[Trennmuster] Assimilierte Präfixe

Guenter Milde milde at users.sf.net
Mo Mai 25 11:16:48 CEST 2020


On  6.05.20, Keno Wehr wrote:
> Liebe Trennfreude!

> Da das Problem des Umgangs mit assimilierten Präfixen (im weitesten Sinne)
> immer wieder virulent wird (zuletzt bei Akronym, homonym und Aphel), habe
> ich im Verzeichnis dokumente/ eine neue Datei veröffentlicht, die versucht,
> alle relevanten Fälle vollständig zusammenzustellen. Darin wird auch auf
> verbleibende Unstimmigkeiten hingewiesen.

> Ich lade ein zu kritischer Sichtung und Diskussion.

Nach langem Studium und Formulieren und Korrigieren eindeutiger Fälle kann
ich nun eine ausführlichere Antwort zu der umfassenden Sammlung
assimilierter Präfixe geben.

Gruß und Dank

Günter


Die Inkonsistenzen der Präfixauszeichnung in der "Wortliste" haben zwei
wesentliche Ursachen:

a) das generelle Problem, die Grenze zwischen einfacher¹ und morphologischer²
   Trennung zu bestimmen, und

b) die Entstehungsgeschichte der Wortliste.

¹ Trennung nach "Sprechsilben" (RfDR §§109…112).
² Trennung zusammengesetzer Wörter nach Bestandteilen (RfDR §108)


Entwicklung und Umsetzung der Kennzeichnung von Trennstellen in der Wortliste
-----------------------------------------------------------------------------

Sowohl widerstreitende Konzepte als auch eine noch nicht vollständige
Umsetzung tragen zu Inkonsistenzen in der Auszeichung bei:

Die Kennzeichnung unterschiedlicher Kategorien von Trennstellen ist eine
nachträgliche Änderung. Sie erfolgte zunächst nur, wenn die Bestandteile
entweder als selbständige Wörter oder als gängige Präfixe erkannt wurden.
Ebenfalls markiert wurden Trennstellen, die nicht der "einfachen"
Worttrennung entsprechen (Ab<stand, Feier=abend). Dieser Arbeitsschritt ist
(weitgehend) abgeschlossen und unumstritten.

Später erfolgte auch die spezielle Kennzeichnung von Trennstellen vor
einigen Suffixen.

Bei der Kennzeichnung von "verblassten" Morphemgrenzen (im Deutschen wenig
oder unbekannte Komponenten, als ganzes übernommene Fremd- und Lehnwörter,
assimilierte Präfixe) ist noch kein Konsens über das Maß der Auszeichnung
erreicht. Bestrebungen einer weitgehenden Erschließung der Etymologie und
Morphologie steht die Bevorzugung der einfachen Auszeichnung, wenn dies
der Aussprache und Wahrnehmung der Wörter entspricht, entgegen.



Regeln für die Trennzeichenwahl
~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~

Die folgenden drei Reglen sind, hoffe ich, unumstritten:

* Trennzeichen stehen nur dort, wo auch getrennt werden darf.
  Morphemgrenzen, an denen nicht getrennt wird werden nicht markiert.

* Wo „einfache“ Trennung nicht erlaubt ist, darf nur eine Kombination mit
  „<“ oder „=“ stehen. (Ausnahme: „>ski“ und „>sky“)

* Wo Ligaturen erlaubt sind, darf nur der Regeltrenner „-“ stehen
  (günstige Trennungen bei erlaubter Ligatur mit „--“ (il--le-gal).
  Ebenso, wenn vor der Fuge ein Lang-S steht, weil dieses in de-1901
  am Beginn der folgenden Silbe stand (ab-ſtrakt;abſ-trakt).


Vorschläge und Konventionen
~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~

Für Auszeichnung in der Grauzone mehr oder weniger verblasster Morphologie
und Etymologie kann die Analogie zu eindeutigen Fällen hilfreich sein.
Im Zweifelsfall plädiere ich für eine Einzelfallentscheidung ---
wichtiger als globale Einheitlichkeit ist es, Trennungen zu erhalten, die
das schnelle Erkennen eines Worts möglichst wenig stören.
(Das war auch in der AR schon so: der morphologisch getrennte Fachbegriff
"Aph<ä·re-se" steht neben dem nach Aussprache getrennten "A·pho-ris-mus".)


Präfixauszeichnung,
  bei wahrnehmbarem Präfixcharacter (Präfix oder Grundwort bekannt und in
  der Semantik erkennbar, getrennte Aussprache, ...), z.B.

    Kombattant;Kom<bat-tant # < franz. < lat. con- + battuere
    kombinieren;kom<bi-nie-ren # < lat. combinare < con- + bini
    komprimieren;kom<pri-mie-ren # < lat. comprimere < con- + premere
    Symbiose;Sym<bi-o-se # < griech. συμβίωσις < συν- + βίος

    Symphonie;Sym<pho-nie # < griech. συμφωνία < συν- + φωνή
    Sympathie;Sym<pa-thie # < griech. συμπάθεια < συν- + πάθος
    Empathie;Em<pa-thie # < engl. < griech. ἐμπάθεια < ἐν- + πάθος
    implantieren;im<plan-tie-ren # < lat. implantare < in- + plantare

Regeltrennung,
  wenn Restwort unbekannt, Präfix in der Semantik nicht erkennbar
  oder "verbundener" Aussprache (z.B. bei vollständiger Assimilation).

    Embryo;Em-bry·o # < griech. ἔμβρυον < ἐν- + βρύειν
    Empirie;Em-pi-rie # < griech. ἐμπειρία < ἐν- + πεῖρα
    Impedanz;Im-pe-danz # < lat. impedire < in- + pes

    Kommando;Kom-man-do # [kɔˈmando] vs. Strommast [ˈʃtʁoːmˌmast]
    aggressiv;ag-gres-siv # [aɡʁɛˈsiːf] vs. weg<ge-hen [ˈvɛkˌɡeːən]

keine Wahltrennung,
  wenn an der Fuge in de-1901 nicht getrennt wird und weiter neben der Fuge
  getrennt werden darf:

    Akronym;A·kro-nym # < griech. akro- (< ἄκρος) + ὄνυμα
    Gastralgie;-2-;Ga-stral-gie;Gas-tral-gie # < griech. gastro- (< γαστήρ) + ἄλγος
    anomal;a·no-mal # < lat. anomalus < griech. ἀνώμαλος < ἀ- + ὁμαλός

  auch wenn in de-1996 die Trennungen Akr|onym, Gastr|algie und an|omal
  erlaubt sind.

Wahltrennung in de-1996
  bei Wörtern der Alltagssprache, wenn die Sprachsilbengrenze eindeutig
  neben der Fuge liegt:

    A·b<i-tur
    a·n<o-nym
    Sym<p-tom


Noch offen:

ak- + k:
  "verbundene" Aussprache, aber kein "ck"

    akkumulieren;ak-ku-mu-lie-ren # [akumuˈliːʁən] vs. Rück<kauf [ˈʁʏkˌkaʊ̯f]
  oder
    akkumulieren;ak<ku-mu-lie-ren # vs. Pa-ckung

Wahltrennung oder nicht
  * bei Wörtern der Fachsprache, wenn die Sprachsilbengrenze
    neben der Fuge liegt:

      Met<o-nym oder Met<onym
      E·pi<skop oder E·pi<s-kop

  * wenn die Aussprache durch Trennung an der Morphemgrenze nicht erschwert
    wird

      De<s-ti-na-ti.on   oder  De<sti-na-ti.on
      de-s<a-vou-ie-ren  oder  de-s<a·vou-ie-ren
      Di<s-tanz	       oder  Di<stanz
      Re<s-tau-rant      oder  Re<stau-rant



Korrekturvorschläge und Antworten zu "Praefixassimilation.txt"
==============================================================

- Generell läßt sich sagen, daß die Assimilation den Präfixcharakter in
- gewissem Maße abschwächt, was dazu führen kann, daß die Verwendung des
- Lang-s im Fraktursatz, der Einsatz von Ligaturen und die Silbentrennung
- nicht den sonst für Präfixe geltenden Regeln entsprechen.

+ Die Assimilation von Präfixen schwächt die Wahrnehmung des präfigierten
+ Wortes als zusammengesetzt durch „Glättung“ der Fuge.  Die „Verblassung“ der
+ Morphologie kann (nicht nur bei Assimilation) zum Wegfall typischer
+ Fugenmerkmale führen (vgl. Trennstellenkategorisierung.txt).



>    s) lat ir- < in- vor r
>       Fragwürdig ist dagegen die folgende Auszeichnung, die für die alte
>       Rechtschreibung annimmt, daß das Wort auch von dt. „irren“ abgeleitet
>       sein könnte:
>         irreligiös;-2-;i[{rr/rr=r}/r<r]e-.li-gi.ös;ir<re-.li-gi.ös

Es gibt Fundstellen sowohl für Ir-Religion (Unglaube) als auch
Irr-Religion (falsche Religion). In AR werden beide "Irreligion"
geschrieben:

Irreligion;-2-;I[{rr/rr=r}/r<r]e-.li-gi.on;Ir<re-.li-gi.on # Irrglaube vs. Unglaube

Der Anhänger des falschen Glaubens ist "irrreligiös" (in AR "irreligiös").

Googeln nach "irrreligiös" ergibt einige Treffer aus alten Büchern. (Vor
1901 wurde noch nicht immer das 3. r weggelassen.)

  Daher läßt sich so viel heimlicher, irrreligiöser Unglaube in Ländern
  erklären, wo gesetzmäßig authorisirte Glaubensformeln die Norm des
  christlichen ...

  -- Friedrich Nicolai: Allgemeine deutsche Bibliothek, Bände 25-36

  Irrreligiöse Verruchtheit in einen Mantel gehüllt, der viele zu
  verführen geeignet ist.

  -- Johann Heinrich Pestalozzi, Briefe aus den Jahren 1808 und 1809 (Nr. 1337-1852),

In de-1901 ist bei der Schreibung "irreligiös" dann nicht mehr erkennbar,
ob "ungläubig" oder "falschgläubig" gemeint ist.



> Es ist zu entscheiden, ob „ab“ (ohne s) als Präfix ausgezeichnet werden soll
> oder nicht und welche Trennmöglichkeit in der neuen Rechtschreibung genutzt
> werden soll. Dies ist bisher uneinheitlich.
>
>         abstinent;ab<sti-nent # < lat. abstinere < ab- + tenere

Es gilt in AR generell, dass bei "abs- + st..." nicht an der Grenze sondern
vor dem s getrennt wird und ein Lang-ſ geschrieben wird (Duden 71, K44).





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