> Angebote, um
> sich darüber wieder einen Sinn zu verschaffen.
> Durch die Arbeitszwangbefreiung sind sie verurteilt zur Freiheit (bzw. zum
> neuen Zwang), sich selbst einen Sinn zu geben.
> Ich bezweifle, dass das einfach so funktioniert.

(Nur) der Mensch ist ein sinnstiftendes Wesen, und er kann Sinn nur für sein
eigenes
leben definieren. Niemand kann und muß "sich selbst" einen Sinn geben, aber
jeder
kann sich überlegen, welches Leben ihm sinnvoll erscheint. Von der Sinnfrage
zu
unterscheiden ist das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung. Ich vermute, das
läßt sich
mit BGE einfacher befriedigen als ohne.

> In einer Gesellschaft, in der Menschen noch nicht einmal sicher die
> Grundregeln der Höflichkeit oder effektiver Kommunikation oder
> Kindererziehung lernen (dafür allerdings das Autofahren), in einer solchen
> Gesellschaft gibt es keine breite Grundlage für den Umgang mit soviel
> Freiheit.

Ich sehe nicht, wieso ein unhöflicher Mensch, ein ineffektiver Quassler,
eine unfähige
Erzieherin oder eine brilliante Autofahrerin nicht in der Lage sein sollte,
mit "soviel
Freiheit" umzugehen.

> zu b) Wie schon in einem anderen Posting an die Mailinglist beschrieben
> glaube ich, dass Errungenschaften oder erlangte Bequemlichkeiten einer
> gewissen "Rückkopplung" bedürfen, um erhalten zu bleiben. Es muss ein
> Bewusstsein existieren, dass sie Errungenschaften sind - sonst
> ist der Keim
> für ihren Verfall gelegt, da man sich nicht mehr um ihren Erhalt
> bemüht. Wer
> vergisst, was die Abwesenheit einer Errungenschaft bedeutet, der wird
> sorglos und setzt sie aufs Spiel. Denn jede Errungenschaft, aus der
> unreflektierte Selbstverständlichkeit wird, wird unsichtbar. Was aber
> unsichtbar ist, dafür wird nichts aktiv getan.
> [...]
> Nun zum Schluss: Für mich ergibt sich aus a) und b), dass ein (B)GE nur
> funktionieren kann, wenn:
> 1) Bildung (in alln ihren Facetten) die oberste Priorität in der
> Gesellschaft bekommt
> 2) Der Bezug von (B)GE eine gewisse bewusste "Gegenleistung" erfordert

Die wesentliche Errungenschaft eines BGE bestünde gerade darin, daß sie
nicht
an eine Gegenleistung gebunden ist. Die Errungenschaft eines BGE durch
Rückkopplung
in Form von Gegenleistung erhalten zu wollen, hieße daher, sie NICHT zu
erhalten.
(US-Offizier in Vietnam: "Um das Dorf zu retten, mußten wir es zerstören")

Reimund Acker




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