[IMI-List] [0656] Broschüre: AFD: Keine Friedenspartei / Analyse: EU-Kriegswirtschaft
IMI-JW
imi at imi-online.de
Mi Apr 24 12:19:43 CEST 2024
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Online-Zeitschrift "IMI-List"
Nummer 0656 – 27. Jahrgang
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Liebe Freundinnen und Freunde,
in dieser IMI-List findet sich
1.) der Hinweis auf die soeben erschienene Broschüre „Warum die AFD
keine Friedenspartei ist“, die gratis (gegen Porto) bestellt werden kann;
2.) eine IMI-Analyse zur Umstellung auf eine EU-Kriegswirtschaft.
1.) Broschüre: Warum die AfD keine Friedenspartei ist
In Zusammenarbeit mit der Rosa-Luxemburg Stiftung ist soeben die
Broschüre „Warum die AFD keine Friedenspartei ist“ erschienen. Sie kann
wie immer gratis von der IMI-Seite heruntergeladen oder (gerne auch in
größeren Mengen) gratis gegen Porto bei uns bestellt werden:
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IMI-Studie 2024/02
Broschüre: Warum die AfD keine Friedenspartei ist
https://www.imi-online.de/2024/04/24/warum-die-afd-keine-friedenspartei-ist/
Alexander Kleiß und Merle Weber (24. April 2024)
INHALTSVERZEICHNIS
Einleitung
Verteidigungspolitische Positionen der AfD
Aufrüstung
Rüstungsindustrie
Wehrpflicht
Auslandseinsätze
Die AfD – eine Soldatenpartei
Soldaten und Rüstungslobbyisten im Verteidigungsausschuss
Selbstdarstellung als Soldatenpartei
AfD und Militär in rechten Netzwerken
Einordnung der Gesamtstrategie
Zurück zur eigenen Kraft
Fluchtursachen bekämpfen
Geopolitik einer Mittelmacht
Schulterschluss mit Russland
Blinder Fleck: Ostimperialismus
Keine Friedenspartei
Interview mit Tobias Pflüger
Ganze Broschüre:
https://www.imi-online.de/2024/04/24/warum-die-afd-keine-friedenspartei-ist/
Einleitung
Die extrem rechte Alternative für Deutschland (AfD) inszeniert sich seit
Beginn des Ukrainekriegs immer vehementer als Friedenspartei – ja zum
Teil sogar als die vermeintlich einzige Friedenspartei. So schreibt
beispielsweise der AfD-Landesverband Nordrhein-Westfalen auf seiner
Homepage: „Die AfD ist die einzige Partei im Bundestag, die sich für
Frieden einsetzt und ein Konzept vorgelegt hat, wie er zu erreichen ist
und was Deutschland dazu beitragen kann.“ Auf den Social-Media-Kanälen
der AfD-Abgeordneten finden sich immer häufiger Friedenstauben. Die AfD
bemüht sich um Friedensbewegte als potenzielle Wähler*innen und
versucht, in der Friedensbewegung Fuß zu fassen.
Für ihre Selbstinszenierung als Friedenspartei bezieht sich die AfD vor
allem auf den Krieg in der Ukraine. Die AfD setzt sich für Verhandlungen
mit Russland und gegen Waffenlieferungen und Sanktionen gegen die
russische Wirtschaft ein. Auch bei den Auslandseinsätzen der Bundeswehr
gibt es eine gewisse Skepsis, wenn auch keine grundlegende Ablehnung,
seitens der AfD.
Diese Positionierung allein macht die AfD jedoch noch nicht zu einer
Friedenspartei. Eine echte Friedenspartei müsste sich konsequent und
generell gegen militärische Problemlösungen, Aufrüstung,
Rüstungsexporte, die Wehrpflicht und das Militär positionieren.
Diese Studie prüft in einem ersten Schritt die Behauptung der AfD,
Friedenskraft zu sein. Dazu wird die Programmatik (anhand des
Grundsatzprogramms und des aktuellen Europawahlprogramms), die Reden im
Bundestag und das Abstimmungsverhalten der AfD in diesen Politikfeldern
untersucht. Hierbei wird klar, dass die AfD sich klar für eine
Aufrüstung der Bundeswehr positioniert.
Anschließend werden die grundlegenden sicherheits- und außenpolitischen
Positionen der AfD aus den Programmen und Strategiepapieren der Partei
und öffentlichen Äußerungen von AfD-Politiker*innen herausgearbeitet.
Auf dieser Grundlage wird der Frage nachgegangen, warum eine
deutschnationale Aufrüstungspartei die Friedensfahne schwenkt. Hinter
der vermeintlich widersprüchlichen Politik der AfD von Friedensdemo bis
Aufrüstung kommt eine machtpolitische Gesamtstrategie zum Vorschein: mit
den russischen Ressourcen und neuer militärischer Stärke raus aus der
Abhängigkeit von den USA. Die Behauptung der AfD, Friedenspartei zu
sein, entpuppt sich als haltlos. Hinter der oberflächlichen
Friedenspolitik der AfD stehen Rassismus und antiamerikanische
Bündnispolitik. Eine Friedenspartei braucht weder eine starke Armee,
noch eine nationale Rüstungsindustrie – beides zentrale Forderungen der AfD.
Ganze Broschüre:
https://www.imi-online.de/2024/04/24/warum-die-afd-keine-friedenspartei-ist/
2.) Analyse: EU-Kriegswirtschaft
IMI-Analyse 2024/23
Umschalten auf Kriegswirtschaft
Die EU-Kommission legt eine Industriestrategie (EDIS) und ein
Industrieprogramm (EDIP) für den Rüstungsbereich vor
https://www.imi-online.de/2024/04/24/umschalten-auf-kriegswirtschaft/
Özlem Alev Demirel und Jürgen Wagner (24. April 2024)
Anfang März 2024 legte die Europäische Kommission zwei neue Papiere vor,
mit denen die Union einen weiteren großen Schritt in Richtung
Kriegswirtschaft unternimmt. Dabei formuliert die „European Defence
Industrial Strategy“ (EDIS) recht konkrete Ziele, während das „European
Defence Industry Programme“ (EDIP) ergänzend die entsprechenden
Maßnahmen zur Umsetzung vorschlägt.[1] Es geht dabei um nicht weniger
als die Fähigkeit zur „Massenproduktion“ von Rüstungsgütern und den
forcierten Aufbau eines europäischen Rüstungskomplexes, um international
stärker in Konkurrenz treten und die eigenen Interessen „besser“
durchsetzen zu können. Dabei entbehrt es nicht einer gewissen Ironie,
dass ausgerechnet die ansonsten neoliberal bis ins Mark daherkommende
EU-Kommission damit Befugnisse erhalten will, um „Eingriffe in die
Grundrechte der Unternehmen“ (EDIP: Artikel 61) vornehmen zu können –
augenscheinlich stoßen die vielbeschworenen Freiheiten des Marktes bei
Aufrüstungsfragen inzwischen an ihre Grenzen. Parallel dazu betont der
zuständige Industriekommissar Thierry Breton, es gehe darum, dass sich
die EU schrittweise einer Kriegswirtschaft nähern und bei Bedarf der
militärischen Produktion ein Vorrang vor ziviler Produktion einräumen
müsse. Kriegswirtschaft, das bedeutet nichts weiter als alle Bereiche
der Produktion und Wirtschaft dem Bedarf des Krieges unterzuordnen.
Diese Programme sind also eine vorauseilende Maßnahme, die deutlich
machen, wohin die Reise in der EU geht.
1. EDIS: Fähigkeit zur Massenproduktion
Weil es der EU-Vertrag verbietet, militärische Ausgaben der Gemeinsamen
Sicherheits- und Verteidigungspolitik aus dem EU-Haushalt zu bestreiten,
tarnt die EU-Kommission entsprechende Vorhaben mittlerweile als
industriepolitische Maßnahmen. Auf dieser – rechtlich mehr als
fragwürdigen – Grundlage wurde 2021 der Europäische Verteidigungsfonds
ins Leben gerufen, über den die Erforschung und Entwicklung von
Rüstungsgütern zwischen 2021 und 2027 mit zunächst rund 8 Mrd. Euro aus
dem EU-Haushalt unterstützt wird.[2]
Voriges Jahr kamen dann noch die Programme zur Ankurbelung der
europäischen Munitionsproduktion (engl. ASAP) und zur Finanzierung
länderübergreifender Rüstungskäufe (engl. EDIRPA) dazu. Obwohl der
EU-Haushalt damit – erneut unter dem Banner der Industriepolitik – auch
erstmals für die Finanzierung der Produktion und den Ankauf von
Rüstungsgütern aufgehebelt wurde, haben beide Programme noch den
„Schönheitsfehler“, dass sie sowohl zeitlich (bis 2025) als auch
finanziell mit 500 Mio. Euro (ASAP) bzw. 300 Mio. Euro (EDIRPA)
limitiert sind.
Nun soll mit der am 5. März 2024 veröffentlichten „European Defence
Industrial Strategy“ also der nächste große Wurf gelingen. Dabei handelt
es sich um eine gemeinsame Kommunikation der EU-Kommission und des
EU-Außenbeauftragten an das EU-Parlament und den Rat, die einen
allgemeinen Rüstungsrahmen absteckt. Hierfür werden zunächst
vermeintliche Defizite identifiziert und anschließend Ziele formuliert,
was künftig in Sachen Rüstungspolitik unternommen werden soll.
Dringender Handlungsbedarf in Sachen Aufrüstung sei dabei allein schon
aus dem Grund angezeigt, weil sich die Europäische Union von anderen
Akteuren direkt bedroht sehe: „Die regelbasierte internationale Ordnung
wird in ihrem Kern bedroht, und in der Nachbarschaft der Union und
darüber hinaus gibt es Länder, die zunehmend von Spannungen,
Instabilität, hybriden Bedrohungen und bewaffneten Konflikten betroffen
sind. Strategische Wettbewerber investieren massiv in militärische
Fähigkeiten, Kapazitäten der Verteidigungsindustrie und kritische
Technologien, während die Integrität unserer Lieferketten und der
ungehinderte Zugang zu Ressourcen nicht mehr als selbstverständlich
angesehen werden können.“ (EDIS: S. 2)
Vor diesem Hintergrund seien die massiven Zuwächse der Rüstungsbudgets
zwar zu begrüßen, als zentrales Problem wird aber identifiziert, dass
die daraus resultierenden Aufträge vor allem ins Ausland gingen: Seit
dem russischen Angriff auf die Ukraine stammten 78 Prozent aller neuen
Rüstungsgüter aus Ländern außerhalb der EU, allein 63 Prozent der
Aufträge würden die USA einstreichen (EDIS: S. 3f.).
Als zentrale Ursache hierfür wird – im Übrigen schon seit vielen Jahren
– der fragmentierte europäische Rüstungssektor gesehen, der sich auf
zahlreiche Einzelstaaten und viele kleine bis mittlere Unternehmen
verstreue: „Die anhaltende industrielle Fragmentierung entlang
nationaler Trennlinien ist ebenfalls ein Hemmnis für die optimale
Effizienz der Verteidigungsinvestitionen. Diese Tendenzen haben eine
vergleichsweise deutlich geringere Größe und Präsenz des
EU-Verteidigungsmarkts auf der Weltbühne sowie verstärkte Abhängigkeiten
von Drittländern zur Folge, wodurch die Fähigkeit der EDTIB
[rüstungsindustrielle Basis], ihr Gewicht zur Geltung zu bringen,
beeinträchtigt wird. […] Da unsere Industrie in begrenzten Mengen für
kleinere nationale Märkte produziert, leidet sie unter einem
Wettbewerbsnachteil gegenüber Akteuren aus Drittländern.“ (EDIS: S. 6
und 16)
Um hier Abhilfe zu schaffen, sollen mit EDIS künftig „die Bemühungen der
Mitgliedstaaten, mehr, besser, gemeinsam und in Europa zu investieren,
verstärkt und unterstützt werden“ (EDIS: S. 2). Weniger gilt hier als
mehr: Eine Reduzierung der zahlreichen einzelstaatlichen Aufträge auf
wenige länderübergreifende Großvorhaben soll die gewünschten hohen
Stückzahlen liefern, um so vor allem mit der US-Konkurrenz auf Augenhöhe
um Wettbewerbsanteile ringen zu können. Gleichzeitig muss dann aber die
Industrie in die Lage versetzt werden, die entsprechenden Auftragsmengen
auch bedienen zu können: „Die Verteidigungsbereitschaft erfordert also
mehr Zusammenarbeit und gemeinsames Handeln. In Zeiten von
Kriegshandlungen mit hoher Intensität bedarf dies der Fähigkeit,
Verteidigungsgüter wie Munition, Drohnen, Luftabwehrraketen und
-systeme, Tiefschlag- sowie Nachrichtengewinnungs-, Überwachungs- und
Aufklärungsfähigkeiten in großem Umfang herzustellen und ihre rasche und
ausreichende Verfügbarkeit zu gewährleisten. Um diese Massenproduktion
zu ermöglichen, muss die Organisation der Verteidigungsindustrie
weiterentwickelt werden. […] Eine Industrie, die in neue Kapazitäten
investiert und bereit ist, bei Bedarf zu einem für Kriegszeiten
geeigneten Wirtschaftsmodell überzugehen, ist von entscheidender
Bedeutung.“ (EDIS: S. 4 und 8)
Allerdings sei man von dem bereits 2007 ausgegeben Ziel, mindestens 35
Prozent der Rüstungsgüter durch länderübergreifende Programme zu
beschaffen, mit derzeit 18 Prozent meilenweit entfernt. Vor allem aber
müsse der Anteil innereuropäisch vergebener Rüstungsaufträge von derzeit
22 Prozent massiv ansteigen: „Die Mitgliedstaaten werden aufgefordert,
stetige Fortschritte bei der Beschaffung zu erzielen, um bis 2030
mindestens 50 % und bis 2035 60 % ihrer Verteidigungsinvestitionen in
der EU zu tätigen.“ (EDIS: S. 18)
Dies alles soll bewusst zu Konzentrationsprozessen und einer verstärkten
Monopolbildung im Rüstungsbereich führen. Wie eingangs bereits
angedeutet, gilt dies als Königsweg, um im Zeitalter der „Wiederkehr der
Konkurrenz großer Mächte“ (Ursula von der Leyen) den eigenen Interessen
unter Rückgriff auf „einheimische“ Waffen „besser“ Nachdruck verleihen
zu können.
2. Beschaffung: Rüstung ohne Mehrwertsteuer
Wie ebenfalls bereits angedeutet, dockt das am selben Tag erschienene
Industrieprogramm EDIP an diesen allgemeinen EDIS-Rahmen an und legt
konkrete Vorschläge vor. In Form einer Verordnung würden diese nach der
noch ausstehenden Zustimmung des Parlaments und des Rats mit sofortiger
Wirkung geltendes Recht in allen EU-Mitgliedsstaaten werden.
Was die angestrebten europäischen Großprogramme anbelangt, stellt sich
augenscheinlich aber das Problem, dass viele Köche den Rüstungsbrei
verderben. Das zeigt allein schon ein Blick in die Rüstungsberichte des
Verteidigungsministeriums, in denen über Verspätungen und
Kostensteigerungen informiert wird. In ihnen nehmen europäische
Kooperationsprogramm regelmäßig Spitzenplätze ein, so weist das
Transportflugzeug Airbus A400 eine Verspätung von 195 Monaten und
Kostensteigerungen von 1,6 Mrd. Euro aus – nicht viel besser sieht es
beim Eurofighter (mit AESA) aus, der zwar „nur“ 63 Monate zu spät, dafür
aber 9 Mrd. Euro teurer als geplant ist.[3]
Diese Liste ließe sich nahezu beliebig fortsetzen, worin auch das
Industrieprogramm ein wesentliches Hindernis für die Anbahnung
europäischer Großprogramme sieht. „Kooperationsprogramme im
Rüstungsbereich“ seien mit „Komplexität, Verzögerungen und
Kostenüberschreitungen behaftet“, weshalb es eines neuen Ansatzes
bedürfe, „einen neuen Rechtsrahmen - die Struktur für das Europäische
Rüstungsprogramm (SEAP) […], um die Zusammenarbeit im
Verteidigungsbereich zu unterstützen und zu stärken.“ (EDIP: Artikel 31)
Diese Struktur für das Europäische Rüstungsprogramm (engl. SEAP) soll
künftig länderübergreifende Beschaffungsprojekte harmonisieren und
vereinfachen, vor allem aber sollen darüber finanzielle Anreize gesetzt
werden, sich überhaupt mit mindestens drei anderen EU-Mitgliedern (oder
der Ukraine oder assoziierten Staaten) beim Einkauf zusammenzutun: „Im
Rahmen dieser Struktur für das europäische Rüstungsprogramm sollte es
für die Mitgliedstaaten standardisierte Verfahren für die Einleitung und
Verwaltung von Kooperationsprogrammen im Verteidigungsbereich geben. Bei
einer Zusammenarbeit innerhalb dieses Rahmens sollten für die
Mitgliedstaaten unter bestimmten Bedingungen auch ein erhöhter
Finanzierungssatz, vereinfachte und harmonisierte Beschaffungsverfahren
und – wenn die Mitgliedstaaten gemeinsam Eigentümer der beschafften
Ausrüstung sind – eine Mehrwertsteuerbefreiung vorgesehen werden.“
(EDIP: Artikel 32)
Während sich direkte Bezuschussungen aufgrund des – zunächst einmal –
noch relativ kleinen EDIP-Budgets von 1,5 Mrd. Euro noch in finanziell
halbwegs überschaubaren Dimensionen abspielen dürften, ist die Option
zur Befreiung von der Mehrwertsteuer von großer Tragweite, besonders da
sie den gesamten Lebenszyklus eines Rüstungsgutes umfassen soll. So
wurde in der kürzlich veröffentlichten Greenpeace-Studie „Flug ins
Ungewisse“ am Beispiel des Luftkampfsystems FCAS auf Berechnungen
hingewiesen, denen zufolge die Erforschung und Entwicklung (7%) nur
einen vergleichsweise geringen Teil der Gesamtkosten verursachten,
während die Beschaffung (28%) sowie Betrieb und Unterhalt (64%) deutlich
höher zu Buche schlagen würden. Daraus würden sich bei geschätzten
Entwicklungskosten zwischen 50 und 100 Mrd. Euro und unter
Berücksichtigung einiger weiterer Faktoren Gesamtkosten
(„Lebenszykluskosten“) zwischen 1.100 und 2.000 Mrd. Euro ergeben.[4]
Vor diesem Hintergrund könnte sich die Mehrwertsteuerbefreiung als
überaus attraktiver Hebel für die Anbahnung europäischer
Beschaffungsprogramme erweisen, was wiederum Konzentrationsprozesse und
die Herausbildung eines europäischen Rüstungskomplexes forcieren soll.
Während also eine Mehrwertsteuerreduzierung auf Lebensmittel oder
elementare Bereiche der Daseinsvorsorge ausgeschlossen werden, möchte
man eine indirekte Subvention auf den Erwerb und Betrieb von
Rüstungsgütern gewähren, indem die Mehrwertsteuer hier entfallen soll.
3. Produktion: Eingriffe in die „Grundrechte“ der Unternehmen
Was die Herstellung von Rüstungsgütern anbelangt, sollen unter anderem
finanzielle Anreize zur Ausweitung und zum Vorhalten großer
Produktionskapazitäten gegeben werden – und im Gegensatz zu ASAP soll
sich dies nun nicht mehr allein auf die Munitionsherstellung beschränken:
Aus dem Programm sollte […] finanzielle Unterstützung für Maßnahmen
bereitgestellt werden, die zur zeitnahen Verfügbarkeit und Lieferung von
Verteidigungsgütern beitragen, […] einschließlich Reservierung und
Lagerung von Verteidigungsgütern, Zugang zu Finanzmitteln für an der
Herstellung maßgeblicher Verteidigungsgüter beteiligte Unternehmen, das
Vorhalten von Fertigungskapazitäten (ständig einsetzbare Einrichtungen),
industrielle Verfahren zur Aufbereitung veralteter Produkte, die
Ausweitung, Optimierung, Modernisierung, Verbesserung oder Umwidmung
vorhandener oder die Schaffung neuer Produktionskapazitäten in diesem
Bereich sowie die Schulung von Personal.“ (EDIP, Artikel 19[5])
Allerdings gehen die Pläne der Kommission noch weit hierüber hinaus.
Ganz entgegengesetzt zu ihren üblichen Gepflogenheiten scheint sie
bereit zu sein, im Rüstungssektor die Freiheit des Marktes und die der
auf ihm operierenden Unternehmen empfindlich einzuschränken: „Die
Vermeidung von Engpässen bei maßgeblichen Verteidigungsgütern ist von
wesentlicher Bedeutung, um das im Allgemeininteresse liegende Ziel der
Sicherheit der Union und ihrer Mitgliedstaaten zu wahren, und
rechtfertigt erforderlichenfalls verhältnismäßige Eingriffe in die
Grundrechte der Unternehmen, die krisenrelevante Güter bereitstellen,
wie die unternehmerische Freiheit gemäß Artikel 16 der Charta und das
Eigentumsrecht gemäß Artikel 17 der Charta nach Maßgabe des Artikels 52
der Charta.“ (EDIP: Artikel 61)
Die Kommission will künftig alle Daten erheben, um mögliche Engpässe
frühzeitig erkennen und möglichst beheben zu können. Sollte dies
misslingen, will die Kommission – bei Ausrufung eine Versorgungskrise –
den Unternehmen faktisch vorschreiben können, was sie wie für wen zu
produzieren haben: „Um sicherzustellen, dass die Betriebskontinuität
kritischer Sektoren in Krisenzeiten gewährleistet bleibt, und nur wenn
dies für diesen Zweck erforderlich und verhältnismäßig ist, könnten als
letzte Möglichkeit einschlägige Unternehmen von der Kommission dazu
verpflichtet werden, Aufträge für krisenrelevante Güter anzunehmen und
vorrangig zu behandeln. […] Die Verpflichtung zur Priorisierung sollte
jeder anderen Erfüllungsverpflichtung nach privatem oder öffentlichem
Recht vorgehen, ausgenommen Verpflichtungen, die direkt mit
Militäraufträgen verbunden sind […].“ (EDIP: Artikel 62)
Eine Art Vorfahrt für die Rüstungsproduktion ist symptomatisch für den
Schwenk Richtung einer Kriegswirtschaft, in der Staat, Krieg und
Wirtschaft immer enger miteinander verschmelzen: "Aktiviert der Rat
diese Maßnahme […] kann ein Mitgliedstaat, der aufgrund von bestehenden
oder ernstlich drohenden Knappheiten bei krisenrelevanten Gütern
entweder bei der Erteilung eines Auftrags zur Versorgung mit
Verteidigungsgütern oder bei dessen Ausführung mit gravierenden
Schwierigkeiten konfrontiert ist oder konfrontiert sein könnte, wenn
diese Schwierigkeiten die Sicherheit der Union und ihrer Mitgliedstaaten
untergraben können, die Kommission ersuchen, ein Unternehmen
aufzufordern, bestimmte Aufträge über krisenrelevante Güter anzunehmen
oder vorrangig zu behandeln (im Folgenden ‚vorrangige Ersuchen‘). Diese
Ersuchen dürfen nur Verteidigungsgüter betreffen.“ (EDIP: Artikel 50)
Was diese Passagen in letzter Konsequenz bedeuten könnten, bringt
Spiegel Online folgendermaßen auf den Punkt: „Mit anderen Worten:
Notfalls sollen EU-Firmen gezwungen werden können, ihre Produktion
umzustellen. Selbst die Beschlagnahme von Rüstungsgütern erscheint unter
diesen Umständen nicht ausgeschlossen.“[6]
4. 2028ff.: „Ehrgeizige Finanzausstattung“?
Zweifellos sind die neuen Kommissionspläne überaus ambitioniert –
besonders die zunächst einmal überschaubaren Finanzmittel dürften dem
ganzen einstweilig allerdings noch gewisse Grenzen setzen. Doch auch
dies soll sich bald ändern: "Im Hinblick auf das Ausmaß der
Anstrengungen, die erforderlich sind, um die industrielle Bereitschaft
im Verteidigungsbereich in der gesamten Union sicherzustellen, sind
diese Mittel als eine – vom Umfang her begrenzte – Brücke zum nächsten
mehrjährigen Finanzrahmen [MFR] zu betrachten. In Anbetracht dessen,
dass die sicherheitspolitischen Herausforderungen, mit denen Europa
konfrontiert ist, wahrscheinlich bestehen bleiben werden, ist es umso
wichtiger, dass der nächste MFR für den Zeitraum ab 2028 eine
ambitionierte Finanzausstattung für die Verteidigung mit entsprechenden
Haushaltsmitteln für die Nachfolgeinstrumente des Europäischen
Verteidigungsfonds und des EDIP umfasst.“ (EDIS: S. 29.)
Schon länger geistert die Idee eines umfangreichen EU-Rüstungsbudgets
durch die Gegend.[7] Prominent wurde sie bereits im Januar 2024 von
Industriekommissar Thierry Breton im Zusammenhang mit der geplanten
Vorstellung von EDIS und EDIP aufgegriffen: „Um sicherzustellen, dass
die gesamte Industrie mehr und mehr zusammenarbeitet, brauchen wir
Anreize […]. Ich glaube, dass wir einen riesigen Verteidigungsfonds
brauchen, um zu helfen, ja sogar zu beschleunigen. Wahrscheinlich in der
Größenordnung von 100 Milliarden Euro.“[8]
5. Übergriffig?
Gerade weil die Ambitionen der Kommission recht weitgehend sind, ist es
noch fraglich, ob es überhaupt zur Verabschiedung der EDIP-Verordnung
kommt, was vor allem von der Zustimmung der im Rat versammelten Staats-
und Regierungschefs abhängt.
Dass die Vorhaben der Kommission nicht auf ungeteilte Zustimmung stoßen,
zeigt sich allein schon daran, dass deren ursprünglich für November 2023
geplante Veröffentlichung gleich mehrfach mutmaßlich aufgrund von
Einwänden der Mitgliedsstaaten, verschoben werden musste. Die kleinen
und mittleren Mitgliedsstaaten befürchten die Dominanz deutscher und
französischer Rüstungsinteressen, während die wiederum einen zu starken
Einfluss der Kommission wittern. Schließlich fällt die Außen- und
Sicherheitspolitik in den Verantwortungsbereich der Staaten, Versuchen
der Kommission, Kompetenzen auf diesem Feld zu ergattern, wird
traditionell äußerst misstrauisch begegnet: „Tatsächlich gibt die
Kommission in ihrer Rüstungsindustrie-Strategie sich selbst eine
zentrale Rolle. So will sie eine Art Oberaufsicht über die
Rüstungsindustrien in den Mitgliedsländern führen, indem sie ein
»Mapping« der Rüstungslieferketten in den Staaten durchführt. […] Zwar
will die Kommission mit den EU-Staaten in einem Ausschuss zusammenkommen
und dessen »Rat und Meinung« einholen. Allerdings beansprucht sie dort
selbst den Vorsitz – gemeinsam mit dem EU-Staat, der gerade die
halbjährlich rotierende Ratspräsidentschaft innehat. In Berlin etwa
lehnt man die »Mapping«-Idee der Kommission strikt ab. […] Die Krise in
der Versorgung mit kritischen Rüstungsgütern soll, man ahnt es, die
Kommission ausrufen dürfen – auch wenn die Mitgliedsländer dann das
letzte Wort haben. […] »Übergriffig« sei es, was die Behörde von Ursula
von der Leyen plane, sagen mehrere Diplomaten. Verteidigung sei Sache
der EU-Staaten, die Kommission habe ihnen nicht hineinzureden.“[9]
So stehen hinter der abschließenden Verabschiedung der ehrgeizigen
Kommissionsvorschläge noch einige Fragezeichen, die generelle Richtung,
in die sich die Europäische Union bewegt, ist aber eindeutig: In eine
Kriegswirtschaft!
Das bedeutet auch, dass wir auf eine kriegerische Zeit vorbereitet
werden, die weder Europa noch die Welt sicherer machen wird. Wenn wir
nicht wollen, dass Europa ein Kontinent der permanenten Aufrüstung und
Kriegsgefahr wird, sollten wir die Lehre aus zwei Weltkriegen
verteidigen. Und diese lautet, dass wir keine Militärunion brauchen,
sondern dass wir den Einsatz für Abrüstungsverträge und
Friedensverhandlungen erhöhen müssen.
Diese Analyse ist eine erweiterte und aktualisierte Fassung eines
Beitrags, der zuerst in zwei Teilen bei Telepolis erschien.
Anmerkungen
[1] Konkret geht es um folgende Dokumente: GEMEINSAME MITTEILUNG AN DAS
EUROPÄISCHE PARLAMENT, DEN RAT, DEN EUROPÄISCHEN WIRTSCHAFTS- UND
SOZIALAUSSCHUSS UND DEN AUSSCHUSS DER REGIONEN: Eine neue europäische
Industriestrategie für den Verteidigungsbereich: Erreichen der
Verteidigungsbereitschaft der EU durch eine reaktionsfähige und
resiliente europäische Verteidigungsindustrie, JOIN(2024) 10 final,
Brüssels, den 5.3.2024 und Vorschlag für eine VERORDNUNG DES
EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES zur Einrichtung des Programms für
die europäische Verteidigungsindustrie und eines Rahmens für Maßnahmen
zur Gewährleistung der zeitnahen Verfügbarkeit und Lieferung von
Verteidigungsgütern (EDIP), COM(2024) 150 final, Brüssel, den 5.3.2024.
[2] Siehe hierzu das im Auftrag der damaligen Linksfraktion am 30.
November 2018 veröffentlichte „Rechtsgutachten zur Illegalität des
Europäischen Verteidigungsfonds“ von Andreas Fischer-Lescano.
[3] Bundesministerium der Verteidigung: 18. Bericht des
Bundesministeriums der Verteidigung zu Rüstungsangelegenheiten, Januar 2024.
[4] Pletsch, Marius: FCAS: Flug ins Ungewisse. Die teure Odyssee des
Future Combat Air Systems, Greenpeace, 21.12.2023.
[5] Allem Anschein nach sollen auch Vorschriften aller Art außer Kraft
gesetzt werden können: „Um das allgemeine Gemeinwohlziel der Sicherheit
zu verfolgen, ist es erforderlich, dass Produktionsanlagen für die
Herstellung maßgeblicher Verteidigungsgüter so schnell wie möglich
errichtet werden, wobei der Verwaltungsaufwand so gering wie möglich
gehalten werden muss. Aus diesem Grund sollten die Mitgliedstaaten
Anträge im Zusammenhang mit der Planung, dem Bau und dem Betrieb von
Produktionsstätten und -anlagen für maßgebliche Verteidigungsgüter so
zügig wie möglich bearbeiten. Diesen Anträgen sollte bei der Abwägung
rechtlicher Interessen im Einzelfall Vorrang eingeräumt werden.“ (EDIP:
Artikel 46)
[6] Wie die Kommission die EU auf Kriegswirtschaft umstellen will,
Spiegel Online, 4.3.2024. In Frankreich wird der Rüstungsindustrie
bereits ganz direkt mit Verstaatlichung gedroht: „Frankreich droht
seinen Rüstungskonzernen: Wenn sie nicht schneller produzieren, werden
sie vom Staat beschlagnahmt. Das hieße: Kriegswirtschaft.“ (Brändle,
Stefan: Rüstungsfirmen verstaatlichen: Frankreich erwägt
Kriegswirtschaft, Der Standard, 29.3.2024)
[7] Koenig, Nicole / Schütte, Leonard: Verteidigungswende jetzt!
Internationale Politik, 28.8.2023.
[8] Pugnet, Aurélie EU-Verteidigungsindustrie: Breton schlägt
100-Milliarden-Euro-Fonds vor, euractiv.com, 10.1.2024.
[9] Wie die Kommission die EU auf Kriegswirtschaft umstellen will,
Spiegel Online, 4.3.2024.
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