[IMI-List] [0611] Studie: Ukraine-Krieg & Drohnen / Analyse: Arktischer Rat / Weitere Texte
IMI-JW
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Di Apr 26 12:19:51 CEST 2022
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Online-Zeitschrift "IMI-List"
Nummer 0611 .......... 25. Jahrgang ........ ISSN 1611-2563
Hrsg.:...... Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.
Red.: IMI / Jürgen Wagner / Christoph Marischka
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Archiv: ....... http://www.imi-online.de/mailingliste/
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Liebe Freundinnen und Freunde,
in dieser IMI-List finden sich
1.) neue Texte (Anfeindungen gegen die Friedensbwegung, Blockaden gegen
den Krieg…);
2) eine neue IMI-Studie über Drohnen im Ukraine-Krieg;
3.) IMI-Analyse: Arktischer Rat
1.) Neue Texte
Der Friedensbewegung wurden im Vorfeld der diesjährigen Ostermärsche
wüste Anschuldigungen vor die Füße geworfen, mit denen sich zwei neue
Texte beschäftigen. Außerdem erschienen sind nun diverse Reden, die von
einzelnen RednerInnen der IMI auf den Ostermärschen gehalten wurde. Neu
ist auch ein Text über Anti-Ukraine-Kriegs-Blockaden in verschiedenen
Ländern.
IMI-Standpunkt 2022/019
Blockaden in Ost und West
Protest und Widerstand gegen die Logistik des Krieges
https://www.imi-online.de/2022/04/21/blockaden-in-ost-und-west/
Jan Hansen (21. April 2022)
Dokumentation
Warum Pazifismus gerade wichtiger denn je ist
https://www.imi-online.de/2022/04/25/warum-pazifismus-gerade-wichtiger-denn-je-ist/
(25. April 2022)
IMI-Standpunkt 2022/018
Anfeindung
Wer Frieden wünscht, ist naiv?
https://www.imi-online.de/2022/04/21/anfeindung/
Andreas Seifert (21. April 2022)
Dokumentation der Ostermärsche
IMI-Reden auf den Ostermärschen 2022
https://www.imi-online.de/2022/04/21/imi-reden-auf-den-ostermaerschen-2022/
(21. April 2022)
2.) Studie: Drohnen im Ukraine:Krieg
IMI-Studie 2022/03
Drohnen im Ukraine-Krieg
Technologietransfer als Gamechanger – und Kriegsgrund?
https://www.imi-online.de/2022/04/26/drohnen-im-ukraine-krieg/
Christoph Marischka (26. April 2022)
Einleitung
Was heute als Ukraine-Krieg bezeichnet wird, sind die Folgen des klar
völkerrechtswidrigen Einmarsches russischer Truppen ab dem 24. Februar
2022. In der Berichterstattung etablierter deutscher Medien erscheint er
tendenziell als eher konventionellen Krieg mit massivem Einsatz
klassischer Waffensysteme wie Panzer, Artillerie, Infanterie. Beide
Seiten nutzen dabei auch unbemannte Systeme, insbesondere Luftfahrzeuge,
so genannten UAV, die in vergangenen militärischen Auseinandersetzungen
teilweise grundlegend die Kriegführung geprägt und die
Kräfteverhältnisse bestimmt haben. So wird v.a. der Krieg zwischen
Armenien und Aserbaidschan im zweiten Halbjahr 2020 oft als erster
„echter Drohnenkrieg“ bezeichnet, weil entsprechende unbemannte
Waffensysteme der vorrückenden Seite (Aserbaidschan) eine deutliche
Übermacht verliehen und rasche Geländegewinne ermöglichten. Es
existieren auch zahlreiche Berichte, welche aus erster oder zweiter Hand
die dabei ausgelöste Angst und Panik innerhalb der angegriffenen Truppen
beschreiben. Später gab es vergleichbare Darstellungen aus Libyen und
Äthiopien, nach denen zumindest bei entscheidenden Gefechten UAV eine
wesentliche Rolle gespielt hätten. Im Folgenden wird der gegenwärtige
Einsatz von unbemannten Luftfahrzeugen ausführlicher beleuchtet und der
aktuelle Krieg ausschließlich unter diesem Aspekt betrachtet werden.
Dies hält allerdings einige Überraschungen parat.
INHALTSVERZEICHNIS
Einleitung
Türkische Drohnen als Game Changer?
TB2 im aktuellen Ukraine-Krieg
Kleine Drohnen der dubiosen Einheit „Aerorozvidka“
Springmesser aus den USA
Ukrainische Produkte und „Terminator-Drohnen“
Russische Drohnen: Wenig Berichte, magere Bilanz
Einschätzungen des Drohnenkrieges
Fazit
Anmerkungen
https://www.imi-online.de/2022/04/26/drohnen-im-ukraine-krieg/
3.) IMI-Analyse: Arktischer Rat
IMI-Analyse 2022/24
Arktische Ratlosigkeit
Der Krieg in der Ukraine stört die Kooperation in der Arktis
https://www.imi-online.de/2022/04/26/arktische-ratlosigkeit/
Ben Müller (26. April 2022)
Der Arktische Rat wurde von vier Mitgliedern des norwegischen Parlaments
für den Friedensnobelpreis 2022 vorgeschlagen. Die außergewöhnliche
Zusammenarbeit zwischen den arktischen Staaten inklusive Russlands zeige
die Notwendigkeit von Kooperation und Vertrauen zwischen Staaten in
einer Zeit, in der der Frieden in der Ukraine und in anderen Regionen
bedroht sei.[1] Das war Ende Januar 2022. Ein paar Wochen später
erklären sieben der acht Mitglieder im Arktischen Rat (alle außer
Russland), sie würden ihre Beteiligung an den Treffen des Gremiums
vorübergehend ruhen lassen.[2] Sie reagieren damit auf den russischen
Angriffskrieg in der Ukraine und den Umstand, dass Russland als
derzeitiger Inhaber des rotierenden Vorsitzes für die Ausrichtung der
Treffen zuständig ist.
Friedliche Kooperation in der Arktis
Der Arktische Rat wurde 1996 mit der Erklärung von Ottawa gegründet. Zu
seinen Mitgliedern zählen alle Staaten, die Territorium nördlich des
Polarkreises haben: Kanada, Dänemark (als Vertretung für Grönland),
Finnland, Island, Norwegen, Russland, Schweden und die USA. Hinzu kommen
sechs Dachverbände der indigenen Bevölkerung, die als ständige
Teilnehmer mit beratender Stimme beteiligt sind. Die Hauptarbeit findet
in Arbeitsgruppen statt, die mit unterschiedlichen Schwerpunkten darauf
hinwirken, die Arktis als Ort des konfliktarmen Zusammenlebens zu
erhalten und die arktische Umwelt zu schützen. In den Arbeitsgruppen
beteiligen sich auch eine Reihe von staatlichen und nicht-staatlichen
Akteuren, die im Arktischen Rat Beobachterstatus haben.[3]
Aus der Arbeit des Arktischen Rats sind drei völkerrechtlich
verbindliche Kooperationsabkommen hervorgegangen: zur Zusammenarbeit bei
Such- und Rettungseinsätzen in der Arktis (2011), zur Vorsorge und
Bekämpfung von Ölverschmutzungen (2013) und zur Verbesserung der
wissenschaftlichen Kooperation in der Arktis (2017). Hinzu kommen
Empfehlungen und Maßnahmen zur Verbesserung der arktischen
Lebensbedingungen, zum Aufhalten des Klimawandels oder zu nachhaltigem
Wirtschaften. Nur militärische Themen und harte Sicherheitsfragen sind
explizit ausgeschlossen. Diese Einschränkung mag entscheidend dazu
beigetragen haben, dass der Arktische Rat bisher angesichts von
zunehmenden geopolitischen Spannungen unbeschadet weiterarbeiten konnte.
So hat sich die allgemeine Verschlechterung der Beziehungen zu Russland
ab 2014 auf den Arktischen Rat kaum ausgewirkt. Zwar hatten die
Sanktionen, die einige Staaten als Reaktion auf die Eingliederung der
Halbinsel Krim in das russische Staatsgebiet erließen, auch Auswirkungen
auf die arktische Wirtschaft. Und das Ende der militärischen
Zusammenarbeit mit Russland betraf ebenfalls die Arktis, etwa mit dem
Abbruch von gemeinsamen Militärübungen oder dem Ende von Russlands
Teilnahme am Runden Tisch der Arktischen Sicherheitskräfte. Aber in
vielen anderen Bereichen gab es weiterhin rege Kooperation, so auch im
Arktischen Rat.[4]
Selbst die Phase der Trump-Administration in den USA konnte der
Arktische Rat erfolgreich überstehen. Bei seinem Treffen 2019 in
Finnland war zum ersten Mal keine gemeinsame Abschlusserklärung zu
Stande gekommen, da sich der amerikanische Außenminister Michael Pompeo
weigerte, ein Papier zu unterzeichnen, in dem das Wort „Klimawandel“
erwähnt wird.[5] Zuvor hatte Pompeo in einer streitlustigen Rede
chinesische Investoren und russische Militärs beschuldigt, sich nicht an
die Regeln eines fairen Wettbewerbs zu halten und die Arktis in eine
Kampfarena zu verwandeln, während Donald Trump ein paar Monate später
seinen Plan verkündete, Grönland zu kaufen.[6] Beim nächsten Treffen auf
Ministerebene des Arktischen Rats, das 2021 pandemiebedingt in kleinem
Rahmen in Island stattfand, war dann eine gewisse Erleichterung
festzustellen über die Rückkehr zur Diplomatie.[7]
Weitere Sanktionen gegen Russland
Während die Sanktionen gegen Russland von 2014 sich nur partiell auf die
Arktis auswirkten, betreffen die neuen Sanktionen nach dem 24.2.2022
jede Kooperation mit Russland in der Arktis. Der Rückzug von großen
Ölkonzernen wie BP, Equinor, Shell und ExxonMobil aus dem Geschäft mit
Russland kann russische Projekte zur Erschließung von Öl- und
Gasvorkommen in der Arktis stark behindern oder stoppen.[8] Auch der
französische Konzern TotalEnergies, der Anteile an den Gas-Projekten
„Yamal LNG“ und „Arctic LNG 2“ hält, hat nach Kritik angekündigt,
bestehende Lieferverträge auslaufen zu lassen und nicht weiter in
Russland zu investieren.[9] Für Russland gilt die Ausbeutung der
fossilen Energieressourcen in der Arktis allerdings als Motor der
wirtschaftlichen Entwicklung.
Durch die Sperrung von Lufträumen werden Begegnungen zwischen Menschen
in Russland und anderen Arktis-Staaten schwieriger. Die Sanktionen im
internationalen Geldverkehr erschweren länderübergreifende Kooperationen
zusätzlich. Und einseitige Berichterstattung schafft hohe Hürden, um
sich über die jeweils andere Position zu informieren. In Finnland und
Schweden gibt es auf einmal Meinungsumfragen, in denen sich eine
Mehrheit für den Beitritt zur NATO ausspricht.[10] Die beiden Staaten
kooperieren zwar bisher schon eng mit der NATO und können aufgrund ihrer
EU-Mitgliedschaft auch eigentlich nicht als „bündnisfrei“ bezeichnet
werden. Eine Mitgliedschaft in der NATO kann aber die Fronten weiter
verhärten und die Spannungen mit Russland in der Arktis verschärfen.
Kooperation gibt es zurzeit noch zwischen den USA und Russland bei der
Bewältigung von Notfällen in der Beringstraße[11] sowie zwischen den
Küsten- und Grenzwachen von Norwegen und Russland.[12] Außerdem erwägt
Norwegen, bei der Sperrung von Häfen für russische Schiffe Befreiungen
auszusprechen, um die engen Verflechtungen beim Fischfang in der
Barentssee fortführen zu können.[13]
Die Pause im Arktischen Rat wird von den sieben Staaten als
„vorübergehend“ bezeichnet. Sie nennen aber keine Kriterien, die erfüllt
sein müssen, um die Arbeit wieder aufzunehmen. Anders als beispielsweise
im Ostseerat, in dem die Mehrheit der Mitglieder einfach beschlossen
hat, die Mitgliedschaft Russlands auszusetzen,[14] entscheiden sich die
sieben Staaten hier dazu, ihre eigene Beteiligung auszusetzen, da der
Vorsitz im Arktischen Rat noch bis 2023 bei Russland liegt. Russland hat
die Erklärung der sieben Staaten mit Bedauern zur Kenntnis genommen und
möchte die Arbeit seines Vorsitzes jetzt inländischen Bedürfnissen in
der Arktis widmen.[15]
Die Dachverbände der indigenen Bevölkerungsgruppen reagieren
unterschiedlich auf die angekündigte Pause. Der Rat der Gwich'in, die in
Alaska und im Nordwesten Kanadas beheimatet sind, hat die gemeinsame
Pause begrüßt und seine Sorge um die Menschen in der Ukraine
ausgedrückt.[16] Der Inuit Circumpolar Council, dessen Mitglieder sich
über Alaska, Kanada, Grönland und Russland verteilen, zeigt sich besorgt
um die Zukunft des Arktischen Rats, der auf friedlicher Kooperation und
gegenseitigem Respekt beruhe.[17] Der Rat der Saami, die in der
europäischen Arktis über die Staaten Norwegen, Schweden, Finnland und
Russland verteilt leben, trägt die Pause mit und hofft, sie werde nicht
zu lange dauern.[18] Die russische Vereinigung der indigenen Völker des
Nordens hat dagegen am 1. März eine Unterstützungserklärung für Wladimir
Putin veröffentlicht[19] und verwendet auf ihrer Webseite offen das
Z-Symbol, das die Befürwortung der „militärischen Sonderoperation“
ausdrückt.
Strategien für eine Arktis ohne Arktischen Rat
Wenige Tage nach der erklärten Pause werden schon die ersten Pläne
vorgestellt, wie die Zusammenarbeit in der Arktis ohne Russland
weitergehen könnte. Timo Koivurova, Professor am Arktiszentrum der
Universität Lappland, vertritt die Ansicht, es sei nun Aufgabe der
sieben Staaten, die er „Arktische Sieben“ (A-7) nennt, den Arktischen
Rat ohne Russland weiterzuführen, selbst wenn Russland zurzeit den
Vorsitz habe. Die A-7 könnten die Regeln aus der Erklärung von Ottawa
kreativ auf die derzeitige Situation anwenden und davon ausgehen, dass
die Mitgliedschaft Russlands suspendiert sei. Auch wenn Russland in der
Arktis eine wichtige Rolle spiele, könnte seine Mitgliedschaft im
Arktischen Rat für lange Zeit ausgesetzt sein.[20] Die internationale
Kooperation könne allerdings langfristig von Fragen der militärischen
Sicherheit überschattet werden.[21]
Stefan Kirchner, ebenfalls Professor am Arktiszentrum der Universität
Lappland, sieht dagegen kaum noch Chancen für den Arktischen Rat.
Stattdessen schlägt er vor, der Nordische Ministerrat, dem die
skandinavischen Staaten Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und
Schweden sowie die autonomen Gebiete Grönland, Färöer und Åland
angehören, könne dessen Aufgaben übernehmen. Der Nordische Ministerrat
lasse sich leicht um Kanada und die USA erweitern, aber auch Staaten auf
der Pazifikseite, die die „gemeinsamen Werte“ teilen, könnten
aufgenommen werden, zum Beispiel Japan. Der „Nordic Plus“ genannte
Verbund könne dann auch von Erfahrungen aus anderen Bündnissen wie der
EU oder NATO profitieren. Unklar sei allerdings noch, wie die indigenen
Gruppen in Nordic Plus eingebunden werden können.[22]
Beide Vorschläge gehen darüber hinweg, dass Russland als größter
arktischer Staat etwa 53% der Küste des Arktischen Ozeans umfasst, und
dass rund die Hälfte der arktischen Bevölkerung in Russland lebt.
Entscheidungen über die Arktis sind daher ohne Russland kaum möglich.
Evan T. Bloom vom Polarinstitut des Wilson Center spricht sich deshalb
dafür aus, Russland Möglichkeiten zur Rückkehr in den Arktischen Rat
offen zu halten. Wenn die A-7 den Arktischen Rat ohne Russland
weiterführten, könnte das von Russland als Verstoß gegen die
regelbasierte Ordnung betrachtet und mit der dauerhaften Abwendung vom
Arktischen Rat beantwortet werden. Stattdessen sollten die A-7
untereinander möglichst intensiv kooperieren und Aufgaben des Arktischen
Rats weiterführen, soweit das ohne Russland möglich sei. Dabei sollten
sie aber offen lassen, ob ihre Kooperation als Fortführung des
Arktischen Rats oder unabhängig davon stattfinde.[23]
Bemerkenswert ist ein Kommentar von Elizabeth Buchanan, die als Expertin
für polare Geopolitik an einer australischen Militärhochschule arbeitet.
Sie verweist darauf, dass auch andere arktische Staaten unter Umgehung
der Vereinten Nationen Kriege geführt haben und deswegen nicht vom
Arktischen Rat ausgeschlossen wurden. Allein für die USA zählt sie seit
Bestehen des Arktischen Rats Irak, Afghanistan, Somalia, Jemen und
Syrien auf. Dänemark sei sogar zu Reparationszahlungen an irakische
Bürger verurteilt worden. Die Entscheidung für eine Pause sei zwar
moralisch verständlich, würde sich aber langfristig als katastrophal
herausstellen. Russland habe jetzt die Möglichkeit, weitere Akteure in
die Arktis einzuladen, zum Beispiel Indien, die Vereinigten Arabischen
Emirate oder Staaten aus dem ASEAN-Verbund. Strategisch sei es besser,
die Politik aus dem Arktischen Rat herauszuhalten und die Arktis als
Region mit niedriger Spannung in der bisherigen Konstellation zu
bewahren.[24]
Cornell Overfield vom Center for Naval Analyses, einem Thinktank der
US-Navy, widerspricht Buchanan. Der Ausschluss von Russland sei wichtig,
um eine klare Ablehnung von Angriffskriegen zu demonstrieren, auch wenn
dieses Verfahren aufgrund ungleicher Machtverteilung nicht perfekt sei,
wie die (fehlende) Reaktion auf den US-Einmarsch im Irak zeige. Die A-7
könnten die Politik nicht aus dem Arktischen Rat heraushalten und würden
bei jedem Treffen mit Statements gegen den russischen Krieg dem
Arktischen Rat mehr Schaden zufügen als die vereinbarte Pause. Der
Arktische Rat könne auch nicht verhindern, dass asiatische Staaten als
weitere Akteure in die Arktis drängen. Dort könnten sie allerdings
höchstens den russischen Teil stärker umkämpft machen, und das könnte
für die westlichen strategischen Interessen sogar vorteilhaft sein.[25]
Neue Akteure in der Arktis
Wie sich das Kräfteverhältnis in der Arktis durch die neuen
Wirtschaftssanktionen, die Ausgrenzung Russlands oder die Pause des
Arktischen Rats verändern wird, ist noch nicht absehbar. Aus dem Kreis
der Beobachterstaaten des Arktischen Rats gibt es allerdings schon die
ersten Interessenbekundungen, sich stärker in der Arktis einzumischen.
Im März 2022 hat Indien seine erste Arktis-Strategie veröffentlicht.
Ähnlich wie China möchte auch Indien durch seinen Beitrag zur
Polarforschung Wertschätzung erfahren und verweist auf seine Expertise
aus der Forschung im Himalaja – dem „dritten Pol“. Die Forschung in der
Arktis soll Indien ein besseres Verständnis des Klimawandels
verschaffen, um daraus Maßnahmen für die Ernährungssicherheit seiner
Bevölkerung abzuleiten. Aber auch die arktischen Rohstoffe finden
Indiens Interesse.[26] Indien betreibt eine Forschungsstation auf
Svalbard, hat aber bisher keinen eigenen Eisbrecher, um in der Arktis
Präsenz zu zeigen.[27]
In der Vergangenheit wurde bereits über einen möglichen Einstieg Indiens
bei der Finanzierung des russischen Öl-Projekts Wostok auf der
Taimyr-Halbinsel spekuliert.[28] Eventuell möchte Indien, das den
russischen Einmarsch in der Ukraine nicht verurteilt hat, westliche
Sanktionen in der Arktis kompensieren. Indien hat auch Interesse
gezeigt, Russland bei der Entwicklung der Nördlichen Seeroute zu
unterstützen.[29] Für Indien bringt der Weg durch die Arktis zwar keine
kürzeren Schifffahrtsrouten, aber möglicherweise verfolgt es die
Absicht, in der Arktis Einfluss zu gewinnen und China Konkurrenz zu
machen. Auf jeden Fall hat Russland ein Interesse daran, in der Arktis
nicht allein von China abhängig zu sein.[30]
Auch das britische Verteidigungsministerium hat im März 2022 ein neues
Strategiepapier für die Arktis vorgelegt. Darin kündigt Großbritannien
eine stärkere Militärpräsenz im Nordatlantik und in der Arktis an. Zum
Einsatz sollen vor allem Seefernaufklärungsflugzeuge vom Typ Poseidon
P-8A kommen, von denen die Royal Air Force neun Stück besitzt. Das
Papier erwähnt aber auch das eisgehärtete Patrouillenboot „HMS
Protector“, die Flugzeugträger „HMS Queen Elizabeth“ und „HMS Prince of
Wales“, die britischen F35 Kampfflugzeuge sowie bewaffnete MALE-Drohnen,
die ab 2024 zur Verfügung stehen sollen. Neben dem Schutz von kritischer
Infrastruktur und nationalen Interessen gehe es bei den Einsätzen auch
um die Freiheit der Schifffahrt und die Durchsetzung eines
regelbasierten internationalen Systems. Außerdem sollen bösartige
Verhaltensweisen angegriffen werden.[31]
Da Großbritannien die russischen Regeln für das Befahren der Nördlichen
Seeroute nicht anerkennt, könnte es zur Bekämpfung von „bösartigen
Verhaltensweisen“ in der Arktis schon bald zu provokativen See-Manövern
der britischen Marine kommen. Erst im September 2020 hatte eine
britische Fregatte eine Militärübung in der Barentssee unter Beteiligung
der USA, Norwegens und Dänemarks geleitet, worauf auch das
Strategiepapier an einer Stelle hinweist. Wie leicht es bei solchen
Manövern zu gefährlichen Zusammenstößen kommen kann, zeigt ein
Zwischenfall vom 23.6.2021 im Schwarzen Meer. Der britische Zerstörer
„HMS Defender“ wollte dort russische Hoheitsgewässer vor der Halbinsel
Krim nicht anerkennen, was zu einer heftigen Reaktion Russlands mit
Warnschüssen und Bombenabwürfen führte.[32]
Fazit mit Überlegungen zur regelbasierten Ordnung
Vom Grundsatz her ist es zu begrüßen, dass andere Staaten über den
russischen Angriffskrieg nicht einfach hinwegsehen, sondern dass sie auf
internationale Regeln verweisen, die eingehalten werden müssen. Zu
diesen Regeln zählt unter anderem, dass man Staatsgebiet nicht einfach
kauft (z.B. Grönland), und dass man andere Länder nicht mit Panzern und
Hyperschallraketen angreift (z.B. Ukraine). Für eine regelbasierte
Ordnung wäre es aber auch wichtig, diese Regeln gleich und gerecht
anzuwenden, also etwa auch die USA für ihren Angriffskrieg im Irak zu
sanktionieren.
Viele Staaten, die auf die Einhaltung von Regeln pochen und eine
regelbasierte Ordnung durchsetzen wollen, gehen dabei stillschweigend
davon aus, dass ihre Version der Regeln die einzig richtige ist. Aber
was bedeutet es denn, wenn die Arktischen Sieben die Regeln (hier:
Erklärung von Ottawa) jetzt „kreativ anwenden“ sollen? Oder was ist mit
Großbritannien und Russland, die die Regeln (hier:
UN-Seerechtsübereinkommen) ganz offensichtlich unterschiedlich
interpretieren? Und welche Regeln meinte eigentlich Michael Pompeo bei
seiner Rede 2019 in Rovaniemi?
Was folgt jetzt konkret für die Arktis? Klima- und Umweltschutzprogramme
werden ohne den Arktischen Rat wahrscheinlich schwieriger umzusetzen
sein, insbesondere dann, wenn sie für die gesamte Arktis gelten sollen.
Die indischen Ambitionen haben vermutlich keine großen Auswirkungen, die
Annäherung zwischen Indien und Russland dürfte aber denjenigen Staaten
missfallen, die Indien eigentlich für ein Bündnis gegen China gewinnen
wollen. Die Ankündigung Großbritanniens, als Ordnungsmacht im Hohen
Norden aufzutreten, ist dagegen geeignet, Spannungen, Konfliktpotential
und Militarisierung in der Arktis voranzutreiben.
Der Arktische Rat wird jedenfalls auch 2022 nicht mit dem
Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
Anmerkungen
[1]Trine Jonassen: The Arctic Council Nominated for the Nobel Peace
Prize, 2.2.2022 highnorthnews.com
[2]Joint Statement on Arctic Council Cooperation Following Russia’s
Invasion of Ukraine, 3.3.2022 state.gov
[3]About the Arctic Council, arctic-council.org
[4]Michael Byers: Crises and international cooperation: an Arctic case
study, 26.10.2017 doi.org/10.1177/0047117817735680
[5]Siri Gulliksen Tømmerbakke, Martin Breum: First Ever Arctic Council
Ministerial Meeting Without Joint Declaration, 7.5.2019 highnorthnews.com
[6]Michael Klare:The Pompeo Doctrine, 12.9.2019 tomdispatch.com
[7]Die Außenminister der USA und Russlands Antony Blinken und Sergej
Lawrow nutzten ihre erste Begegnung in Reykjavik sogar für einen fast
zweistündigen Austausch. „Konstruktive“ Gespräche – trotz Spannungen,
20.5.2021 tagesschau.de
[8]Melody Schreiber: Major oil companies and investors pull back from
Russian Arctic oil and gas, 5.3.2022 arctictoday.com
[9]Geert De Clercq, Shadia Nasralla: France's TotalEnergies to quit
Russian oil supply contracts, 22.3.2022 arctictoday.com
[10]Christina Boger: Ja zur NATO?, 11.4.2022 imi-online.de
[11]Yareth Rosen: Despite Ukraine war, US and Russia continue emergency
cooperation in the Bering Strait, 11.4.2022 arctictoday.com
[12]Astri Edvardsen: Norwegian-Russian Border Cooperation Works Well
Despite the War in Ukraine, 5.4.2022 highnorthnews.com
[13]Hilde-Gunn Bye: EU Proposes Closing Ports for Russian Vessels,
Norway May Make Some Exemptions, 7.4.2022 highnorthnews.com
[14]Russia suspended from Council of Baltic Sea States, 3.3.2022
regjeringen.no
[15]Gloria Dickie: Russian officials call Arctic Council boycott
„regrettable“, 4.3.2022 reuters.com
[16]Gwich'in Council International, 3.3.2022 gwichincouncil.com
[17]Statement from the Inuit Circumpolar Council concerning the Arctic
Council, 7.3.2022 inuitcircumpolar.com
[18]The Saami Council's statement on the Arctic Council Pause, 13.3.
2022 saamicouncil.net Eine eigenständige Erklärung der russischen
Sektion beklagt außerdem, dass die Saami als Teil der Zivilbevölkerung
in Russland von den Sanktionen stark getroffen werden, und dass das Volk
der Saami durch die Staatsgrenze jetzt viel stärler getrennt werde als
zuvor. 27.2.2022 saamicouncil.net
[19]Ассоциация КМНСС и ДВ РФ выступила в поддержку Президента нашей
страны В.В. Путина, 1.3.2022 raipon.info
[20]Timo Koivurova: The Arctic Council can continue without Russia,
10.3.2022 arctictoday.com
[21]Astri Edvardsen: Hard Security Focus May Once Again Come to Dominate
the Arctic, Researcher Fears, 29.3.2022 highnorthnews.com
[22]Stefan Kirchner: Nordic Plus: International Cooperation in the
Arctic Enters a New Era, 6.3.2022 polarconnection.org
[23]Evan T. Bloom: A new course for the Arctic Council in uncertain
times, 18.3.2022 arctictoday.com
[24]Elizabeth Buchanan: The Ukraine War: Arctic Council Steps into
Unchartered Territory, 15.3.2022 arcticcircle.org
[25]Cornell Overfield: Suspending participation in the Arctic Council is
tragic, but right, 8.4.2022 arctictoday.com
[26]Government of India: India's Arctic Policy, März 2022 moes.gov.in
[27]Bipandeep Sharma: High Time for India's First Polar Research Vessel,
25.11.2021 idsa.in
[28]Atle Staalesen: Arctic oil on the table as Indian Minister pays
visit to Russia, 3.9.2021 thebarentsobserver.com
[29]Peter B. Danilov: India Wants to Help Russia Develop Northern Sea
Route Into International Trade Artery, 7.9.2021 highnorthnews.com
[30]Sanbeer Singh Ranhotra: Russia officially makes India a major player
in the Arctic, as „Near-Arctic“ China watches helplessly, 24.7.2021
tfiglobalnews.com
[31]The UK's Defence Contribution in the High North, März 2022 gov.uk
[32]Christoph Gschoßmann: Mega-Geheimdienstpanne in England:
„HMS-Defender“-Dokumente hinter Bushaltestelle gefunden, 27.6.2021
merkur.de
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