[IMI-List] [0675] Deutsche und EUropäische Hochrüstung: „Finanzpakete“ und EU-Weißbuch

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Mi Mär 26 16:11:39 CET 2025


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Online-Zeitschrift "IMI-List"
Nummer 0675 – 28. Jahrgang
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Liebe Freundinnen und Freunde,

die Entscheidungen zur Hochrüstung Deutschlands und der EU fallen in
atemberaubender Geschwindigkeit. In dieser IMI-List möchten wir auf drei
neue Texte der IMI hinweisen, die sich mit dieser Thematik beschäftigen:

1.) Mit einer Billion Euro in den Krieg

Tobias Pflüger fasst in fünfzehn knappen Punkten zusammen, welche
Auswirkungen die verabschiedeten Finanzpakete und die Pläne der EU zur
„Wiederbewaffnung Europas“ haben dürften:

IMI-Analyse 2025/09
Mit einer Billion Euro in den Krieg, „whatever it takes“…
Dazu 15 Punkte über die wenig berichtet wurde
https://www.imi-online.de/2025/03/24/mit-einer-billion-euro-in-den-krieg-whatever-it-takes/

Tobias Pflüger (24. März 2025)

2.) Europe first!
Özlem Alev Demirel und Jürgen Wagner analysieren das vorgelegte
„Weißbuch“ der Europäischen Union und stellen dar, wie die Umstellung
auf Kriegswirtschaft stattfinden soll und legitimiert wird:

IMI-Analyse 2025/10
Europe first!
EU-Weißbuch für die Umstellung auf Kriegswirtschaft und die Abkopplung
von den USA
https://www.imi-online.de/2025/03/25/europe-first/
Özlem Alev Demirel und Jürgen Wagner (25. März 2025)

3.) Ein weiterer IMI-Standpunkt zum Weißbuch und dem damit verbundenen
Epochenbruch, der auch die Frage stellt: Wo bleibt der linke Widerstand

IMI-Standpunkt 2025/022
Europas Weißbuch: Mit Volldampf auf Kriegskurs
Wo bleibt der linke Widerstand?
https://www.imi-online.de/2025/03/26/europas-weissbuch-mit-volldampf-auf-kriegskurs/

26. März 2025

Wenn es wahr ist, dass die Wahl Donald Trumps und die Verhandlungen um
einen Waffenstillstand in der Ukraine für Europa den größten
Epochenbruch seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs darstellen, dann wäre
es eigentlich notwendig, wohl überlegt und gut diskutiert Ursachen zu
analysieren, realistische Optionen auszuloten und darauf basierend eine
strategische Neuausrichtung auf den Weg zu bringen. Die führenden
Politiker*innen in Deutschland und Europa machen aber das Gegenteil. In
Windeseile werden Schuldenprogramme in zuvor nie dagewesenem Maßstab für
die Aufrüstung aufgelegt. Am 19. März 2025 hat dann die noch relativ
junge EU-Kommission (während der laufenden Verhandlungen über einen
Waffenstillstand in der Ukraine) ein „Weißbuch“ verabschiedet, das von
der aktuell verbreiteten Panik um einen vermeintlich bevorstehenden
Angriff Russlands auf EU-Staaten geprägt ist. Hysterie und Opportunismus
ziehen sich durch den gesamten Text. Bereits auf sprachlicher Ebene
wirkt er eher wie ein eilig herunter geschriebener und schlecht
übersetzter Entwurf einer Tischvorlage der Rüstungslobby: Keine
abwägenden oder diplomatischen Formulierung, keine Rücksichtnahme auf
divergierende Interessen innerhalb und zwischen den Mitgliedsstaaten,
kein Raum für Ambivalenzen.

Weißbuch: Rüstungswahn statt Strategie

Auch jenseits stilistischer Fragen fällt es schwer, das Weißbuch als
Strategiepapier ernst zu nehmen. Ein Strategiepapier sollte eigentlich
verschiedene Szenarien in den Blick nehmen, eine realistische
Einschätzung künftiger Entwicklungen und eigener Fähigkeiten enthalten
und Ziele definieren. Davon kann aber im vorgelegten Weißbuch keine Rede
sein: Es kennt nur ein Ziel: die hemmungslose und forcierte Aufrüstung
auf allen Ebenen und mit (fast) allen Mitteln mit dem Ziel, bis 2030
auch ohne die USA einen großen Landkrieg führen zu können.

In dem Dokument erscheint Europa von allen Seiten und auch aus dem
Inneren bedroht, die eigene „regelbasierte Ordnung“ im Niedergang
begriffen. Die größte Bedrohung ist natürlich Russland, aber auch China
wird mehrfach genannt sowie der zunehmende „strategische Wettbewerb in
unserer weiteren Nachbarschaft, von der Arktis bis zum Baltikum, vom
Mittleren Osten bis nach Nordafrika“. Hinzu kommen Bedrohungen durch
technologischen Wandel, Migration und den Klimawandel, an anderer Stelle
Terrorismus, Extremismus, Organisierte Kriminalität und
Cyber-Kriminelle. Auf diese sehr kursorische Bedrohungslage kennt das
Dokument nur eine Antwort: „Der Moment ist gekommen, in dem sich Europa
wiederbewaffnen muss.“ Mehrfach wird in dem Dokument von der „realen
Perspektive eine vollumfänglichen Krieges“ (the real prospect of
full-scale war) gesprochen. Überhaupt taucht die Silbe „scale“ in den 22
Seiten des Dokuments 24 Mal auf. Es wird ernst gemacht, im großen
Maßstab gedacht – ob es um Waffensysteme, Truppenverlegungen oder auch
die Skaleneffekte geht, die man durch die Massenproduktion von
Rüstungsgütern zu realisieren hofft: Panzer, Drohnen und Munition sollen
endlich am laufenden Band produziert werden

Alternativlos: Die Ukraine muss weiterkämpfen!

Ganz klar wird im Weißbuch, dass unabhängig von den Verhandlungen um
einen Waffenstillstand in der Ukraine der Krieg dort für Europa nicht
vorbei sein wird. „Die Zukunft der Ukraine ist entscheidend für die
Zukunft Europas als Ganzes“ … „Die Ukraine steht gegenwärtig an der
Frontlinie der europäischen Verteidigung, verteidigt sich gegen einen
Angriffskrieg durch die größte Bedrohung unserer gemeinsamen Sicherheit“
… „Die Zukunft Europas entscheidet sich durch den Kampf in der Ukraine“
… „Die Ukraine ist die zentrale Arena, in der sich die neue,
internationale Ordnung entscheiden wird“. Entsprechend soll die
Hochrüstung Europas auch wesentlich dem Ziel dienen, „die militärische
Unterstützung der Ukraine aufrechtzuerhalten und auszubauen“.

Wohlgemerkt: Dieses Dokument erschien, während die USA, Russland und die
Ukraine über einen Waffenstillstand verhandelten. Die Möglichkeit, dass
es dort zu einem Friedensschluss, gar zu einem dauerhaften Frieden und
Abrüstungsbemühungen kommen könnte, wird in dem Dokument jedoch gar
nicht in Betracht gezogen. Fast drängt sich der Eindruck auf, die
hastige Veröffentlichung dieses Aufrüstungsprogramms sei als
diplomatisches Säbelrasseln gemeint, um der bislang nicht beteiligten EU
(bzw. den europäischen Führungsmächten und ihren baltischen
Kettenhunden) doch noch einen Platz am Verhandlungstisch zu garantieren
mit der Drohung: 'ohne uns wird es keinen Frieden geben' bzw. 'ein
Frieden, der ohne uns ausgehandelt wird, werden wir nicht akzeptieren'.
Eine solche Initiative wäre zwar moralisch fragwürdig, im unmoralischen
Spiel der Mächte um Einfluss jedoch nachvollziehbar. Sie jedoch in Form
eines langfristigen Strategiedokuments zu ergreifen, welches die
Hochrüstung der EU auf Jahre und quasi unumkehrbar festschreibt, birgt
nicht nur die Gefahr, dass der „vollumfängliche Krieg“ zur
selbsterfüllenden Prophezeiung wird. Dies wird auch dazu beitragen, dass
weltweit Staaten in den Rüstungswettlauf einsteigen – mit allen Folgen
für bestehende Formen der Rüstungskontrolle und der Regulierung neuer
Waffensysteme.

Denn obwohl das Weißbuch primär eine existenzielle Gefahr für Europa,
eine „direkte“ Bedrohung „unserer Art zu Leben“ unterstellt, erhebt es
zugleich den Anspruch, die internationale Ordnung zu „formen“ - „sowohl
in unserer Region, als auch darüber hinaus“. Auch der bereits
angesprochene „strategische Wettbewerb“ von der Aktis bis in den
Mittleren Osten und die Verweise auf Taiwan bringen letztlich zum
Ausdruck, dass „Europa“ hier künftig wieder mehr mitbestimmen will und
den Königsweg auch hierfür in der massiven Aufrüstung sieht. Das muss
auch von den anderen Teilnehmenden im „strategischen Wettbewerb“ als
Ansage verstanden werden, dass der Kampf um Einfluss künftig noch mehr
und schneller auf der militärischen Ebene ausgefochten wird.

Fehlender Realismus und Tech-Fantasien

Und hier sind wir beim fehlenden Realismus, der in einer außen- und
militärpolitischen Strategie gefährlich, geradezu fatal sein kann.
Dieser fehlende Realismus kommt u.a. in einer Leerstelle des Dokuments
zum Ausdruck: der Mobilisierung von Menschen für den Krieg, die
Mobilisierung der massenweisen Bereitschaft, für „Europa“ und seine
Geltungsansprüche zu sterben. Zugegeben, das Weißbuch hat primär die
Rüstungspolitik zum Gegenstand. Trotzdem ist die Ausklammerung der
Frage, wer diese Waffensysteme in welchen Kriegen bedienen und bei deren
Bedienung sterben soll, eklatant. Es fehlt eine realistische
Einschätzung dessen, wie viel militärisch fundierte Macht ein Europa
weltweit projizieren kann, das letztlich aus sehr unterschiedlichen
Nationalstaaten besteht, die fast alle bereits jetzt
Rekrutierungsprobleme haben, die Demokratien würdig sind.

Übertüncht wird diese Leerstelle mit der das gesamt Dokument
durchziehenden Hoffnung auf überlegene Technologie. Künstliche
Intelligenz, autonome Systeme und Quantencomputing werden wiederholt
angesprochen und sollen einen Schwerpunkt in der europäischen
Hochrüstung spielen. Von ihrer Regulierung – wie insgesamt von
Regulierung – ist hingegen keine Rede. Der Weg, wie Europa bei diesen
Technologien und durch diese Technologien „Überlegenheit“ herstellen
kann, entspricht in seiner Floskelhaftigkeit wiederum der lange gehegten
Wunschliste der Rüstungsindustrie und der mit dieser immer enger
verwobenen Tech-Industrie: Mehr Geld, mehr Geld für Rüstungsforschung
und Dual Use, mehr Unterstützung für Startups und Risikokapital,
Deregulierung und schnellere Beschaffung sowie die weitere
technologische Hochrüstung auch der Grenzen und der Inneren Sicherheit.
Diese Bedingungen der Deregulierung und beschleunigten Aufrüstung werden
die Weiterentwicklung jener neuen Technologien prägen und so dazu
beitragen, dass sie sich tatsächlich als ernsthaften Bedrohung der
Menschen und ihrer Rechte entfalten.

Es sind letztlich industrielle Interessen, die im Weißbuch an die Stelle
einer Strategie treten. Dass sie sich hier (und aktuell auch anderswo)
in Reinform artikulieren können, ist Ausdruck einer
Aufrüstungs-Hysterie, wie sie es in Europa tatsächlich seit dem Zweiten
Weltkrieg nicht mehr gegeben hat. Es besteht die reale Gefahr, dass
diese Interessen und die als Katalysator verbreitete Hysterie vermengt
mit dem Geltungsanspruch eines neuen „Europas“ (unter deutscher Führung)
in einen Dritten Weltkrieg münden. Jenseits dieser Gefahr, die im
Weißbuch als „reale Perspektive eine vollumfänglichen Krieges“
umschrieben wird, ist völlig klar, dass der mit dem Weißbuch ausgerufene
neue Rüstungswettlauf und ein lange anhaltender Krieg in der Ukraine die
sich bereits entfaltende Klimakatastrophe weiter verschärfen wird. Auch
diese wird im Dokument angesprochen, aber eben ausschließlich innerhalb
jener Melange von Bedrohungen, welche die massive Aufrüstung der EU
legitimieren soll: Hochrüstung gegen den Klimawandel – so viel zum Thema
fehlender Realismus.

Wo bleibt der linke Widerstand?

Besonders gefährlich ist die Lage, weil es europaweit sehr wenig
Widerstand gegen die Aufrüstung gibt und wenn, dann oft aus den falschen
Motiven von der falschen Seite. In der veröffentlichten Meinung
dominieren die Hardliner – oft jene „Expert*innen“, die bereits in den
vergangenen Jahren bei jeder Gelegenheit darauf drängten, dass
Deutschland bzw. Europa international „mehr Verantwortung“ übernehmen
sollten. Jene Personen, welche über Jahre die gescheiterten
militärischen Abenteuer in Afghanistan und der Sahel-Region
propagandistisch begleitet und Europa in jene strategische Sackgasse
geführt haben, aus dem es sich nun mit einem irrationalen und
zerstörerischen Aufrüstungs-Plan befreien will. Kritische Stimmen finden
nur vereinzelt Gehör. Gerade auch die antifaschistische und
parlamentarische Linke ignoriert den Aufrüstungskurs – oder stimmt ihm
sogar zu, wie etwa die Linke in Bremen und Mecklenburg-Vorpommern bei
der Abstimmung über die Grundgesetzänderungen im Bundesrat.

Die linke Zustimmung und das linke Schweigen sind besonders in
Deutschland katastrophal. Sie übersehen (oder goutieren klammheimlich),
dass Europa tatsächlich dabei ist, die „Nachkriegs-Ordnung“
abzustreifen. Dazu gehört auch die Entsorgung der deutschen
Weltkriegs-Geschichte. Eine deutsche Kommissionspräsidentin – im Amt
gehalten mit der Zustimmung italienischer Faschisten – legt ein
historisches Programm zur schuldenfinanzierten Aufrüstung auf.
Deutschland ebnet dieser den Weg, indem es per Verfassung ausschließlich
Rüstungsausgaben (im weiteren Sinne) unbegrenzt von der Schuldenbremse
ausnimmt. In deutschen Leitmedien und von hochrangigen
Regierungsvertretern wird von einem „Krieg gegen Russland“ gesprochen
und geträumt. In Litauen wird eine Brigade der Bundeswehr stationiert,
deutsche Waffensysteme mit ukrainischer Besatzung sind in Kursk
vorgedrungen. Es ist kein Wunder, dass zunehmend Forderungen nach einer
atomaren Bewaffnung Deutschlands und einer Kündigung des 2+4-Vertrages
(„Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“)
diskutiert werden. Diese „abschließende“ Regelung beinhalteten jene
Einschränkungen der Aufrüstung und Souveränität, die Deutschland als
Folge seiner Niederlage im Zweiten Weltkrieg auferlegt wurden: U.a. die
endgültige Anerkennung der deutschen Außengrenzen, der Verzicht auf
Atomwaffen, das Verbot der Vorbereitung eines Angriffskrieges und die
Begrenzung der Streitkräfte auf „370.000 Mann“.

Dass die parlamentarische und antifaschistische Linke vor diesem
Hintergrund nicht massenweise auf die Straße geht und sich der deutsch
forcierten Hochrüstung mit aller Kraft widersetzt, könnte sich als
Versagen von historischer Dimension entpuppen.




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