[Debatte-Grundeinkommen] Presse: taz, 27.4.05
Wolfgang Strengmann
strengmann at wiwi.uni-frankfurt.de
Mi Apr 27 10:21:11 CEST 2005
http://www.taz.de/pt/2005/04/27/a0166.nf/text.ges,1
"Wir müssen Abschied vom Wachstum nehmen"
Der Ökonom Hans Diefenbacher kann sich gut die "Halbtagsgesellschaft" vorstellen -
bei einem Grundeinkommen für alle
taz: Herr Diefenbacher, die Forschungsinstitute haben erneut ihre Prognosen für das
deutsche Wirtschaftswachstum gesenkt. Haben wir die Grenzen des Wachstums
erreicht?
Hans Diefenbacher: Nun, sie sind zumindest in Sicht. Die Wirtschaft der
Bundesrepublik ist zwischen 1950 und 1972 um das Siebenfache und seit 1972 noch
einmal um das Doppelte gewachsen. Deshalb wird es immer schwerer, hohe
Wachstumsraten zu erreichen.
Aber brauchen wir die nicht, um neue Arbeitsplätze zu schaffen?
Das ist die magische Verheißung der Politik. Doch wir werden von dem Modell
Abschied nehmen müssen, das sich nur an Wachstumsziffern herkömmlicher Art
orientiert. Es gibt andere Kriterien des Erfolges.
Welche?
Eine Wirtschaft kann langfristig nur existieren, wenn sie sich an zwei Kriterien orientiert:
Nachhaltigkeit und schonender Umgang mit Ressourcen. Diese Vorgaben würden in
einigen Wirtschaftsbereichen für Wachstum sorgen, in anderen hingegen für
Schrumpfung. Ob netto dann ein Plus beim Bruttoinlandsprodukt steht, ist zweitrangig.
Aber wohl kaum für die fünf Millionen Arbeitslosen, oder?
Die Arbeitslosigkeit ist ohne Frage ein großes Problem. Aber es gibt auch dafür
Lösungsvorschläge: zum Beispiel, dass wir alle nur noch halbtags arbeiten würden -
ohne Lohnausgleich. Dann wäre Arbeitslosigkeit kein Problem mehr.
… aber dann würde das Einkommen zum Problem werden.
Die "Halbtagsgesellschaft" ist ein Modell von vielen, sicher kein Patentrezept. Aber die
Frage muss erlaubt sein, ob denn das monatliche Budget nur aus Erwerbseinkommen
zu bestehen hat. Was ist mit anderen Formen des wirtschaftlichen Austausches, etwa
Nachbarschaftshilfe und Ehrenamt? Solche grundlegenden Fragen müssen wir uns
stellen.
Derartige Modelle würden sich aber umgehend auf das Sozialsystem auswirken.
Schließlich basiert etwa die Rentenversicherung auf einer möglichst hohen Zahl von
Arbeitnehmern, die Beiträge zahlen.
Unser Bruttonationaleinkommen ist - in Zahlen ausgedrückt - höher als je zuvor. Wir
müssten also einen Verteilungsspielraum haben, der ein Grundeinkommen für alle
ermöglicht, auch wenn man davon nicht üppig leben kann.
Wer soll das bezahlen? Der Staat ist ja schon verschuldet.
Die Steuereinnahmen in der jetzigen Höhe würden ausreichen. Gängige Berechnungen
gehen davon aus, dass man dafür etwa ein Drittel des Bruttosozialproduktes benötigt.
Ich gebe aber zu, so ein Vorschlag ist derzeit nicht durchsetzbar. Wichtig ist aber, dass
wir beginnen, unsere Wirtschaft auch an anderen Kriterien zu messen als an der
Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts.
Es gibt Volkswirtschaften, die wachsen - in Asien, auch in Europa. Sind das nicht
Gegenbelege für Ihre These?
Wenn wir nicht von dem theoretischen Modell ausgehen, dass wir einen zweiten oder
dritten Planeten für Rohstoffe und Abfallentsorgung haben, können Wachstumsraten
von fünf bis fünfzehn Prozent nur eine Übergangsphase sein. Was da in China oder
Osteuropa passiert, kann man als nachholendes Wachstum bezeichnen. Dort orientiert
man sich jetzt am westlichen Konsummodell. Aber als alte Industrienation sollten wir
beginnen, die Grenzen des Wachstums zu sehen und diesen Gedanken in die
Diskussion zu bringen. Das wird umso mühevoller, je länger wir sie hinauszögern - und
zugleich umso dringender.
INTERVIEW: STEPHAN KOSCH
taz Nr. 7650 vom 27.4.2005, Seite 3, 116 Interview STEPHAN KOSCH
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