[IMI-List] [0544] IMI-Kongress: Rüstung Digital / Analyse: INF-Vertrag / Neue Texte: AKK, Hannibal, Survival
IMI-JW
imi at imi-online.de
Mo Aug 5 15:12:56 CEST 2019
----------------------------------------------------------
Online-Zeitschrift "IMI-List"
Nummer 0544 .......... 22. Jahrgang ........ ISSN 1611-2563
Hrsg.:...... Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.
Red.: IMI / Jürgen Wagner / Martin Kirsch
Abo (kostenlos)........ IMI-List-subscribe at yahoogroups.com
Archiv: ....... http://www.imi-online.de/mailingliste.php3
----------------------------------------------------------
Liebe Freundinnen und Freunde,
in dieser IMI-List findet sich
1.) Die erste (grobe) Ankündigung des IMI-Kongresses 2019 (29.11.-1.12):
„Rüstung Digital“;
2.) neue Texte auf der Homepage: Zu Annegret Kramp-Karrenbauer, neuen
Informationen zum rechten „Hannibal-Komplex“ und der letzten
Bundeswehr-Youtube Serie „Survival“;
3.) eine IMI-Analyse zum Ende des INF-Vertrags und dem bevorstehenden
Neuen Wettrüsten.
1.) IMI-Kongress: Rüstung Digital
Die IMI-Mühlen mahlen manchmal leider nicht so schnell, wie wir uns das
selber wünschen würden. Aber jetzt stehen zumindest schon einmal das
Thema, wichtige Rahmendaten und ein (im Entwurf) Antext für den nächsten
IMI-Kongress:
IMI-Kongress 2019, 29.11. - 01.12., Tübingen, Schlatterhaus
Rüstung Digital – Neue Technologien für neue Großmachtkriege
Globale Konflikte treten in jüngster Zeit wieder vermehrt zwischen
diversen Großmächten auf. Dabei spielt der Wettlauf um die Führerschaft
bei militärisch relevanten Technologien eine besondere Rolle. Durch sog.
„Sprunginnovationen“, die vor der Konkurrenz zu entdecken und zu
implementieren sind, versprechen sich die Akteure den entscheidenden
Vorteil auf dem Schlachtfeld der Zukunft. „Digitalisierung“ ist dabei
nicht nur ein Modewort, sondern die Vision von einer umfassenden
Kampfwertsteigerung mit der Unterstützung durch künstliche Intelligenz.
Bestehende Rüstungsgüter vom Kriegsschiff und Flugzeug über den Panzer
bis hin zum einfachen Soldaten sollen vernetzt und mit Sensoren
ausgestattet werden, um in Echtzeit Lagebilder des Kampfgeschehens zu
erstellen und in die Kommandozentralen zu übermitteln. Dieses „gläserne
Gefechtsfeld“ soll die militärische Überlegenheit herbeiführen. Aktuelle
Rüstungsprojekte der Europäischen Union beabsichtigen darüber hinaus
eine Kooperation zwischen bemannten und unbemannten Waffensystemen (sog.
„manned-unmanned teaming“).
Die hiermit formulierten Ansprüche erfordern eine tiefgreifende
Umstrukturierung der Forschungslandschaft und der Rüstungsindustrie.
Digitale Systeme müssen in deutlich kürzeren Zyklen entwickelt,
getestet, beschafft und für den Einsatz bereitgestellt werden,
Wissenschaft, Industrie und Militär enger kooperieren. Mit der
Beschleunigung technologischer Innovationen in der Kriegführung geht ein
Trend vom „Erhalt der rüstungsindustriellen Basis“ zum Aufbau einer
„permanenten Kriegswirtschaft“ einher.
Programm ist noch in Arbeit…
2.) Neue Texte auf der IMI-Homepage
IMI-Standpunkt 2019/032
Weitere Erkenntnisse zum Hannibal-Komplex:
Auch Burschenschaften und Identitäre Bewegung Teil des rechten Netzwerks?
http://www.imi-online.de/2019/07/26/weitere-erkenntnisse-zum-hannibal-komplex/
Luca Heyer (26. Juli 2019)
IMI-Standpunkt 2019/031
Rüstungsministerin Annegret-Kramp Karrenbauer
Aufruf zu deutschlandweiten Gelöbnissen im Spätherbst
http://www.imi-online.de/2019/07/25/die-aufruestungsministerin-annegret-kramp-karrenbauer-wurde-vor-dem-bundestag-vereidigt/
Tobias Pflüger (25. Juli 2019)
IMI-Analyse 2019/24
Survival: Folgen nicht Führen – Die Bundeswehr mit neuer Serie auf
Rekrutenjagd
http://www.imi-online.de/2019/07/25/survival-folgen-nicht-fuehren-die-bundeswehr-mit-neuer-serie-auf-rekrutenjagd/
Liam Krüger (25. Juli 2019)
3.) IMI-Analyse zum INF-Vertrag und dem neuen Wettrüsten
IMI-Analyse 2019/25
Die Stunde der Kalten Krieger – Vom INF-Vertrag zum neuen Wettrüsten
http://www.imi-online.de/2019/08/05/inf-vertrag/
Jürgen Wagner (5. August 2019)
Im Folgenden handelt es sich um eine aktualisierte und erweiterte
Variante eines Artikels, der zuerst bei Telepolis, 3.8.2019 erschien.
Am 2. Februar 2019 kündigten die USA den INF-Vertrag zum Verbot
landgestützter Mittelstreckenraketen (Reichweite 500 bis 5500km) auf.
Nach einer sechsmonatigen Übergangsphase ist der Vertrag nunmehr
Geschichte und damit zerbröselt auch eine der letzten zentralen Säulen
der atomaren Rüstungskontrolle.
Mit einer Selbstverständlichkeit wird dabei aktuell Russland in den
Medien die Schuld hierfür in die Schuhe geschoben, das Land habe den
Vertrag durch die Stationierung des Marschflugkörpers 9M729
(NATO-Codename SSC-8) verletzt: „Russland trägt die alleinige
Verantwortung für das Ende des Vertrages“, so die simple Sichtweise von
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg.
Obwohl hier zumindest Zweifel angebracht sind, werden nun - nicht
zuletzt auch in Deutschland - auf Grundlage dieser "Gewissheit"
umfassende Rüstungsmaßnahmen gefordert, während gleichzeitig das
russische Angebot für ein Stationierungsmoratorium in den Wind
geschlagen wird.
Neue Raketen - Neue Aufrüstung
Wie üblich hat die westliche Version einige Schönheitsfehler: Erstens
argumentiert Russland, die Reichweite des 9M729-Systems liege unter
500km und nicht, wie von den USA behauptet, bei 2.000km, weshalb keine
Vertragsverletzung vorgelegen hätte; zweitens bot es
Vor-Ort-Inspektionen an, um etwaige Bedenken auszuräumen, was allerdings
von US-Seite ignoriert wurde; und drittens beschuldigt Russland
seinerseits die USA, Teile des in Osteuropa stationierten
Raketenabwehrsystems würden gegen den INF-Vertrag verstoßen.
Überraschenderweise stützte ausgerechnet der alles andere als
russlandfreundliche Chef der "Bundesakademie für Sicherheitspolitik"
(BAKS), Karl-Heinz Kamp, Anfang Juli 2019 die Sichtweise Moskaus, als er
bei "Streitkräfte & Strategien" (NDR) mit den Worten zitiert wurde: „Es
gibt ja Vorwürfe Russlands, dass die USA in ihren Starterhüllen für das
Raketenabwehrsystem ebenfalls Marschflugkörper verbotener Reichweite
verschicken könnten. Da sagen die Amerikaner: das geht nicht. Da geht
die Software nicht. Das erklärt sich selbst einem Laien, dass man eine
Software relativ einfach auswechseln kann.“
Das Verhalten der US-Regierung untermauerte wiederum Russlands Verdacht,
die USA seien primär darauf erpicht, den Vertrag zu versenken. Im
Deutschlandfunk etwa wurde der Verifikationsexperte Wolfgang Richter
zitiert, der angab, über die angebotenen Inspektionen hätten sich die
Zweifel aus dem Weg räumen lassen: „Das würde zumindest einmal erlauben,
das System zu überprüfen, die äußeren Dimensionen zu sehen, und von
daher abzuschätzen, handelt es sich um eine Langstreckenwaffe oder
nicht. Das Detail, also, wird die Rakete nur eine Reichweise von 480
Kilometern haben oder 520, dazu müsste man dann mehr wissen,
beispielsweise das Masseverhältnis zwischen Gefechtskopf und Tank. Aber
die unterstellte Abweichung ist eine sehr große, das könnte man alles
vor Ort feststellen.“
Vor diesem Hintergrund äußerte sich der stellvertretende Außenminister
Sergej Ryabkow, Russland wolle den Vertrag retten, aber "kürzliche
Ereignisse zeigen deutlich, dass gewisse Kräfte in den Vereinigten
Staaten nicht daran interessiert sind, uns die Möglichkeit zu geben,
ihre fehlerhaften oder gefälschten Informationen zu widerlegen".
China im Visier
Schon früh wurde verschiedentlich argumentiert, die USA hätten vor allem
auch mit Blick auf China ein Ende des INF-Vertrages gezielt
herbeigeführt, da Peking seinerseits mit relativ "billigen"
Mittelstreckenraketen aufrüstet, ohne an vertragliche Restriktionen
gebunden zu sein. Bereits im Februar 2019 beschrieb ein Kommentar in
der Neuen Osnabrücker Zeitung die diesbezüglichen Überlegungen
folgendermaßen: „Washington begründet die Kündigung des INF-Vertrags
damit, dass Moskau den Vertrag verletze. Wirklich? Natürlich kann das so
sein, doch die USA haben keine Beweise für einen russischen Verstoß
veröffentlicht. Es spricht auch nicht gerade für die US-Regierung, dass
sie russische Einladungen, den strittigen Marschflugkörper zu
begutachten, und Gesprächsangebote ausgeschlagen hat. Da drängt sich der
Verdacht auf, dass es den USA in Wirklichkeit um etwas anderes geht: um
die Möglichkeit, selbst neue Waffensysteme zu bauen und zur Abschreckung
zu stationieren, vor allem in Ostasien, ohne die lästigen Fesseln eines
Abrüstungsvertrags. Denn nicht Russland ist im Visier, sondern China.
Washington sieht sich durch den INF-Vertrag zunehmend ins Hintertreffen
geraten gegenüber Peking, seinem Dauergegner, der in diesen Vertrag
nicht einbezogen ist.“
Da passt es in Bild, dass Thomas G. Mahnken, ein ehemaliger
stellvertretender US-Verteidigungsstaatssekretär und heute beim "Center
for Strategic and Budgetary Assessments", erst vor wenigen Tagen die
Aufstellung konventioneller Mittelstreckenraketen im Indopazifik
forderte, um die chinesischen "Vorteile" wieder aufzuholen. Und
tatsächlich, nur einen Tag nachdem der INF-Vertrag ins Aus befördert
wurde, meldete die FAZ: „Die Vereinigten Staaten streben die baldige
Stationierung neuer konventioneller Mittelstreckenraketen in Asien an,
um dem zunehmenden militärischen Einfluss Chinas in der Region zu
begegnen. Die amerikanische Regierung wolle dies ‚so schnell wie
möglich‘ realisieren, wenn möglich innerhalb von Monaten, sagte der neue
amerikanische Verteidigungsminister Mark Esper am Samstag im Flugzeug
auf dem Weg nach Sydney. Washington war am Freitag formell aus dem
INF-Abrüstungsvertrag über nukleare Mittelstreckensysteme ausgeschieden.“
Die Entwicklung dementsprechender Raketensysteme wurde ebenfalls früh in
die Wege geleitet. So räumte US-Colonel Michelle Baldanza bereits im
März 2019 ein, die USA hätten mit "Fabrikationsaktivitäten begonnen",
die "bis zum 2. Februar nicht mit den US-Verpflichtungen unter dem
[INF-]Vertrag zu vereinbaren gewesen wären". Berichten zufolge soll in
Kürze eine Mittelstreckenrakete getestet werden, die Grundlagen hierfür
seien bereits seit 2017 gelegt worden.
"Nachrüstung" in Europa?
Für Europa scheint aktuell ebenfalls die Stationierung konventioneller
Mittelstreckenraketen erwogen zu werden, vermutlich aus Sorge vor den zu
erwartenden Protesten sollte eine nukleare Option erwogen werden.
Zumindest ließ NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg diese
konventionelle Aufrüstungsvariante durch seine kurz nach INF-Ende
verwendete Wortwahl – mutmaßlich bewusst – offen: „Wir wollen kein neues
Wettrüsten und wir haben nicht die Absicht langestützte nukleare
Mittelstreckenraketen in Europa zu stationieren.“ Ganz ähnlich wurde
bereits im Februar 2019 der stellvertretende US-Unterstaatssekretär
David Trachtenberg zitiert. Auch er gab an, man habe "nicht die
Absicht", atomare Mittelstreckenraketen in Europa zu stationieren: "Was
wir geplant haben und was wir tun, ist [...] die Erforschung und
Entwicklung konventioneller bewaffneter Systeme mit einer Reichweite,
die gegenwärtig vom [INF-]Vertrag verboten ist."
Es hat also den Anschein, als läge die US-Präferenz aktuell "nur" auf
der Aufrüstung mit konventionellen Mittelstreckenraketen. Doch zum einen
ist das schon schlimm genug und zum anderen sollte man sich darauf auch
nicht unbedingt verlassen. So warnte etwa ein anderer Experte ebenfalls
bei "Streitkräfte & Strategien" (NDR): "Ulrich Kühn vom Hamburger
Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik rechnet damit,
dass schon bald eine Debatte in der NATO über eine sogenannte
'Nachrüstung' mit landgestützten Mittelstreckenraketen in Europa
beginnen wird. Dass die USA gegenwärtig nur von einer konventionellen
Bewaffnung sprächen, könne auch taktische Gründe haben, glaubt Ulrich Kühn."
Kalte Krieger treten aus dem Schatten
Während zum Beispiel Außenminister Heiko Maas - wenn auch mit reichlich
wenig Elan - eine Wiederaufnahme von Gesprächen und eine Rückkehr zur
Rüstungskontrolle anmahnt, sehen hierzulande viele alte und neue Kalte
Krieger ihre Stunde gekommen.
Wolfgang Ischinger etwa, der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz,
oder Carlo Masala von der Bundeswehr-Universität in München werben seit
Anfang des Jahres lautstark dafür, sich eine konventionelle oder atomare
Aufrüstungsoption unbedingt offenzuhalten. Masala wurde schon im Februar
2019 in der Süddeutschen Zeitung folgendermaßen zitiert: „Das größte
Problem an der Diplomatie von Heiko Maas liegt darin, dass er eine
Option kategorisch ausschließt: auf den Bruch des Abkommens mit der
Stationierung von Mittelstreckenraketen zu antworten. Ohne diese Drohung
gibt es für Moskau null Anreize, in den Vertrag zurückzukehren.“
Auch Christian Mölling, Rüstungsexperte der „Deutschen Gesellschaft für
Auswärtige Politik“ (DGAP), warb unmittelbar nach Ende des INF-Abkommens
dafür, die NATO müsse nun offiziell auf Angriff umschalten: "Das Bündnis
sollte im konventionellen Bereich reagieren. Das bedeutet einerseits, es
durch bessere Luftabwehr zu ermöglichen, die russischen Raketen zu
neutralisieren. Das wird nicht immer klappen, denn die
9M729-Marschflugkörper sind schwer zu lokalisieren. Andererseits braucht
es wohl eine Offensivkomponente: also eine Rakete, die russische
Kommandozentralen treffen kann."
Und die deutlichen Beweise, mag man sich fragen – dazu Mölling weiter:
„Es gibt keine Smoking Gun, aber ich sehe es eher in Analogie zu einem
Gerichtsfall. Sie können entweder die Tat beobachtet haben oder zeigen,
dass die Indizien nur einen Schluss zulassen. Im Falle des Verstoßes
gegen den INF-Vertrags sind die Indizien und Beweise so erdrückend, dass
kein Experte mehr daran zweifelt und Moskau die Existenz der
Marschflugkörper nicht einmal mehr ernsthaft dementiert.“
Eskalationsdominanz?
Zwei weitere "Sicherheitspolitiker" haben sich in jüngster Zeit ganz
besonders für entschiedene westliche Rüstungsbemühungen eingesetzt: Der
ehemalige hochrangige NATO-Offizier Heinrich Brauß und – wie so häufig –
Joachim Krause vom „Institut für Sicherheitspolitik an der Universität
Kiel“ (ISPK).
In einem nahezu von jedem "Leitmedium" prominent besprochenen Artikel in
der aktuellen Ausgabe von Sirius - Zeitschrift für Strategische Analysen
fragen beide im Titel "Was will Russland mit den vielen
Mittelstreckenwaffen?" Russlands "Aggressionen" in Osteuropa und die –
ohne hinlängliche Beweise – als sicher angenommene Verletzung des
INF-Vertrages ließen nur einen Schluss zu: „Russland verspricht sich
offenkundig entscheidende strategische Vorteile im Sinne einer
Eskalationsdominanz gegenüber den USA und der NATO für den Fall eines
regionalen Krieges in Europa – eines Krieges, der aller Voraussicht nach
nur von Russland ausgehen würde.“
Auch sie werben deshalb, sich die Option für eine Unterstützung der
US-Aufrüstungspläne offenzuhalten: „Die USA planen, der auf Europa
konzentrierten russischen Nukleardrohung kurzfristig mit seegestützten
Raketen mit nuklearen Gefechtsköpfen von begrenzter Sprengkraft
entgegenzuwirken. Diese Waffen werden zurzeit produziert. Langfristig
ist die Beschaffung von seegestützten Marschflugkörpern (SLCM) geplant.
Darüber hinaus werden offenbar die Entwicklung und Aufstellung
landgestützter, zielgenauer Mittelstreckenwaffen mit hochwirksamen
konventionellen Gefechtsköpfen in Betracht gezogen, die russische
Führungseinrichtungen bedrohen und die militärische Handlungsfähigkeit
Russlands lähmen könnten. Generell muss gelten: Alle zielführenden
Optionen müssen ergebnisoffen analysiert und die optimale dann
ausgewählt werden, keine darf aus kurzsichtigen oder opportunistischen
Gründen vorschnell zur Seite gelegt werden. [...] Auch die Entwicklung
landgestützter nuklearer Mittelstreckenwaffen sollte man nicht von
vornherein ausschließen.“
Auch auf anderen Ebenen müsse "natürlich" dagegengehalten werden: "Mit
Blick auf die baltischen Staaten und Polen muss vor allem der
Raum-Kräfte-Zeit-Vorteil Russlands ausgeglichen werden." Aktuell sind in
den drei baltischen Staaten und Polen je ein NATO-Bataillon à 1000
Soldaten (plus zusätzliche US-Soldaten) stationiert, doch diese Truppen
sollten "verstärkt werden". Im Sirius-Artikel bleiben die Autoren
weitere Details weitgehend schuldig. Im Deutschlandfunk präzisierte
Krause aber schon vor einiger Zeit, was er sich konkret darunter
vorstellt: „Es ist also eine derzeit symbolische Präsenz [der NATO in
Osteuropa], und die muss durch eine reale Präsenz erhöht werden. [...]
Da müsste man schon in einer Größenordnung von mindestens einer Division
pro baltischem Staat und wahrscheinlich auch noch in Polen reden. Das
ist sozusagen das Mindeste, was sie brauchen, um dort überhaupt eine
Verteidigungsfähigkeit herzustellen. [...] Ungefähr 30-, 40.000 Soldaten
aus anderen Ländern der NATO, sei es aus Deutschland, aus Frankreich,
aus Großbritannien, USA, Holland oder was weiß ich nicht wo, müssten
dort stationiert sein.“
Wie erwähnt, wurden die Ausführungen von Brauß und Krause überaus breit
in den Medien rezipiert, fast ausschließlich extrem wohlwollend. Eine
der wenigen kritischen Stimmen, die sich in diesem Zusammenhang Gehör
verschaffen konnten, war die des ehemaligen Vorsitzenden des
NATO-Militärausschusses, Harald Kujat. Die Ausführungen von Brauß und
Krause kritisierte er als "einseitig, unvollständig und einer rationalen
Überprüfung nicht standhaltend." Es sei "völlig absurd" vom Ziel eines
russischen Angriffs auszugehen: „Putin weiß, dass dies die völlige
internationale Isolation zur Folge hätte - mit unübersehbaren
politischen und wirtschaftlichen Folgen für das Land.“
Kein Moratorium, kein Start?
Teils hat es den Anschein, als könne Moskau versuchen, was es will, der
Schwarze Peter wird ihm trotzdem routinemäßig zugeschoben. Denn
wiederholt hat Russland deeskalierende Angebote gemacht, die aber
besonders in Washington ein ums andere Mal auf taube Ohren stießen.
Jüngstes Beispiel ist hier das folgende russische Angebot, über das u.a.
die Zeit berichtete: „Kurz vor Ablauf des INF-Vertrages hat Russland den
USA und der Nato erneut ein Moratorium auf die Stationierung von
Raketensystemen mittlerer und kürzerer Reichweite in Europa angeboten.
[Der russische Außenminister Sergej Rjabkow] verwies darauf, dass sich
Russland einseitig ein Moratorium für solche Raketen auferlegt habe.
Allerdings seien weder die USA noch die Nato bisher darauf eingegangen.“
Für den russischen Vorschlag hatte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg
nur eine knappe Antwort übrig, mit der dieser mögliche Ausweg versperrt
wurde: "Der russische Vorschlag eines Moratoriums entbehrt jedweder
Glaubwürdigkeit."
Zentrale Akteure der US-Regierung, allen voran Sicherheitsberater John
Bolton, sind ohnehin erklärte Gegner jeglicher Form vertraglicher
Rüstungskontrolle. Aktuell hat es ganz den Anschein, als befänden sich
diese Kräfte auf einem Kreuzzug, mit dem "New-Start-Vertrag" auch noch
eine der letzten verbleidenden tragenden Säulen der atomaren
Rüstungskontrolle einzureißen. "New Start" begrenzt die Zahl der
Sprengköpfe und strategischen Trägersysteme mit einer Reichweite über
5500km, er soll verhindern, dass eine Rüstungsspirale in Gang kommt, in
der beide Seiten versuchen, eine Eskalationsdominanz in Form einer
Erstschlagfähigkeit zu erlangen. Aktuell sind die USA jedoch dabei, ihr
strategisches Arsenal zu "modernisieren", um so die
Durchschlagsfähigkeit und Zielgenauigkeit deutlich zu erhöhen. Hierfür
sollen laut jüngeren Schätzungen des "Congressional Budget Office" im
nächsten Jahrzehnt fast 500 Milliarden Dollar bereitgestellt werden.
Die gesamten atomaren US-Rüstungspläne lassen wenig andere Schlüsse zu,
als dass die USA tatsächlich eine nukleare Erstschlagfähigkeit
anstreben, ein Ergebnis, zu dem bereits 2006 ein Artikel in der
renommierten Foreign Affairs mit dem bezeichnenden Titel "Der Aufstieg
der USA zur nuklearen Vorherrschaft" gelangte: „Streben die Vereinigten
Staaten mit Absicht die nukleare Dominanz an? [...] Die Natur der
vorgenommenen Veränderungen bezüglich des Arsenals und der offiziellen
Politik und Rhetorik stützen diese Schlussfolgerung. [...] Mit anderen
Worten, die gegenwärtigen und künftigen Nuklearstreitkräfte der USA
scheinen dafür konzipiert zu sein, einen präemptiven Entwaffnungsschlag
gegen Russland oder China zu führen.“ Etwas mehr als zehn Jahre später
legten die beiden Autoren, Keir A. Lieber und Daryl G. Press, in der
International Security noch einmal nach, in der sie argumentierten,
durch die Modernisierung der US-Atomwaffen würden die USA noch einmal
deutlich näher in Richtung einer Erstschlagfähigkeit gegenüber Russland
rücken.
Augenblicklich stehen dem aber noch die Begrenzungen durch "New Start"
im Weg, der aber am 5. Februar Jahr 2021 ausläuft. Hier dürfte wohl der
Grund liegen, weshalb bisherige Versuche Russlands, eine Verlängerung
hinzubekommen, von den USA abschlägig beschieden wurden. Befragt, wie er
die Chancen für eine Verlängerung von "New Start" einschätze, antwortete
Sicherheitsberater John Bolton vor wenigen Wochen: "Es wurde noch keine
Entscheidung getroffen, aber ich denke sie ist unwahrscheinlich."
Vor diesem Hintergrund sieht der Ex-Chef des NATO-Militärausschusses
Harald Kujat die jüngsten russischen Rüstungsbemühungen – u.a. auch die
Entwicklung von Hyperschallwaffen – als eine Reaktion auf die
US-Versuche, die Eskalationsdominanz durch eine Erstschlagfähigkeit zu
erlangen: Es gehe Moskau um die "Aufrechterhaltung des strategischen
Gleichgewichts mit den Vereinigten Staaten".
Man muss diese Versuche ja deshalb noch lange nicht gutheißen, die
dahinterliegende Motivation und Dynamik aber sollte verstanden werden,
anstatt, wie viele der tonangebenden Stimmen hierzulande, mit völlig
einseitigen und in dieser Form extrem zweifelhaften Schuldzuweisungen
den Eintritt in einen neuen Rüstungswettlauf zu fordern.
Mehr Informationen über die Mailingliste IMI-List