[SAV-newsletter] Ausgrenzung von Linken aus der LINKEn

Sascha Stanicic sst at sav-online.de
Mi Feb 4 17:18:13 CET 2009


*Ausgrenzung von Linken aus der LINKEn*


Am 2. Februar titelt der Berliner Kurier: "Gysi tobt und droht. Kein 
Bock mehr auf linke Spinner!". Am 3. Februar wird mir die schriftliche 
Begründung der Landesschiedskommission der Berliner LINKEn zugestellt, 
in der erklärt wird, weshalb ich nicht Mitglied der Partei werden darf. 
Lucy Redler erhält einen nahezu wortgleichen Brief. Nach der Lektüre des 
Briefes fragte ich mich: wer spinnt hier eigentlich?


/von Sascha Stanicic, Berlin/


In dem Kurier-Artikel wird Gysi mit den Worten zitiert: "Wir müssen 
nicht jeden Spinner akzeptieren." Und der Fraktionsgeschäftsführer im 
Bundestag und West-Beauftragte des Vorstands, Ulrich Maurer, soll gesagt 
haben: "Künftig wird man sich öfter vor der Schiedskommission treffen." 
Nun stellt Gysi auf der Webseite der Partei klar, dass es ihm nur um 
diejenigen geht, die der Partei bewusst und unmittelbar schaden wollen 
und verweist auf das hessische Parteimitglied, das vor der Landtagswahl 
dazu aufgerufen hat, nicht DIE LINKE zu wählen. Doch man muss nicht an 
Paranoia leiden, wenn man aus diesen Äußerungen eine Stellungnahme zu 
unserem Fall in Berlin und eine Drohung an alle linken KritikerInnen 
heraus liest. Denn es stellt sich immer die Frage, wer entscheidet, was 
parteischädigend ist. Und auch der Zeitpunkt von Gysis Äußerungen ist 
kein Zufall. Zur Zeit gibt es nur einen öffentlich bekannten und 
politisch bedeutsamen Fall, der vor einem Landesschiedsgericht 
verhandelt wird: die Aufnahme von elf SAV'lerInnen in Berlin, die durch 
den stellvertretenden Parteivorsitzenden Klaus Ernst zu verhindern 
versucht wird. Jeder und jede, der bzw. die Gregor Gysis Äußerungen 
hört, wird einen Zusammenhang zu diesem Fall ziehen, auch wenn Gysi 
unsere Namen nicht in den Mund nimmt. Der Zeitpunkt ist auch deshalb 
kein Zufall, weil die Solidarität mit uns in der Partei wächst. In den 
letzten Wochen haben unter anderem die Landesparteitage von 
Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg gegen die Ausgrenzung der 
Berliner SAV'lerInnen protestiert. Schon vorher hatte das unter anderem 
auch der Landesvorstand NRW, verschiedeneste Kreisverbände und 
Strukturen des Jugendverbandes getan. Auf dem bayrischen Landesparteitag 
wurde mit Franc Zega ein neuer Landessprecher gewählt, der sich explizit 
für die Aufnahme von Lucy Redler, mir und den anderen GenossInnen in 
Berlin ausgesprochen hat.


Politischer Zusammenhang


Zwischen diesen parteiinternen Auseinandersetzungen und der dramatischen 
politischen und wirtschaftlichen Lage in Deutschland und der Welt 
besteht durchaus ein Zusammenhang. DIE LINKE war bis vor einigen Monaten 
die einzige Partei, die sich gegen den Neoliberalismus wendete und für 
eine staatliche Regulierung der Wirtschaft eintrat. Oskar Lafontaine 
hielt radikale Reden, in denen er den Kapitalismus geißelte und von der 
"Freiheit durch Sozialismus" sprach. Mit der Weltwirtschaftskrise haben 
Bänker, Arbeitgeber und Regierung zu staatlichen Eingriffen in die 
Wirtschaft Zuflucht gesucht, um einen Zusammenbruch des kapitalistischen 
Finanzsystems zu verhindern. Das neoliberale Dogma scheint der 
Vergangenheit anzugehören. Die Systemfrage wird von Anne Will bis 
Maischberger diskutiert, nur die Führung der LINKEn scheint Kreide 
gefressen zu haben. Weder das K-Wort noch das S-Wort vernimmt man in den 
öffentlichen Stellungnahmen Lafontaines und Gysis. Die 
Vergesellschaftung der Banken wird erst gefordert, nachdem die Regierung 
erste faktische Teilverstaatlichungen durchgeführt hat und nachdem 
verschiedene Landesparteitage die Verstaatlichung des gesamten 
Bankensektors unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung gefordert 
haben. Doch diese Forderung wird nicht in einen Zusammenhang zur 
Überwindung des kapitalistischen Profitsystems gestellt, sondern 
verharrt in einem staatskapitalistischen Rahmen, der keine Perspektive 
zur Lösung der katastrophalen Weltwirtschaftskrise weist. Aber wann, 
wenn nicht jetzt, ist die Zeit gekommen, offensiv die Notwendigkeit 
einer sozialistischen Gesellschaftsveränderung zu propagieren und sich 
deutlich von dem kapitalistischen Krisenmangement, das zu einer weiteren 
Umverteilung von unten nach oben führt, abzusetzen? Stattdessen wurde 
das Bankenrettungspaket als "technisch korrekt" gelobt, stimmte die 
Berliner LINKE im Bundesrat sogar dafür, unterstützte die hessische 
Landtagsfraktion der Partei den Schutzschirm für Opel und fordert die 
Bundestagsfraktion neuerdings eine Arbeitslosengeld II-Regelsatzerhöhung 
auf nur 435 Euro, was man nur als "Hartz IV light" bezeichnen kann.


Der Grund für diese moderate Politik und die Entradikalisierung der 
öffentlichen Stellungnahmen der Parteiführer liegt auf der Hand: 
Lafontaine, Ramelow, Gysi, Bisky und Kollegen wollen mit aller Macht in 
diesem Jahr in verschiedene Landesregierungen einziehen. Also müssen sie 
ihr Verantwortungsbewusstsein -- dem Kapital gegenüber -- unter Beweis 
stellen. Sie sind Doktor am Krankenbett des Kapitalismus, wie es die 
Führer der deutschen Sozialdemokratie nach dem Beginn des 20. 
Jahrhunderts wurden. Wir brauchen aber Totengräber des Kapitalismus, wie 
es Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht waren.


LINKE sozialistisch aufbauen!


Nach einer solchen Kritik werde ich oft gefragt, warum ich dann 
überhaupt in DIE LINKE will. Die Antwort lautet: weil die Partei mehr 
ist, als der Berliner Landesverband und die dominierenden Kräfte in 
Fraktion und Vorstand. Weil die Partei ein Werkzeug zur 
Interessenvertretung von ArbeiterInnen, Erwerbslosen und Jugendlichen 
sein kann. Weil tausende Partei-AktivistInnen mit einer Anpassung an die 
kapitalistischen Realitäten nicht einverstanden sind. Und auch, weil die 
Partei selbst so, wie sie zur Zeit aufgestellt ist, als Barriere gegen 
die Regierungsoffensive in Sachen Sozialabbau und Privatisierungen 
gewirkt hat und wirkt. Und das ist gut so.


Aber mit der Verdunklung der Zukunft des Kapitalismus -- und damit der 
Lebensverhältnisse von Milliarden Menschen -- ziehen auch dunkle Wolken 
über der LINKEn auf. Denn die Herausforderungen an linke und 
sozialistische Politik wachsen mit jedem weiteren Krisentag. Und neben 
den direkt politischen Herausforderungen gibt es auch die Aufgabe 
innerhalb der Partei eine Atmosphäre und Kultur zu haben, die 
ArbeiterInnen und Jugendliche, Aktive aus sozialen Bewegungen, kritisch 
denkende Menschen, Frauen und MigrantInnen dazu einlädt, aktives 
Mitglied zu werden. Die Ausgrenzungskampagne gegen die Berliner 
SAV-Mitglieder und die Äußerungen Gysis zu den "linken Spinnern" sind 
Ausdruck der Tatsache, dass eine solche Atmosphäre zur Zeit in der 
Partei an vielen Stellen nicht existiert.


Landesschiedskommission gegen Satzung


Die schriftliche Begründung der Landesschiedskommission ( kompletter 
Text hier: 
http://www.sozialismus.info/z/Landesschiedsgericht_BegruendungNichtAufnahmeSaschaStanicic_2009-01-08.pdf 
)zu ihrer Entscheidung Lucy Redler und mir die Mitgliedschaft zu 
verweigern, unterstreicht diese Einschätzung. Die Berliner 
Landesschiedskommission legt sich darin auf ein zentralistisches 
Parteikonzept fest, in dem Mitglieder verpflichtet werden, jeden 
Parteibeschluss umzusetzen, auch wenn sie nicht davon überzeugt sind. 
Das erinnert an ein Partei- und Demokratieverständnis der 
Vorgängerorganisation der PDS, steht aber im Widerspruch zur Satzung der 
LINKEn. Tatsächlich kann man nur zu dem Schluss kommen, dass hier eine 
Landesschiedskommission satzungswidrig argumentiert, um unliebsame 
KritikerInnen loszuwerden. Der Begründungstext wimmelt von faktischen 
Fehlern und Unterstellungen. Gleichzeitg geht die 
Landesschiedskommission auf so gut wie keines der von den elf Berliner 
SAV'lerInnen vorgebrachten Argumente ein. Während viele der von Klaus 
Ernst genannten Anschuldigungen gegen unsere Mitgliedschaft von der 
Kommission nicht einmal mehr erwähnt werden, konzentriert sich ihre 
Entscheidung auf die Annahme, dass wir Parteibeschlüsse nicht einhalten 
werden. Das basiert darauf, dass die Berliner WASG im Jahr 2006 zu den 
Abgeordnetenhauswahlen antrat, obwohl ein Bundesparteitag sie dazu 
aufgefordert hatte, dies nicht zu tun. Wir hatten erklärt, dass bei 
dieser landespolitischen Entscheidung die demokratischen Beschlüsse des 
Landesverbands Berlin für uns maßgeblich waren, da auch sonst 
landespolitische Entscheidungen auf Landesebene gefällt werden. Wir 
haben außerdem deutlich gemacht, dass wir Beschlüsse, wie es die Satzung 
verlangt, respektieren, aber nicht bereit sind Beschlüsse mit umzusetzen 
oder auf öffentliche Kritik zu verzichten, wenn diese zu einer 
Verschlechterung der Lebensbedingungen der Lohnabhängigen, Jugendlichen 
und Benachteiligten führen, wie es in Berlin leider oftmals der Fall war 
und noch ist. Aus dieser Fragestellung heraus entwickelt die 
Landesschiedskommission ein zentralistisches Organisationskonzept, was 
aus folgenden Zitaten deutlich wird:


"/Der Beigeladene (damit bin ich gemeint, S.St.) habe auch noch im 
Oktober 2008, nach seinem Beitritt in die Partei DIE LINKE angekündigt, 
dass er auch weiterhin nicht nur innerhalb der Partei für eine Änderung 
von Parteitagsbeschlüssen kämpfen würde, sondern zwar mit dem Parteibuch 
in der Tasche, aber außerhalb der Partei nicht nur Parteitagsbeschlüsse 
nicht vertreten, sondern aktiv dagegen handeln würde, die 
außerparlamentarische Opposition dazu organisieren würde." (aus dem Teil 
des Begründungstextes, der die Arguente von Klaus Ernst wieder gibt)/


" /Ein wichtiger Satzungsgrundsatz der Satzung der Partei DIE LINKE sind 
die in §4 verankerten Rechte und Pflichten der Mitglieder. Unter anderem 
ist hier in §4 Abs. 2 normiert, dass jedes Mitglied die Pflicht hat, die 
satzungsgemäß gefassten Beschlüsse der Parteiorgane zu respektieren. 
Nach diesseitiger Ansicht bedeutet Respektieren von Beschlüssen nicht 
nur ein zur Kenntnis nehmen, sondern auch ein Handeln im Sinne dieser 
Beschlüsse. Es ist für die demokratische Willensbildung in der Partei 
DIE LINKE unabdingbar, dass auf demokratischem Wege gefasste Beschlüsse 
nicht nur passiv hingenommen werden, sondern auch durchgesetzt werden. 
Dies bedeutet zumindest, dass auch bei einer jeweiligen Beschlussfassung 
unterlegene Mitglieder der Partei gehalten sind, nicht aktiv nach einer 
Beschlussfassung gegen diese Ergebnisse der demokratischen 
Willensbildung aufzutreten./

/Der Beigeladene hat jedoch zum Ausdruck gebracht, dass er aktiv gegen 
gefasste Beschlüsse des Landesverbandes Berlin, insbesondere die der 
Landesparteitage zur Regierungsbeteiligung im Land Berlin, auftreten will."/


"/Die Linkspartei kann und muss von ihren Mitgliedern auch eine 
Loyalität gegenüber demokratisch zustande gekommenen Entscheidungen 
verlangen. Dies gilt auch, wenn das jenige Mitglied, welches in einem 
Entscheidungsprozeß mit seiner Meinung unterlegen war, sehr wohl auch 
gehalten ist, die demokratisch zustande gekommenen Mehrheitsbeschlüsse 
nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern auch mit durchzusetzen."/


Was bedeuten diese Aussagen konkret? Sie bedeuten zum Beispiel, dass ein 
Mitglied der Partei DIE LINKE sich nicht nur nicht öffentlich gegen 
Landesparteitagsbeschlüsse äußern darf, sondern von ihm erwartet wird, 
diese "mit durchzusetzen". Wenn also der Landesparteitag der Berliner 
LINKEn, die Politik des Berliner Senats per Beschluss unterstützt (was 
ja grundsätzlich der Fall ist), so muss jedes Mitglied der Partei in 
Berlin darauf verzichten die Umsetzung von Ein-Euro-Jobs in Berliner 
Bezirken, die Privatisierung von Wohnraum, Arbeitsplatzvernichtung und 
Lohnkürzungen im öffentlichen Dienst, Kürzung des Blindengelds, 
Abschaffung der Lehrmittelfreiheit etc. öffentlich zu kritisieren und 
dürfte auch an keiner Demonstration dagegen teilnehmen.

Damit wird Pluralismus zu einem Lippenbekenntnis, verschließt sich die 
Partei der offenen Auseinandersetzung und Debatte mit Aktiven aus 
Gewerkschaften und sozialen Bewegungen und werden Maulkörbe verteilt und 
Handlungsdirektiven gegeben. Das ist so unfassbar, dass man denken 
müsste: die spinnen doch!


Wehret den Anfängen!


Wenn sich ein solches Parteiverständnis in der LINKEn durchsetzt, werden 
die Führungen und Schiedskommissionen die Möglichkeit haben, jedem 
Kritiker und jeder Kritikerin parteischädigendes Verhalten nachzuweisen, 
wenn man nur einmal laut in der Öffentlichkeit nachgedacht hat oder sich 
geweigert hat Flugblätter zu verteilen, in denen die Berliner 
Senatspolitik verteidigt wird.

Das zeigt, unsere Warnung war berechtigt, dass es bei dieser 
Auseinandersetzung nicht "nur" um die SAV geht, sondern mit der 
Ausgrenzung kritischer MarxistInnen ein Wendepunkt erreicht sein kann, 
der die Partei insgesamt qualitativ bürokratisiert und zentralisiert und 
dass solche Methoden in Zukunft auch gegen andere KritikerInnen 
angewendet werden können.


Jedoch hat die Landesschiedskommission eines übersehen: die Satzung der 
Partei! Denn diese deckt die Aussagen des Begründungstextes nicht. Sie 
verlangt Respekt vor Parteibeschlüssen, aber keinen Zwang zur Umsetzung 
oder Verzicht auf öffentliche Kritik. Im Gegenteil sieht §4 Abs.2 der 
Satzung vor, dass jedes Mitglied das Recht hat /"an der Meinungs- und 
Willensbildung mitzuwirken, sich über alle Parteiangelegenheiten zu 
informieren und zu diesen ungehindert Stellung zu nehmen"/.


Hier ist nicht die Rede davon, dass diese Stellungnahmen nur *vor* 
Beschlussfassungen oder nur parteiintern möglich sind. Im selben 
Paragraphen wird außerdem unterschieden zwischen der Pflicht die 
*Grundsätze* der Partei zu *vertreten* und der Pflicht die *gefassten 
Beschlüsse* zu *respektieren*. Nun mag man sich über die Definition des 
Wortes "respektieren" streiten können. Es bedeutet aber ganz sicher 
nicht "umsetzen", "öffentlich vertreten" oder "nicht kritisieren". 
Respekt bedeutet aus unserer Sicht gefasste Beschlüsse anzuerkennen und 
sich politisch (und das beinhaltet die Fortsetzung der Debatte, auch 
öffentlich, und ggf. auch die Teilnahme an außerparlamentarischer 
Opposition gegen Beschlüsse, die einen unsozialen Charakter haben) damit 
auseinanderzusetzen, aber zum Beispiel darauf zu verzichten, die 
Umsetzung durch Störung, Sabotage oder ähnlichem zu verhindern. Das 
haben wir auch vor der Landesschiedskommission erklärt.


Wir werden vor der Bundesschiedskommission gegen diesen Beschluss 
Widerspruch einlegen. Doch jedem Genossen und jeder Genossin sollte klar 
sein, dass es hier um mehr als um Lucy Redler und zehn weitere renitente 
MarxistInnen geht. Es geht auch um das Selbstverständnis und die 
Demokratie der Partei. Und dieses wurde auch in der Geschichte der 
Arbeiterbewegung immer Schritt für Schritt verändert, niemals mit dem 
ganz großen Knall. Aber es gibt immer den ersten Schritt in die falsche 
Richtung. Dieser muss verhindert werden.


/Sascha Stanicic ist Bundessprecher der SAV und gehört zu den elf 
Berliner MarxistInnen, denen der Eintritt in DIE LINKE verwehrt wird. Er 
war aktives Mitglied der WASG Berlin und vertrat diese im WASG-Länderrat. /


-------------- nächster Teil --------------
Ein Dateianhang mit HTML-Daten wurde abgetrennt...
URL: <https://listi.jpberlin.de/pipermail/sav-a/attachments/20090204/2c356746/attachment.html>


Mehr Informationen über die Mailingliste Sav-a