[Debatte-Grundeinkommen] Frage zur Abwesenheit eines Arbeitszwangs

Ralf Westphal ralfw at ralfw.de
Do Dez 1 10:03:13 CET 2005


Hallo, Herr Schumacher!

> >Des
> >Bürgers oberste Pflicht ist der Konsum. 
> >
> Nein, so etwas möchten sich Alpträumer wünschen, nur die 
> können so etwas 
> verstehen, aber davon war und ist nirgends die Rede.

Dann bin ich ja beruhigt ;-)


> 
> >Statt Arbeitszwang also Konsumzwang?
> >  
> >
> Nein. Es geht um Freiheit satt Vollbeschäftigung - es geht um soziale 
> Freiheit. 

Der Begriff Freiheit taucht in der Diskussion um (B)GE ja immer wieder auf.
Das finde ich auch gut und verständlich.
Natürlich wollen wir alle frei sein und allen anderen Menschen Freiheit
gönnen und verschaffen.
Allerdings: Wenn die Häufigkeit des Begriffs über eine gewisse Grenze
steigt, wittere ich auch immer etwas Befreiungszwang oder, hm, Sorglosigkeit
(um nicht Naivität zu sagen).

Denn: Freiheit bedeutet nicht nur Freiheit von etwas, sondern auch Freiheit
zu etwas. Meist ist aber nur ersteres im Blick, ohne letzteres zu bedenken.

In puncto "Freiheit vom Zwang zur täglichen Broterwerbsarbeit, um das
Überleben zu sichern" stimme ich mit der Idee vom (B)GE überein. Die
Abwesenheit von Angst, ich könnte durch "Arbeitslosigkeit" verhungern oder
aus der sozialen Gemeinschaft fallen, wäre eine ungeheure zivilisatorische
Errungenschaft.

Mein persönliches Verständnis der menschlichen Natur lässt mich jedoch die
Stirn runzeln, ob damit denn schon "das Ziel" erreicht wäre. Nach meiner
Erfahrung können nämlich a) viele Menschen mit Abwesenheit von Zwängen (oder
anders: vorgegebenen Strukturen) nicht umgehen und brauch b) die meisten
Menschen recht konkrete "Rückkopplungsschleifen", um Errungenschaften
dauerhaft zu schätzen.

Was hat das mit dem (B)GE zu tun?

zu a) Wenn Menschen befreit sind von der Notwendigkeit, für ihr Überleben
(auch auf einem gehobenen Niveau) zu sorgen, sind sie auch befreit von einem
guten Teil an Sinn, den ihnen das bisherigen System durch die
Arbeitsnotwendigkeit gegeben hat. Dieser Sinn hat sich ergeben aus dem
Erfolg ihrer Arbeit, aus erarbeiteten Geld und aus ihrer sozialen
Eingebundenheit während der Arbeit.
Wenn Menschen nun nicht mehr arbeiten müssen, dann fehlen zunächst einmal
diese sinngebenden Komponenten. Damit umzugehen, will gelernt sein. Das
können - so meine These - nur sehr wenige.
Nun gut, mag man sagen, dann sollen diese Menschen doch einfach weiter
arbeiten und nicht mit ihrem (B)GE zufrieden sein.
Das jedoch funktioniert in einer Welt mit (B)GE nicht, denn sie ist ja
gerade eine Reaktion darauf, dass es eben nicht mehr genügend Arbeit gibt.
D.h. die arbeitswilligen Menschen finden nicht einfach genügend Angebote, um
sich darüber wieder einen Sinn zu verschaffen.
Durch die Arbeitszwangbefreiung sind sie verurteilt zur Freiheit (bzw. zum
neuen Zwang), sich selbst einen Sinn zu geben.
Ich bezweifle, dass das einfach so funktioniert.
In einer Gesellschaft, in der Menschen noch nicht einmal sicher die
Grundregeln der Höflichkeit oder effektiver Kommunikation oder
Kindererziehung lernen (dafür allerdings das Autofahren), in einer solchen
Gesellschaft gibt es keine breite Grundlage für den Umgang mit soviel
Freiheit.

zu b) Wie schon in einem anderen Posting an die Mailinglist beschrieben
glaube ich, dass Errungenschaften oder erlangte Bequemlichkeiten einer
gewissen "Rückkopplung" bedürfen, um erhalten zu bleiben. Es muss ein
Bewusstsein existieren, dass sie Errungenschaften sind - sonst ist der Keim
für ihren Verfall gelegt, da man sich nicht mehr um ihren Erhalt bemüht. Wer
vergisst, was die Abwesenheit einer Errungenschaft bedeutet, der wird
sorglos und setzt sie aufs Spiel. Denn jede Errungenschaft, aus der
unreflektierte Selbstverständlichkeit wird, wird unsichtbar. Was aber
unsichtbar ist, dafür wird nichts aktiv getan.

Beispiel Gesundheit: Die meisten in unserer Gesellschaft sind so gesund,
dass sie diesen Zustand als gegeben annehmen und nichts aktiv (!) für seine
Erhaltung tun. Gesunde Ernährung oder regelmäßige sportliche Tätigkeit oder
Verzicht auf´s Rauchen im Sinne einer Prävention sind entgegen aller dazu
verfügbaren Literatur immer Verhaltensweisen von Minderheiten bzw. oft
ineffektiv angesichts von Lebensumständen, die an sich schon ungesund sind
(z.B. 8 Std sitzende Tätigkeit im Büro).

Beispiel Demokratie: Die Freiheiten einer demokratischen Gesellschaft sind
so alltäglich und unsichtbar geworden, dass die Wahlbeteiligung bei 60-70%
liegt. Dass meine Stimme einen Wert hat, dass es wichtig ist, dass ich meine
Meinung bei einer Wahl sage, ist nicht im Bewusstsein von 30-40% der
Bevölkerung. Sie haben kein Gefühl mehr dafür, welche Errungenschaft diese
Freiheiten und Rechte darstellen (z.B. Wahlrecht für Frauen). Wo aber die
Wahlbeteiligung sinkt, werden die Entscheidungen von immer weniger Menschen
gefällt. D.h. die gewählten Repräsentanten repräsentieren immer weniger
Menschen. Das aber ist das schiere Gegenteil der ursprünglichen Absicht,
jedem Menschen eine Stimme zu geben. Die Demokratie torpediert also mit
ihrer Freiheit, zu wählen oder eben auch nicht zu wählen, die Erreichung
ihres ursprünglichen Ziels.

Die Fehlannahme der Väter der Demokratie: Alle Menschen schätzen Freiheit
und Demokratie einfach so aus sich heraus und sorgen damit für ihren Erhalt.
Das aber ist wohl leider eine Fehlwarnehmung der menschlichen Natur.
Menschen sind nicht einfach so "dankbar" und wertschätzend. Menschen
brauchen eine gefühlte "Unsicherheit" bzw. ein gewisses Gefühl dafür, wie es
ohne eine Errungenschaft wäre, um sie zu schätzen.


Nun zum Schluss: Für mich ergibt sich aus a) und b), dass ein (B)GE nur
funktionieren kann, wenn:
1) Bildung (in alln ihren Facetten) die oberste Priorität in der
Gesellschaft bekommt
2) Der Bezug von (B)GE eine gewisse bewusste "Gegenleistung" erfordert




...
> Gibt es sie aber doch, brauchen wir die daraus resultierenden 
> Einsichten 
> für eine Theorie der Ökonomie. Und eine solche Theorie der 
> Ökonomie hat 

Ich denke, wir brauchen nicht nur eine neue Theorie der Ökonomie, sondern
auch Einsicht in die conditio humana, um die Implikationen eines so
radikalen Wandels zu verstehen.



> es dann hinsichtlich des Unterschieds von Angebot und Nachfrage mit 
> einem doppelten Unterschied zu tun: Erstens: kein Angebot auf 
> der einen 
> Seite ohne Nachfrage auf der anderen Seite (und andersherum); und 
> zweitens: jedes Angebot liefert zugleich den Grund für einen 
> Nachfrage 
> auf der gleichen Seite (und andersherum). Nur die 
> Gleichzeitigkeit von 
> Angebot und Nachrfrage macht Ökonomie möglich, aber beides muss 
> hergestellt, muss produziert werden können, beides muss zur 
> Welt kommen, 

Das ist wahr. Und natürlich braucht es dafür Freiheit statt Fünfjahresplan.


Beste Grüße

Ralf Westphal




Mehr Informationen über die Mailingliste Debatte-Grundeinkommen