[IMI-List] [0654] IMI-Analyse: Umbau der Bundeswehr
IMI-JW
imi at imi-online.de
Fr Apr 5 15:03:37 CEST 2024
----------------------------------------
Online-Zeitschrift "IMI-List"
Nummer 0654 – 27. Jahrgang
----------------------------------------
Liebe Freundinnen und Freunde,
gestern wurden die Pläne zum Umbau der Bundeswehr präsentiert, die auf
Kriegstüchtigkeit getrimmt werden soll. Die Vorhaben sind potenziell
weitreichend, wie sich in der soeben erschienenen IMI-Analyse nachlesen
lässt:
IMI-Analyse 2024/21
Bundeswehr der Zeitenwende
Neue Führungsstrukturen sollen Truppe und Verwaltung kriegstüchtig machen
https://www.imi-online.de/2024/04/05/bundeswehr-der-zeitenwende/
Martin Kirsch (5. April 2024)
„Kriegstüchtigkeit als Handlungsmaxime“[1] – diese Aussage aus den
Verteidigungspolitischen Richtlinien aus dem November 2023 steht bisher
wie keine andere für die Marschrichtung, die Verteidigungsminister Boris
Pistorius der Bundeswehr verordnet hat. Am 4. April 2024 traten er,
Generalinspekteur Breuer und Staatssekretär Hilmer in Berlin vor die
Presse, um die Strukturreform für die „Bundeswehr der Zeitenwende“
vorzustellen.
Auch hier steht die sogenannte Kriegstüchtigkeit im Mittelpunkt. Die
Führungsstrukturen der Bundeswehr sollen schlanker, die Hierarchien und
Befehlsketten klarer und bisherige Doppelstrukturen abgebaut werden.
Ausgerichtet wird die neue Struktur an der US- und NATO-Doktrin namens
Multi-Domain-Operations. Dieses Konzept für Großmachtkriege der Zukunft
sieht eine enge Verzahnung der verschiedenen Dimensionen der
Kriegsführung vor.
Im Zentrum der militärischen Strukturen stehen daher die drei bereits
bestehenden Teilstreitkräfte Heer für die Dimension Land, Luftwaffe für
die Dimension Luft- und Weltraum und Marine für die Dimension See. Zudem
wird der bisherige Organisationsbereich Cyber- und Informationsraum
(CIR) für die gleichnamige Dimension zur vierten Teilstreitkraft
aufgewertet.
Alle weiteren dimensionsübergreifenden Strukturen der Bundeswehr werden
dem stellvertretenden Generalinspekteur unterstellt und grundlegend neu
organisiert. Alle Einsätze der Bundeswehr werden künftig aus einem
Operativen Führungskommando geführt. Die bisherigen
Organisationsbereiche Streitkräftebasis und Zentraler Sanitätsdienst
verlieren hingegen ihre Eigenständigkeit und gehen in einem neuen
Unterstützungskommando der Bundeswehr auf.
Neben den Streitkräften beinhaltet die aktuelle Reform auch die
Vorbereitung der Bundeswehrverwaltung auf einen potenziellen Kriegsfall.
Um Verwaltungsaufgaben, die bisher von Soldat*innen übernommen wurden,
an zivile Angestellte abzugeben, sollen im Bereich Infrastruktur, Umwelt
und Dienstleistungen (IUD) eigene Einheiten geschaffen werden, die den
Kampftruppen der Teilstreitkräfte zugeordnet werden. Besonders brisant
sind allerdings die Reformansätze im Bereich des Personalwesens. Hier
sollen jetzt Strukturen geschaffen werden, die in die Lage wären,
künftige Musterungen bis hin zur Wiedereinführung eines Wehrdienstes zu
verwalten.
Von Kopf bis Fuß – Reformschritte im Halbjahrestakt
Pistorius wird nachgesagt, dass ihm an seinem ersten Arbeitstag als
Verteidigungsminister ein Organigramm des Hauses vorgelegt wurde, das
ihm, als erfahrenem Verwaltungsmenschen, Rätsel aufgab. Ob diese von ihm
selbst verbreitete Erzählung so zutrifft oder bereits eine erste
Vorbereitung der Untergebenen auf anstehende Reformen war, wird wohl
sein Geheimnis bleiben. Klar ist allerdings mittlerweile, dass Pistorius
zu Ende bringen will, was seine beiden Vorgängerinnen mit
Reformvorschlägen, Eckpunkten und Prüfaufträgen begonnen hatten.[2] Eine
grundlegende Reform der Strukturen von Verteidigungsministerium und
Bundeswehr unter der von ihm vorgegebenen Maßgabe der Kriegstüchtigkeit.
Die Umsetzung startete Mitte April 2023 mit der Ankündigung eines neuen
Planungs- und Führungsstabs im Verteidigungsministerium,[3] der bereits
Ende Mai 2023 seine Arbeit aufnahm. Dieser direkt dem Minister
unterstellte neuen Stab sollte dem Minister einen besseren Zugriff auf
die Strukturen im Verteidigungsministerium ermöglichen, das zuvor als
kaum kontrollierbar galt. Kritik kam vom Verband der Beamten und
Beschäftigten der Bundeswehr, der das Primat der Politik durch einen den
zivilen Staatssekretär*innen vorgeschalteten Stab unter militärischer
Führung gefährdet sieht.
Auf die Veröffentlichung der Verteidigungspolitischen Richtlinien[4] am
9. November 2023, in der die „Kriegstüchigkeit“ in einem
Regierungsdokument festgeschrieben wurde, folgte unmittelbar der nächste
Reformschritt. Am 11. November 2023 stellte Verteidigungsminister
Pistorius seine Pläne für den Umbau des Ministeriums vor.[5] Die rund
200 bis 300 frei werdenden Dienstposten sollen für Aufgaben der unteren
Ebenen in Truppe und Bundeswehrverwaltung eingesetzt werden.
Parallel zum Umbau des Verteidigungsministeriums folgte die Vorbereitung
des nächsten Reformschritts. Zum 8. Dezember 2023 wurde im Ministerium
eine Arbeitsgruppe eingerichtet, um Reformvorschläge für die künftige
Struktur der Bundeswehr zu erarbeiten. Laut dem im März 2024 von
Fachmedien veröffentlichten internen Bericht „Bundeswehr der Zukunft -
Projektgruppe Struktur Bundeswehr“[6] sollte die Arbeitsgruppe unter
Berücksichtigung bisheriger Untersuchungen „ergebnisoffen Organisations-
und Strukturentscheidungen sowie bestehende Kommandos und Ämter [...]
hinterfragen sowie Kriegstüchtigkeit als übergeordnetem Maßstab für die
Eignung der Vorschläge“ anlegen. Ziel war es, dem Verteidigungsminister
bis Ostern 2024 einen konkreten Plan vorzulegen. Geführt wurde die
Arbeitsgruppe von Zweisternegeneral Andreas Hoppe, der nach Vollendung
seiner Aufgabe zum 1. April 2024 zum neuen, jetzt noch mächtigeren,
stellvertretenden Generalinspekteur der Bundeswehr befördert wurde.[7]
In besagtem Bericht bereits angekündigt ist der Auftrag an die künftigen
vier Inspekteure von Heer, Luftwaffe, Marine und Cyber- und
Informationsraum sowie die zwei Kommandeure von Operativem
Führungskommando und Unterstützungskommando bis Oktober 2024 Pläne für
die Reform der ihnen unterstellten Bereiche vorzulegen. Die jetzt
folgende Weiterentwicklung und Feinausplanung sollen unter den aus dem
Ministerium vorgegebenen Maßgaben „Aufwuchsfähigkeit, Skalierbarkeit,
Dynamikrobustheit, Digitalisierung (Zukunftstechnologie,
Operationsführung) Informationsüberlegenheit und Kriegsversorgung“[8]
stattfinden. Bis April 2025 dürften die Strukturen der Bundeswehr damit
binnen zwei Jahren einmal von Kopf bis Fuß auf Kriegstüchtigkeit durch
reformiert sein.
Ein Operatives Führungskommando für alle Einsätze
Unterhalb des stellvertretenden Generalinspekteurs wird es künftig ein
Operatives Führungskommando der Bundeswehr geben. Die „Planung und
operative Führung [aller Einsätze] der Bundeswehr aus einer Hand“ ist
laut Minister Pistorius dessen Aufgabe.[9]
Dafür werden das bisherige Einsatzführungskommando, zuständig für alle
Auslandseinsätze von Out-of-Area bis Bündnisverteidigung an der
NATO-Ostflanke, und das erst im Oktober 2022 neu aufgestellte
Territoriale Führungskommando für Einsätze im Inland, von
Katastrophenhilfe bis Aufmarschplanung und Landesverteidigung,
zusammengelegt.
Der Minister verspricht sich dadurch ein „360-Grad Lagebild“ in einer
übergreifenden Operationszentrale, die somit auch das Ministerium in
allen Fragen zu Einsätzen der Bundeswehr beraten kann.[10] Zudem soll
das Operative Führungskommando zentraler Ansprechpartner sowohl für die
NATO als auch für Bundes- und Landesbehörden wie u.a. THW und
Polizeibehörden sein.
Im Zentrum des neuen Kommandos steht allerdings die „Planung des
übergeordneten Kräfteansatzes für militärische Einsätze“.[11] Nach dem
Vorbild der drei Joint Force Command der NATO weist dieses neue
Führungskommando den vier Teilstreitkräften Einsatzaufgaben zu und klärt
in diesem Prozess auch, welche Unterstützungsleistungen aus dem neuen
Unterstützungskommando der Bundeswehr den Teilstreitkräften für ihre
konkreten Einsätze zugeordnet werden. Sollte es in diesem Prozess zu
Streitigkeiten zwischen den Spitzengenerälen kommen, wird eine
Entscheidung durch den stellvertretenden Generalinspekteur getroffen.
Um sich auf die Führung von Einsatzaufgaben zu konzentrieren, werden die
Truppenteile, die bisher dem Territorialen Führungskommando zugeordnet
waren, weitestgehend dem neuen Unterstützungskommando zugeordnet.[12]
Allein die 16 Landeskommandos mit ihren Verbindungsstrukturen in die
Bundesländer, Regierungsbezirke und Kommunen bleiben dem neuen
Operativen Führungskommando zugeordnet.
Diese Zentralisierung von Führungsaufgaben in einem Kommando bringt
einen sehr mächtigen Dreisternegeneral an dessen Spitze hervor. So
mächtig, dass selbst der oberste Soldat der Bundeswehr,
Generalinspekteur Carsten Breuer, zwischenzeitig Bedenken über die Macht
des Kommandeurs des Operativen Führungskommandos geäußert haben soll.[13]
Vier Teilstreitkräfte für vier Dimensionen des Krieges der Zukunft
Der Logik der Aufgabenverteilung in militärische Dimensionen folgend
wird es künftig vier Teilstreitkräfte geben, die jeweils die
Verantwortung für Überwachung und Kriegführung in dieser Dimension
tragen und einem Inspekteur unterstellt sind.
Dem Heer mit Verantwortung für die Dimension Land werden neben den
bisher unterstellten Einheiten künftig auch die Heimatschutzkräfte der
Bundeswehr zugeordnet, weil sie der Organisationslogik entsprechend in
der Dimension Land agieren werden. Forderungen aus dem Kommando Heer,
auch Unterstützungskräfte wie Sanitätsdienst und Logistik den
Landstreitkräften zuzuordnen, wurde nicht entsprochen. Selbst die in dem
Vorlagenpapier aus dem Ministerium geplante Zuordnung der
Fähigkeitskommandos für Feldjäger, ABC-Abwehr und CIMIC
(Zivil-Militärische-Zusammenarbeit) findet nicht statt. In der
Pressekonferenz begründet der Minister die Zuordnung dieser Kräfte in
das neue Unterstützungskommando auf Nachfrage neben dem Mangel an
Ressourcen in diesem Bereich und der Zugänglichkeit für die anderen
Teilstreitkräfte auch mit der Priorität der heeresinternen Umstellung
auf einsatzbereite Divisionen ab 2025.[14]
Die Luftwaffe, die spätestens mit der Aufstellung des neuen
Weltraumkommandos im April 2023 sowohl für den Luft- als auch den
Weltraum verantwortlich ist, wird um zwei weitere Kommandos aufgestockt.
Dabei handelt es sich sowohl um das bisher direkt dem Ministerium
unterstellte Luftfahrtamt der Bundeswehr als auch um ein aufgrund von
EU-Vorgaben neu zu gründendes Common Airworthyness Monitoring
Organisation der Bundeswehr (CAMOBW). Zweitere ist für ein
„harmonisiertes Regelwerk für Zulassung, Herstellung und Betrieb von
Luftfahrzeugen (Lfz), die sogenannten European Military Airworthiness
Requirements (European Military Airworthiness Requirements)“[15]
zuständig. „Mit dieser Strukturreform macht die Luftwaffe einen großen
Schritt in Richtung Kriegstüchtigkeit. Alles für die Einsatzbereitschaft
unserer Luftfahrzeuge nun aus einer Hand“, sagt der Inspekteur der
Luftwaffe, Ingo Gerhartz, dazu gegenüber der Süddeutschen Zeitung.[16]
Kritik an der Unterstellung des Luftfahrtamtes unter die Luftwaffe wird
allerdings laut, weil das Amt mit der Aufgabe betraut ist, die
Flugsicherheit zu prüfen. Sollte die Unabhängigkeit des Luftfahrtamtes
durch den Unterstellungswechsel angetastet werden, käme dies einem TÜV
gleich, der dem Chef einer Autovermietung unterstellt wäre. Zudem dürfte
der Luftwaffe im kommenden Reformprozess der unteren Ebenen die größte
Umstrukturierung bevorstehen, weil sich dort besonders viele Generäle
auf hohen Ebenen, weit weg von der tatsächlichen Truppe tummeln.
Für die Marine bringt die Strukturreform, außer dem Erhalt des Zugriffs
auf Unterstützungskräfte über das neue Unterstützungskommando, wenig
neues. Mit der Veröffentlichung eines „Zielbild Marine 2035+“ hatten die
Seestreitkräfte allerdings bereits im März 2023 relevante Teile des
jetzt für Land- und Luftstreitkräfte anstehenden Planungsprozesses für
die unteren Ebenen bereits vorweggenommen.
Größter Gewinner der aktuellen Strukturreform dürfte der bisherige
Organisationsbereich Cyber- und Informationsraum(CIR) sein, der zu einer
eigenständigen Teilstreitkraft aufgewertet wird. Dieser erst 2017
gegründete Bereich der Bundeswehr ist neben der Sicherung von
Führungsfähigkeit (IT-Bataillone), die für die künftige Vernetzung von
Waffensystemen zentral sein wird, laut Minister auch für die „Analyse
hybrider Bedrohungen“ wie Desinformation und Cyberangriffe zuständig.
Die Fähigkeiten des CIR, mit dem Zentrum Cyberoperationen und dem
Zentrum Operative Kommunikation selbst Cyberangriffe und
Propagandakampagnen bzw. der Bundeswehr genehme Desinformation
durchführen zu können, wird dabei gezielt verschwiegen. Zudem ist CIR
auch für die sogenannte „Aufklärung und Wirkung im Feld“ durch
elektronische Kriegsführung mit Abhörantennen und Störsendern zuständig.
Damit erfüllt CIR mit der Verantwortung für und der Operationsführung im
Cyber- und Informationsraum die neue Definition für eine
Teilstreitkraft. Einen internen Reformprozess mit dem Ziel der
gesteigerten Einsatzfähigkeit hat die neue Teilstreitkraft in den
letzten zwei Jahren unter dem Titel „CIR 2.0“ bereits durchlaufen.[17]
Ein zentrales Unterstützungskommando
„Im Unterstützungskommando sind die Fähigkeiten gebündelt, die in allen
Dimensionen gebraucht werden“, verkündete Minister Pistorius auf der
Pressekonferenz zur Strukturreform.[18]
Konkret verlieren die beiden bisherigen Organisationsbereiche
Streitkräftebasis und Zentraler Sanitätsdienst, die als Dienstleister
für die Auslandseinsätze der Bundeswehr geschaffen wurden, ihre
Inspekteure und damit ihre Eigenständigkeit. Zusammen verschmelzen sie
zu einem neuen Unterstützungskommando, das die Verwaltungsaufgaben für
alle dimensionsübergreifenden Fähigkeitskommandos übernimmt. Die
Mangelressourcen, die von allen vier Dimensionen gebraucht werden, sind
die Sanitätsversorgung der Bundeswehr sowie die Kommandos für Logistik,
Feldjäger, ABC-Abwehr und CIMIC (Zivil-Militärische-Zusammenarbeit).
Neben dem Streitkräfteamt und dem Planungsamt der Bundeswehr, die bisher
der Streitkräftebasis bzw. direkt dem Ministerium unterstellt waren,
sollen auch die Bereiche in das neue Unterstützungskommando
eingegliedert werden, die bisher dem Territorialen Führungskommando
unterstellt waren. Darunter fallen neben den Truppenübungsplätzen der
Bundeswehr auch die deutschen Anteile des für EU-Missionen ausgelegten
Multinationalen Kommando Operative Führung und dem Joint Support and
Enebaling Command (JSEC) der NATO, die beide in Ulm beheimatet sind,
sowie der Deutsche Militärische Vertreter (DMV) beim
NATO-Militärausschuss und der EU in Brüssel.
Ob es allerdings dauerhaft bei der Zentralisierung von raren
Unterstützungsleistungen in einem Kommando bleiben soll, bleibt offen.
Während Generalinspekteur Breuer auf der Pressekonferenz zur
Strukturreform argumentiert, dass das zentrale Kommando vorteilhaft
wäre, um die unterstellten Fähigkeitskommandos
teilstreitkräfteübergreifend weiterzuentwickeln, macht Minister
Pistorius andere Andeutungen. Auf Nachfrage einer Journalistin spricht
er davon, dass der Mangel an Unterstützungskräften, der es nicht erlaubt
allen Teilstreitkräften genügend davon zur Verfügung zu stellen, in den
nächsten Jahren behoben werden solle.[19] Ob damit bereits Pläne gemeint
sind, die Bereiche Sanität, Logistik, Feldjäger und ABC-Abwehr in den
nächsten Jahren massiv auszubauen, bleibt allerdings im Unklaren.
Bis dahin wird das Operative Führungskommando für konkrete Missionen die
Bedarfe der Teilstreitkräfte nach Unterstützungskräften priorisieren und
entsprechende Zuteilungen vornehmen. Sollte es darüber zum Konflikt
zwischen den Teilstreitkräften kommen liegt die endgültige Entscheidung,
wie bereits angedeutet, beim stellvertretenden Generalinspekteur, dem
sowohl das Operative Führungskommando als auch das
Unterstützungskommando unterstellt sind.
Kriegsbereite Bundeswehrverwaltung – Strukturen für Wehrdienst in
Vorbereitung
Neben den Streitkräften soll im Rahmen der aktuellen Strukturreformen
auch die Wehrverwaltung kriegstüchtig gemacht werden. Im Zentrum stehen
die Dezentralisierung der Strukturen, eine größere Nähe zur Truppe und
die Fähigkeit, sich spontan auf eine vorbereitete Struktur für den
Verteidigungsfall umzustellen.
Für den Bereich Rüstung (BAAINBw) wurde ein Maßnahmenpaket mit 70
Punkten erarbeitet. Neben der schnelleren Beschaffung stehen die
„Unterstützung der Industriepartner beim Aufbau einer resilienten und
durchhaltefähigen Rüstungswirtschaft“, die Gewährleistung der
Ausrüstungsnutzung auch bei Aussetzung ziviler Vorgaben und die
„Festlegung von Mindestbevorratungsmengen“ für Ausrüstung und Handwaffen
für eine mögliches massenhaftes Einziehen von Reservist*innen im
Vordergrund. Hinzu kommt eine noch engere Verzahnung des Rüstungsamtes
mit der Ministeriumsabteilung für Cyber- und Informationstechnik und der
Teilstreitkraft CIR für die „Optimierung der Beschaffung und Nutzung der
IT-Services der Bundeswehr“.[20]
Deutlich größere Veränderungen stehen allerdings in den Bereichen
Infrastruktur und Dienstleistung (BAIUDBw) und Personal (BAPersBw) an.
"Wir haben bei den Strukturen mitgedacht, dass es zur Wiedereinführung
einer wie auch immer gearteten Wehr-/Dienstpflicht kommen könnte", sagt
Pistorius auf der Pressekonferenz zur Strukturreform.[21] Die aktuell
stark zentralisierte Personalverwaltung der Bundeswehr soll dafür wieder
Strukturen in der Fläche erhalten. Als erster Schritt dazu sollen
unterhalb des Personalamtes mit Sitz in Köln vier regionale
Personalzentren entstehen, die im Fall der Fälle auch die Aufgaben des
jeweils anderen Zentrums übernehmen können. „Die Regionalzentren werden
auch ‚Keimzellen‘ für diejenigen Strukturen, die im Ernstfall die
personelle Aufwuchsfähigkeit sicherstellen.“[22] Unabhängig von einer
künftigen politischen Entscheidung über die Wiedereinführung einer Wehr-
oder Dienstpflicht sollen diese Personalzentren die „Vorbereitung und
Prüfung von Wehrerfassungs- und Musterungsprozessen, um eine
verpflichtende Einberufung zum Wehrdienst verwaltungsseitig bewältigen
zu können“, in Gang setzen. Das sei bereits jetzt nötig, weil eine
Wiedereinführung der Wehrpflicht im Spannungs- oder Verteidigungsfall
auch nach aktueller Gesetzeslage automatisch passieren würde. Damit
bereitet Pistorius erste Schritte, mindestens zur flächendeckenden
Musterung von Jugendlichen, die ihm ohnehin als Ziel vorschwebt, auf der
Verwaltungsseite bereits vor.
Den größten Umbauprozess wird es allerdings im Bereich Infrastruktur,
Umwelt und Dienstleistung (IUD) geben. Auch hier soll der starken
Zentralisierung entgegengewirkt werden. Dazu werden Stellen für
Landesbeauftragte geschaffen, die den Kontakt zwischen
Bundeswehrverwaltung mit den zivilen Strukturen der Bundesländer und den
dort verorteten Truppen der Bundeswehr halten sollen. Für den
Verteidigungsfall bereitet das Amt zudem mobile Verwaltungsteams,
sogenannte Embedded Support Organizations (ESO) vor. Diese
Verwaltungsteams sollen in der Lage sein, auch der kämpfenden Truppe auf
den Ebenen Division bis Bataillon bis ins Feld zu folgen, um den
Soldat*innen Verwaltungsaufgaben abzunehmen und sie so kampffähiger zu
machen. Zudem ist das BAIUDBw beauftragt, wieder Strukturen für den
„Vollzug von Versorgungs- und Sicherstellungsgesetzen“ aufzubauen,[23]
wie sie in der alten Wehrverwaltung des Kalten Krieges vorhanden waren.
Bei den Versorgungs- und Sicherstellungsgesetzen handelt es sich um
einen Teil der 1968 gegen massive Proteste verabschiedeten
Notstandsgesetzen für den Spannungs- und Verteidigungsfall. Damit
sichert sich der Staat im Kriegsfall privilegierten Zugriff auf
Rohstoffe und Dienstleistung bis hin zur Beschlagnahmung von
„verteidigungsrelevanten“ zivilen Gütern wie LKW. Des Weiteren soll das
Bauwesen der Bundeswehr in die Lage versetzt werden bei besonders
wichtigen Infrastrukturprojekten (Schnelläuferprojekten) Teile der
Aufgaben der überlasteten zivilen Bauverwaltung der Bundesländer zu
übernehmen, um die Baufortschritte für die Truppe zu garantieren. Und zu
guter oder schlechter Letzt sollen wieder Strukturen zur Bewertung der
militärischen Nutzbarkeit von ziviler Infrastruktur im Spannungsfall und
zur dezentralisierten Lagerung von Versorgungsgütern wie militärischen
Essensrationen geschaffen werden.[24]
Diese Änderungen im Bereich der Wehrverwaltung machen mehr als deutlich,
dass es Minister Pistorius mit seiner Strukturreform um die tatsächliche
und konkrete Vorbereitung für einen potenziellen Kriegsfall geht. Die
damit einhergehende Militarisierung der Gesellschaft, bereits durch
diese Vorbereitungen, dürfte allerdings weitaus früher spürbar werden.
Strukturen für einen lauwarmen Krieg
Während die Umbaumaßnahmen in der Wehrverwaltung an eine Reaktivierung
der Denke des Kalten Krieges erinnern, sprechen die Umstrukturierung der
Truppe eher für eine Ausrichtung auf ein Kriegsbild der hoch vernetzten,
digitalisierten Kriegsführung der Zukunft. Sinnbildlich dafür steht die
Aufwertung des Bereichs Cyber- und Informationsraum zur Teilstreitkraft
bei gleichzeitiger Eingliederung der verhältnismäßig zivil geprägten
Bereiche Logistik und Sanitätsdienst unter straffe militärische
Kommandostrukturen.
In der Pressekonferenz führt Minister Pistorius aus: „Es gibt kaum noch
eine Gefechtssituation in der Ukraine, wo nicht digitale
Führungsfähigkeit eine zentrale Rolle spielt, dass ein Gefecht
erfolgreich bestritten werden kann.“[25] Und Generalinspekteur Breuer
ergänzt: „Darüber hinaus würde es mir überhaupt nicht ausreichen, wenn
wir in Anführungszeichen nur auf den Krieg in der Ukraine schauen. Das
ist für mich eher das, was im Moment State-of-the-Art ist. […] Die
gesamte Struktur ist so angelegt, dass wir auch Anknüpfungspunkte weiter
nach vorne haben werden. Und genau darum muss es gehen. Das wir Krieg
weiter denken als das, was wir im Moment machen.“[26]
Damit spielen Breuer und Pistorius auf ein militärisches Konzept an, das
die gesamte Strukturreform prägt, auch wenn es nicht explizit benannt
wird – Multi-Domain-Operations (MDO). Dieses Konzept für die vernetzte,
digitalisierte und eng verzahnte Kriegsführung der Zukunft wurde Ende
der 2010er Jahre maßgeblich von US-General David G. Perkins
entwickelt.[27] Ausgehend von der vorherigen US-Doktrin der vernetzten
Kriegsführung von Land- und Luftstreitkräften (Land-Air-Operations) soll
es für die Großmachtkonkurrenz der Zukunft eine enge Vernetzung der fünf
militärischen Dimensionen, Land, Luft, See, Weltraum und Cyberspace
geben. So könnten in der Vorstellung der Militärplaner auch militärisch
ebenbürtige Gegner bezwungen werden. Dafür müssten die eigenen
Streitkräfte die Fähigkeiten besitzen, die gegnerische Verteidigung in
allen fünf Dimensionen gleichzeitig zu bedrohen, um so in mindestens
einer Dimension einen Durchbruch zu erringen, der den Raum für ein
Vorstoßen auch in den anderen Dimensionen eröffnet.
Laut der reinen Lehre von General Perkins gibt es nur Phasen der
Konkurrenz und der offenen Konfrontation, die dann wiederum von einer
weiteren Phase der Konkurrenz abgelöst würden. Friedenszeiten sind in
dieser Denke quasi ausgeschlossen, weil es permanent vonnöten sei, die
feindlichen Systeme auszuspähen und zu testen. Sei es durch verdeckte
und offene Cyberangriffe, durch Überflüge von Kampf- und
Aufklärungsflugzeugen entlang der gegnerischen Linien oder das Kreuzen
von Schiffen durch Seegebiete, die vom Gegner als eigenes Territorium
angesehen werden.
Wer die Phase der Konkurrenz nicht nutzt, verliert in der Phase der
Konfrontation. Ziel sei es aber, in der Phase der Konfrontation schnell
die Oberhand zu gewinnen, um damit die Bürde der
weiteren Eskalation auf die nächsthöhere Stufe (im Extremfall bis zum
Atomschlag) dem Gegner zuzuschieben. Im Idealfall könne so unter den
eigenen Bedingungen in die nächste Phase der Konkurrenz eingetreten werden.
Bereits auf der Land-Warfare Conference 2018 in London, auf der sich
Generäle aus über 40 Staaten über die Kriegsführung der westlichen
Alliierten nach 2025 austauschten, sprach der deutsche General Frank
Leidenberger, ein persönlicher Freund von US-General Perkins, mit
besonderem Blick auf Cyberattacken davon, dass Deutschland sich bereits
in einem “lukewarm war” (dt. lauwarmen Krieg) befinde. Die politische
Klasse sei allerdings nicht bereit, diese Realitätswahrnehmung zu
teilen.[28]
In den letzten Jahren haben NATO[29] und Bundeswehr[30] sich ebenfalls
dem Konzept der Multi-Domain-Operations verschrieben. So heißt es in
einer zwanzigseitigen Broschüre des Planungsamtes der Bundeswehr von
November 2023: „Das Erreichen einer MDO-Befähigung der Bundeswehr wird
eine Generationenaufgabe sein. Sie wird im Kontext des sehr fordernden
Kriegsbilds der Zukunft über die Bedeutung der Bundeswehr im Bündnis und
ihre Fähigkeit zur bündnisgemeinsamen Verteidigung entscheiden.“[31]
Die vor sechs Jahren von General Leidenberger getroffene Aussage scheint
sich damit jeweils zur Hälfte bewahrheitet und überholt zu haben. Den
aktuellen Stellvertreterkrieg zwischen Russland und NATO auf dem
Territorium der Ukraine und die massive Aufrüstung auf beiden Seiten
lassen sich aus der Perspektive der Großmächte durchaus als lauwarmer
Krieg beschreiben – mit tödlichen Kämpfen in der Ukraine, aber unterhalb
der Schwelle der direkten Konfrontation der Atommächte. Die Perspektive
der politischen Klasse in Deutschland darauf scheint sich allerdings in
relevanten Teilen geändert zu haben. Die aktuelle Strukturreform der
Bundeswehr, die bis Frühjahr 2025 abgeschlossen sein soll, atmet die
Luft der Multi-Domain-Operations und fußt auf der von Pistorius
ausgegebenen Maßgabe der Kriegstüchtigkeit.
Auch wenn die Vorbereitungen in diese Richtung auf Hochtouren laufen
dürfen wir uns nicht damit abfinden, uns in einem lauwarmen Krieg
einzurichten, der eine Option auf tatsächlichen Frieden in Europa nicht
nur auf Jahre, sondern auf Jahrzehnte verunmöglichen dürfte.
Anmerkungen
[1]Bundesministerium der Verteidigung (BMVg): Verteidigungspolitische
Richtlinien 2023, November 2023, Seite 27, bmvg.de.
[2]Siehe: IMI-Studie 2021/05, Martin Krisch: Bundeswehr der Zukunft -
Eckpunkte für den Kalten Krieg 2.0, 26.05.21, imi-online.de und Spiegel
Online: Lambrecht legt Reformvorschläge für Bundeswehr vor, 05.01.23,
spiegel.de.
[3]BMVg: Schneller zur Zeitenwende: Pistorius schafft neuen Planungs-
und Führungsstab, 20.04.23, bmvg.de.
[4]BMVg: Verteidigungspolitische Richtlinien 2023, November 2023, bmvg.de.
[5]BMVg: Minister Pistorius stellt Pläne zur Organisationsreform vor,
10.11.23, bmvg.de.
[6]BMVg: Interner Bericht – Bundeswehr der Zukunft – Projektgruppe
„Struktur Bundeswehr“, März 2023, via esut.de.
[7]Siehe Organigramm des BMVg, Stand 01.04.24, bmvg.de.
[8]Aus dem Schreiben des Ministers an die Fraktionsvorsitzenden im
Bundestag zu der Strukturreform, 04.04.24, Abrufbar via augengeradeaus.net.
[9]Boris Pistorius: Pressekonferenz im BMVg zur Bundeswehr der
Zeitenwende, 04.04.24, ab Minute 2:40, Abrufbar via ZDFheute
Nachrichten, youtube.com.
[10]Ebd.
[11]Ebd.
[12]Darunter fallen das Wachbataillon beim BMVg, die
Truppenübungsplätze, das Multinationale Kommando Operative Führung und
der deutsche Anteil des NATO-Logistikkommandos JSEC.
[13]Angelika Hellemann und Julian Röpcke, Bild: Es gibt Ärger mit den
Bundeswehr-Chefs – Pistorius will die GENERALüberholung – Ziel ist
Kriegstüchtigkeit, 24.02.24, bild.de.
[14]Boris Pistorius: Pressekonferenz im BMVg zur Bundeswehr der
Zeitenwende, 04.04.24, Abrufbar via ZDFheute Nachrichten, youtube.com.
[15]Luftwaffe, Bundeswehr: Internationale Standards erleichtern die
Zusammenarbeit, 16.03.23, bundeswehr.de.
[16]Sina-Maria Schweikle, Süddeutsche Zeitung: Neue Bundeswehr-Struktur
– Führung aus einer Hand, 04.04.24, sueddeutsche.de.
[17]Cyber- und Informationsraum, Bundeswehr: Sonderheft CIR 2.0 – Von
der Idee zur Dimension, 02.11.22, bundeswehr.de.
[18]Sina-Maria Schweikle, Süddeutsche Zeitung: Neue Bundeswehr-Struktur
– Führung aus einer Hand, 04.04.24, sueddeutsche.de.
[19]Boris Pistorius: Pressekonferenz im BMVg zur Bundeswehr der
Zeitenwende, 04.04.24, ab Minute 27, Abrufbar via ZDFheute Nachrichten,
youtube.com.
[20]BMVg: Interner Bericht – Bundeswehr der Zukunft – Projektgruppe
„Struktur Bundeswehr“, März 2023, Seiten 26-27, via esut.de.
[21]Sina-Maria Schweikle, Süddeutsche Zeitung: Neue Bundeswehr-Struktur
– Führung aus einer Hand, 04.04.24, sueddeutsche.de.
[22]BMVg: Interner Bericht – Bundeswehr der Zukunft – Projektgruppe
„Struktur Bundeswehr“, März 2023, Seiten 28, via esut.de.
[23]BMVg: Interner Bericht – Bundeswehr der Zukunft – Projektgruppe
„Struktur Bundeswehr“, März 2023, Seiten 25, via esut.de.
[24]Ebd.
[25]Boris Pistorius: Pressekonferenz im BMVg zur Bundeswehr der
Zeitenwende, 04.04.24, ab Minute 24, Abrufbar via ZDFheute Nachrichten,
youtube.com.
[26]Carsten Breuer: Pressekonferenz im BMVg zur Bundeswehr der
Zeitenwende, 04.04.24, ab Minute 25, Abrufbar via ZDFheute Nachrichten,
youtube.com.
[27]Congressional Research Service: Defense Primer - Army Multi-Domain
Operations (MDO), 22. April 2021, fas.org. und U.S. Army: TRADOC
Pamphlet 525-3-1 – The U.S. Army in Multi Domain Operations in 2028, 06.
Dezember 2018, api.army.mil.
[28]U.S. Army Professional Forum: Contemporary Military Forum #8 -
Converged & Integrated Solutions for the Future, 13. Oktober 2017, via
youtube.com.
[29]Allied Command Transformation, NATO: Multi-Domain Operations in NATO
– Explained, 05.10.23, act.nato.int.
[30]Planungsamt, Bundeswehr: Deutsche Gesellschaft für Wehrtechnik
e.V.-Tagung: Multi-Domain Operations - Herausforderungen aus der
Nutzerperspektive, 03.11.22, bundeswehr.de.
[31]Planungsamt der Bundesehr: Multi-Domain Operations für die
Bundeswehr – Eine kurze Einführung, November 2023, bundeswehr.de.
Mehr Informationen über die Mailingliste IMI-List