[IMI-List] [0544] IMI-Kongress: Rüstung Digital / Analyse: INF-Vertrag / Neue Texte: AKK, Hannibal, Survival

IMI-JW imi at imi-online.de
Mo Aug 5 15:12:56 CEST 2019



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Online-Zeitschrift "IMI-List"
Nummer 0544 .......... 22. Jahrgang ........ ISSN 1611-2563
Hrsg.:...... Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.
Red.: IMI / Jürgen Wagner / Martin Kirsch
Abo (kostenlos)........ IMI-List-subscribe at yahoogroups.com
Archiv: ....... http://www.imi-online.de/mailingliste.php3
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Liebe Freundinnen und Freunde,

in dieser IMI-List findet sich

1.) Die erste (grobe) Ankündigung des IMI-Kongresses 2019 (29.11.-1.12): 
„Rüstung Digital“;

2.) neue Texte auf der Homepage: Zu Annegret Kramp-Karrenbauer, neuen 
Informationen zum rechten „Hannibal-Komplex“ und der letzten 
Bundeswehr-Youtube Serie „Survival“;

3.) eine IMI-Analyse zum Ende des INF-Vertrags und dem bevorstehenden 
Neuen Wettrüsten.


1.) IMI-Kongress: Rüstung Digital

Die IMI-Mühlen mahlen manchmal leider nicht so schnell, wie wir uns das 
selber wünschen würden. Aber jetzt stehen zumindest schon einmal das 
Thema, wichtige Rahmendaten und ein (im Entwurf) Antext für den nächsten 
IMI-Kongress:


IMI-Kongress 2019, 29.11. - 01.12., Tübingen, Schlatterhaus

Rüstung Digital – Neue Technologien für neue Großmachtkriege

Globale Konflikte treten in jüngster Zeit wieder vermehrt zwischen 
diversen Großmächten auf. Dabei spielt der Wettlauf um die Führerschaft 
bei militärisch relevanten Technologien eine besondere Rolle. Durch sog. 
„Sprunginnovationen“, die vor der Konkurrenz zu entdecken und zu 
implementieren sind, versprechen sich die Akteure den entscheidenden 
Vorteil auf dem Schlachtfeld der Zukunft. „Digitalisierung“ ist dabei 
nicht nur ein Modewort, sondern die Vision von einer umfassenden 
Kampfwertsteigerung mit der Unterstützung durch künstliche Intelligenz. 
Bestehende Rüstungsgüter vom Kriegsschiff und Flugzeug über den Panzer 
bis hin zum einfachen Soldaten sollen vernetzt und mit Sensoren 
ausgestattet werden, um in Echtzeit Lagebilder des Kampfgeschehens zu 
erstellen und in die Kommandozentralen zu übermitteln. Dieses „gläserne 
Gefechtsfeld“ soll die militärische Überlegenheit herbeiführen. Aktuelle 
Rüstungsprojekte der Europäischen Union beabsichtigen darüber hinaus 
eine Kooperation zwischen bemannten und unbemannten Waffensystemen (sog. 
„manned-unmanned teaming“).

Die hiermit formulierten Ansprüche erfordern eine tiefgreifende 
Umstrukturierung der Forschungslandschaft und der Rüstungsindustrie. 
Digitale Systeme müssen in deutlich kürzeren Zyklen entwickelt, 
getestet, beschafft und für den Einsatz bereitgestellt werden, 
Wissenschaft, Industrie und Militär enger kooperieren. Mit der 
Beschleunigung technologischer Innovationen in der Kriegführung geht ein 
Trend vom „Erhalt der rüstungsindustriellen Basis“ zum Aufbau einer 
„permanenten Kriegswirtschaft“ einher.

Programm ist noch in Arbeit…

2.) Neue Texte auf der IMI-Homepage

IMI-Standpunkt 2019/032
Weitere Erkenntnisse zum Hannibal-Komplex:
Auch Burschenschaften und Identitäre Bewegung Teil des rechten Netzwerks?
http://www.imi-online.de/2019/07/26/weitere-erkenntnisse-zum-hannibal-komplex/ 

Luca Heyer (26. Juli 2019)

IMI-Standpunkt 2019/031
Rüstungsministerin Annegret-Kramp Karrenbauer
Aufruf zu deutschlandweiten Gelöbnissen im Spätherbst
http://www.imi-online.de/2019/07/25/die-aufruestungsministerin-annegret-kramp-karrenbauer-wurde-vor-dem-bundestag-vereidigt/ 

Tobias Pflüger (25. Juli 2019)

IMI-Analyse 2019/24
Survival: Folgen nicht Führen – Die Bundeswehr mit neuer Serie auf 
Rekrutenjagd
http://www.imi-online.de/2019/07/25/survival-folgen-nicht-fuehren-die-bundeswehr-mit-neuer-serie-auf-rekrutenjagd/ 

Liam Krüger (25. Juli 2019)


3.) IMI-Analyse zum INF-Vertrag und dem neuen Wettrüsten

IMI-Analyse 2019/25
Die Stunde der Kalten Krieger – Vom INF-Vertrag zum neuen Wettrüsten
http://www.imi-online.de/2019/08/05/inf-vertrag/
Jürgen Wagner (5. August 2019)

Im Folgenden handelt es sich um eine aktualisierte und erweiterte 
Variante  eines  Artikels,  der  zuerst  bei  Telepolis, 3.8.2019  erschien.


Am 2. Februar 2019 kündigten die USA den INF-Vertrag zum Verbot 
landgestützter Mittelstreckenraketen (Reichweite 500 bis 5500km) auf. 
Nach einer sechsmonatigen Übergangsphase ist der Vertrag nunmehr 
Geschichte und damit zerbröselt auch eine der letzten zentralen Säulen 
der atomaren Rüstungskontrolle.

Mit einer Selbstverständlichkeit wird dabei aktuell Russland in den 
Medien die Schuld hierfür in die Schuhe geschoben, das Land habe den 
Vertrag durch die Stationierung des Marschflugkörpers 9M729 
(NATO-Codename SSC-8) verletzt: „Russland trägt die alleinige 
Verantwortung für das Ende des Vertrages“, so die simple Sichtweise von 
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg.

Obwohl hier zumindest Zweifel angebracht sind, werden nun - nicht 
zuletzt auch in Deutschland - auf Grundlage dieser "Gewissheit" 
umfassende Rüstungsmaßnahmen gefordert, während gleichzeitig das 
russische Angebot für ein Stationierungsmoratorium in den Wind 
geschlagen wird.


Neue Raketen - Neue Aufrüstung

Wie üblich hat die westliche Version einige Schönheitsfehler: Erstens 
argumentiert Russland, die Reichweite des 9M729-Systems liege unter 
500km und nicht, wie von den USA behauptet, bei 2.000km, weshalb keine 
Vertragsverletzung vorgelegen hätte; zweitens bot es 
Vor-Ort-Inspektionen an, um etwaige Bedenken auszuräumen, was allerdings 
von US-Seite ignoriert wurde; und drittens beschuldigt Russland 
seinerseits die USA, Teile des in Osteuropa stationierten 
Raketenabwehrsystems würden gegen den INF-Vertrag verstoßen.
Überraschenderweise stützte ausgerechnet der alles andere als 
russlandfreundliche Chef der "Bundesakademie für Sicherheitspolitik" 
(BAKS), Karl-Heinz Kamp, Anfang Juli 2019 die Sichtweise Moskaus, als er 
bei "Streitkräfte & Strategien" (NDR) mit den Worten zitiert wurde: „Es 
gibt ja Vorwürfe Russlands, dass die USA in ihren Starterhüllen für das 
Raketenabwehrsystem ebenfalls Marschflugkörper verbotener Reichweite 
verschicken könnten. Da sagen die Amerikaner: das geht nicht. Da geht 
die Software nicht. Das erklärt sich selbst einem Laien, dass man eine 
Software relativ einfach auswechseln kann.“

Das Verhalten der US-Regierung untermauerte wiederum Russlands Verdacht, 
die USA seien primär darauf erpicht, den Vertrag zu versenken. Im 
Deutschlandfunk etwa wurde der Verifikationsexperte Wolfgang Richter 
zitiert, der angab, über die angebotenen Inspektionen hätten sich die 
Zweifel aus dem Weg räumen lassen: „Das würde zumindest einmal erlauben, 
das System zu überprüfen, die äußeren Dimensionen zu sehen, und von 
daher abzuschätzen, handelt es sich um eine Langstreckenwaffe oder 
nicht. Das Detail, also, wird die Rakete nur eine Reichweise von 480 
Kilometern haben oder 520, dazu müsste man dann mehr wissen, 
beispielsweise das Masseverhältnis zwischen Gefechtskopf und Tank. Aber 
die unterstellte Abweichung ist eine sehr große, das könnte man alles 
vor Ort feststellen.“

Vor diesem Hintergrund äußerte sich der stellvertretende Außenminister 
Sergej Ryabkow, Russland wolle den Vertrag retten, aber "kürzliche 
Ereignisse zeigen deutlich, dass gewisse Kräfte in den Vereinigten 
Staaten nicht daran interessiert sind, uns die Möglichkeit zu geben, 
ihre fehlerhaften oder gefälschten Informationen zu widerlegen".


China im Visier

Schon früh wurde verschiedentlich argumentiert, die USA hätten vor allem 
auch mit Blick auf China ein Ende des INF-Vertrages gezielt 
herbeigeführt, da Peking seinerseits mit relativ "billigen" 
Mittelstreckenraketen aufrüstet, ohne an vertragliche Restriktionen 
gebunden zu sein. Bereits im Februar 2019 beschrieb ein  Kommentar in 
der Neuen Osnabrücker Zeitung die diesbezüglichen Überlegungen 
folgendermaßen:  „Washington begründet die Kündigung des INF-Vertrags 
damit, dass Moskau den Vertrag verletze. Wirklich? Natürlich kann das so 
sein, doch die USA haben keine Beweise für einen russischen Verstoß 
veröffentlicht. Es spricht auch nicht gerade für die US-Regierung, dass 
sie russische Einladungen, den strittigen Marschflugkörper zu 
begutachten, und Gesprächsangebote ausgeschlagen hat. Da drängt sich der 
Verdacht auf, dass es den USA in Wirklichkeit um etwas anderes geht: um 
die Möglichkeit, selbst neue Waffensysteme zu bauen und zur Abschreckung 
zu stationieren, vor allem in Ostasien, ohne die lästigen Fesseln eines 
Abrüstungsvertrags. Denn nicht Russland ist im Visier, sondern China. 
Washington sieht sich durch den INF-Vertrag zunehmend ins Hintertreffen 
geraten gegenüber Peking, seinem Dauergegner, der in diesen Vertrag 
nicht einbezogen ist.“

Da passt es in Bild, dass Thomas G. Mahnken, ein ehemaliger 
stellvertretender US-Verteidigungsstaatssekretär und heute beim "Center 
for Strategic and Budgetary Assessments", erst vor wenigen Tagen die 
Aufstellung konventioneller Mittelstreckenraketen im Indopazifik 
forderte, um die chinesischen "Vorteile" wieder aufzuholen. Und 
tatsächlich, nur einen Tag nachdem der INF-Vertrag ins Aus befördert 
wurde, meldete die FAZ: „Die Vereinigten Staaten streben die baldige 
Stationierung neuer konventioneller Mittelstreckenraketen in Asien an, 
um dem zunehmenden militärischen Einfluss Chinas in der Region zu 
begegnen. Die amerikanische Regierung wolle dies ‚so schnell wie 
möglich‘ realisieren, wenn möglich innerhalb von Monaten, sagte der neue 
amerikanische Verteidigungsminister Mark Esper am Samstag im Flugzeug 
auf dem Weg nach Sydney. Washington war am Freitag formell aus dem 
INF-Abrüstungsvertrag über nukleare Mittelstreckensysteme ausgeschieden.“

Die Entwicklung dementsprechender Raketensysteme wurde ebenfalls früh in 
die Wege geleitet. So räumte US-Colonel Michelle Baldanza bereits im 
März 2019 ein, die USA hätten mit "Fabrikationsaktivitäten begonnen", 
die "bis zum 2. Februar nicht mit den US-Verpflichtungen unter dem 
[INF-]Vertrag zu vereinbaren gewesen wären". Berichten zufolge soll in 
Kürze eine Mittelstreckenrakete getestet werden, die Grundlagen hierfür 
seien bereits seit 2017 gelegt worden.


"Nachrüstung" in Europa?

Für Europa scheint aktuell ebenfalls die Stationierung konventioneller 
Mittelstreckenraketen erwogen zu werden, vermutlich aus Sorge vor den zu 
erwartenden Protesten sollte eine nukleare Option erwogen werden. 
Zumindest ließ NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg diese 
konventionelle Aufrüstungsvariante durch seine kurz nach INF-Ende 
verwendete Wortwahl – mutmaßlich bewusst – offen: „Wir wollen kein neues 
Wettrüsten und wir haben nicht die Absicht langestützte nukleare 
Mittelstreckenraketen in Europa zu stationieren.“ Ganz ähnlich wurde 
bereits im Februar 2019 der stellvertretende US-Unterstaatssekretär 
David Trachtenberg zitiert. Auch er gab an, man habe "nicht die 
Absicht", atomare Mittelstreckenraketen in Europa zu stationieren: "Was 
wir geplant haben und was wir tun, ist [...] die Erforschung und 
Entwicklung konventioneller bewaffneter Systeme mit einer Reichweite, 
die gegenwärtig vom [INF-]Vertrag verboten ist."

Es hat also den Anschein, als läge die US-Präferenz aktuell "nur" auf 
der Aufrüstung mit konventionellen Mittelstreckenraketen. Doch zum einen 
ist das schon schlimm genug und zum anderen sollte man sich darauf auch 
nicht unbedingt verlassen. So warnte etwa ein anderer Experte ebenfalls 
bei "Streitkräfte & Strategien" (NDR): "Ulrich Kühn vom Hamburger 
Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik rechnet damit, 
dass schon bald eine Debatte in der NATO über eine sogenannte 
'Nachrüstung' mit landgestützten Mittelstreckenraketen in Europa 
beginnen wird. Dass die USA gegenwärtig nur von einer konventionellen 
Bewaffnung sprächen, könne auch taktische Gründe haben, glaubt Ulrich Kühn."


Kalte Krieger treten aus dem Schatten

Während zum Beispiel Außenminister Heiko Maas - wenn auch mit reichlich 
wenig Elan - eine Wiederaufnahme von Gesprächen und eine Rückkehr zur 
Rüstungskontrolle anmahnt, sehen hierzulande viele alte und neue Kalte 
Krieger ihre Stunde gekommen.

Wolfgang Ischinger etwa, der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, 
oder Carlo Masala von der Bundeswehr-Universität in München werben seit 
Anfang des Jahres lautstark dafür, sich eine konventionelle oder atomare 
Aufrüstungsoption unbedingt offenzuhalten. Masala wurde schon im Februar 
2019 in der Süddeutschen Zeitung folgendermaßen zitiert: „Das größte 
Problem an der Diplomatie von Heiko Maas liegt darin, dass er eine 
Option kategorisch ausschließt: auf den Bruch des Abkommens mit der 
Stationierung von Mittelstreckenraketen zu antworten. Ohne diese Drohung 
gibt es für Moskau null Anreize, in den Vertrag zurückzukehren.“

Auch Christian Mölling, Rüstungsexperte der „Deutschen Gesellschaft für 
Auswärtige Politik“ (DGAP), warb unmittelbar nach Ende des INF-Abkommens 
dafür, die NATO müsse nun offiziell auf Angriff umschalten: "Das Bündnis 
sollte im konventionellen Bereich reagieren. Das bedeutet einerseits, es 
durch bessere Luftabwehr zu ermöglichen, die russischen Raketen zu 
neutralisieren. Das wird nicht immer klappen, denn die 
9M729-Marschflugkörper sind schwer zu lokalisieren. Andererseits braucht 
es wohl eine Offensivkomponente: also eine Rakete, die russische 
Kommandozentralen treffen kann."
Und die deutlichen Beweise, mag man sich fragen – dazu Mölling weiter: 
„Es gibt keine Smoking Gun, aber ich sehe es eher in Analogie zu einem 
Gerichtsfall. Sie können entweder die Tat beobachtet haben oder zeigen, 
dass die Indizien nur einen Schluss zulassen. Im Falle des Verstoßes 
gegen den INF-Vertrags sind die Indizien und Beweise so erdrückend, dass 
kein Experte mehr daran zweifelt und Moskau die Existenz der 
Marschflugkörper nicht einmal mehr ernsthaft dementiert.“


Eskalationsdominanz?

Zwei weitere "Sicherheitspolitiker" haben sich in jüngster Zeit ganz 
besonders für entschiedene westliche Rüstungsbemühungen eingesetzt: Der 
ehemalige hochrangige NATO-Offizier Heinrich Brauß und – wie so häufig – 
Joachim Krause vom „Institut für Sicherheitspolitik an der Universität 
Kiel“ (ISPK).

In einem nahezu von jedem "Leitmedium" prominent besprochenen Artikel in 
der aktuellen Ausgabe von Sirius - Zeitschrift für Strategische Analysen 
fragen beide im Titel "Was will Russland mit den vielen 
Mittelstreckenwaffen?" Russlands "Aggressionen" in Osteuropa und die – 
ohne hinlängliche Beweise – als sicher angenommene Verletzung des 
INF-Vertrages ließen nur einen Schluss zu: „Russland verspricht sich 
offenkundig entscheidende strategische Vorteile im Sinne einer 
Eskalationsdominanz gegenüber den USA und der NATO für den Fall eines 
regionalen Krieges in Europa – eines Krieges, der aller Voraussicht nach 
nur von Russland ausgehen würde.“

Auch sie werben deshalb, sich die Option für eine Unterstützung der 
US-Aufrüstungspläne offenzuhalten: „Die USA planen, der auf Europa 
konzentrierten russischen Nukleardrohung kurzfristig mit seegestützten 
Raketen mit nuklearen Gefechtsköpfen von begrenzter Sprengkraft 
entgegenzuwirken. Diese Waffen werden zurzeit produziert. Langfristig 
ist die Beschaffung von seegestützten Marschflugkörpern (SLCM) geplant. 
Darüber hinaus werden offenbar die Entwicklung und Aufstellung 
landgestützter, zielgenauer Mittelstreckenwaffen mit hochwirksamen 
konventionellen Gefechtsköpfen in Betracht gezogen, die russische 
Führungseinrichtungen bedrohen und die militärische Handlungsfähigkeit 
Russlands lähmen könnten. Generell muss gelten: Alle zielführenden 
Optionen müssen ergebnisoffen analysiert und die optimale dann 
ausgewählt werden, keine darf aus kurzsichtigen oder opportunistischen 
Gründen vorschnell zur Seite gelegt werden. [...] Auch die Entwicklung 
landgestützter nuklearer Mittelstreckenwaffen sollte man nicht von 
vornherein ausschließen.“

Auch auf anderen Ebenen müsse "natürlich" dagegengehalten werden: "Mit 
Blick auf die baltischen Staaten und Polen muss vor allem der 
Raum-Kräfte-Zeit-Vorteil Russlands ausgeglichen werden." Aktuell sind in 
den drei baltischen Staaten und Polen je ein NATO-Bataillon à 1000 
Soldaten (plus zusätzliche US-Soldaten) stationiert, doch diese Truppen 
sollten "verstärkt werden". Im Sirius-Artikel bleiben die Autoren 
weitere Details weitgehend schuldig. Im Deutschlandfunk präzisierte 
Krause aber schon vor einiger Zeit, was er sich konkret darunter 
vorstellt: „Es ist also eine derzeit symbolische Präsenz [der NATO in 
Osteuropa], und die muss durch eine reale Präsenz erhöht werden. [...] 
Da müsste man schon in einer Größenordnung von mindestens einer Division 
pro baltischem Staat und wahrscheinlich auch noch in Polen reden. Das 
ist sozusagen das Mindeste, was sie brauchen, um dort überhaupt eine 
Verteidigungsfähigkeit herzustellen. [...] Ungefähr 30-, 40.000 Soldaten 
aus anderen Ländern der NATO, sei es aus Deutschland, aus Frankreich, 
aus Großbritannien, USA, Holland oder was weiß ich nicht wo, müssten 
dort stationiert sein.“

Wie erwähnt, wurden die Ausführungen von Brauß und Krause überaus breit 
in den Medien rezipiert, fast ausschließlich extrem wohlwollend. Eine 
der wenigen kritischen Stimmen, die sich in diesem Zusammenhang Gehör 
verschaffen konnten, war die des ehemaligen Vorsitzenden des 
NATO-Militärausschusses, Harald Kujat. Die Ausführungen von Brauß und 
Krause kritisierte er als "einseitig, unvollständig und einer rationalen 
Überprüfung nicht standhaltend." Es sei "völlig absurd" vom Ziel eines 
russischen Angriffs auszugehen: „Putin weiß, dass dies die völlige 
internationale Isolation zur Folge hätte - mit unübersehbaren 
politischen und wirtschaftlichen Folgen für das Land.“


Kein Moratorium, kein Start?

Teils hat es den Anschein, als könne Moskau versuchen, was es will, der 
Schwarze Peter wird ihm trotzdem routinemäßig zugeschoben. Denn 
wiederholt hat Russland deeskalierende Angebote gemacht, die aber 
besonders in Washington ein ums andere Mal auf taube Ohren stießen. 
Jüngstes Beispiel ist hier das folgende russische Angebot, über das u.a. 
die Zeit berichtete: „Kurz vor Ablauf des INF-Vertrages hat Russland den 
USA und der Nato erneut ein Moratorium auf die Stationierung von 
Raketensystemen mittlerer und kürzerer Reichweite in Europa angeboten. 
[Der russische Außenminister Sergej Rjabkow] verwies darauf, dass sich 
Russland einseitig ein Moratorium für solche Raketen auferlegt habe. 
Allerdings seien weder die USA noch die Nato bisher darauf eingegangen.“ 
Für den russischen Vorschlag hatte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg 
nur eine knappe Antwort übrig, mit der dieser mögliche Ausweg versperrt 
wurde: "Der russische Vorschlag eines Moratoriums entbehrt jedweder 
Glaubwürdigkeit."

Zentrale Akteure der US-Regierung, allen voran Sicherheitsberater John 
Bolton, sind ohnehin erklärte Gegner jeglicher Form vertraglicher 
Rüstungskontrolle. Aktuell hat es ganz den Anschein, als befänden sich 
diese Kräfte auf einem Kreuzzug, mit dem "New-Start-Vertrag" auch noch 
eine der letzten verbleidenden tragenden Säulen der atomaren 
Rüstungskontrolle einzureißen. "New Start" begrenzt die Zahl der 
Sprengköpfe und strategischen Trägersysteme mit einer Reichweite über 
5500km, er soll verhindern, dass eine Rüstungsspirale in Gang kommt, in 
der beide Seiten versuchen, eine Eskalationsdominanz in Form einer 
Erstschlagfähigkeit zu erlangen. Aktuell sind die USA jedoch dabei, ihr 
strategisches Arsenal zu "modernisieren", um so die 
Durchschlagsfähigkeit und Zielgenauigkeit deutlich zu erhöhen. Hierfür 
sollen laut jüngeren Schätzungen des "Congressional Budget Office" im 
nächsten Jahrzehnt fast 500 Milliarden Dollar bereitgestellt werden.

Die gesamten atomaren US-Rüstungspläne lassen wenig andere Schlüsse zu, 
als dass die USA tatsächlich eine nukleare Erstschlagfähigkeit 
anstreben, ein Ergebnis, zu dem bereits 2006 ein Artikel in der 
renommierten Foreign Affairs mit dem bezeichnenden Titel "Der Aufstieg 
der USA zur nuklearen Vorherrschaft" gelangte: „Streben die Vereinigten 
Staaten mit Absicht die nukleare Dominanz an? [...] Die Natur der 
vorgenommenen Veränderungen bezüglich des Arsenals und der offiziellen 
Politik und Rhetorik stützen diese Schlussfolgerung. [...] Mit anderen 
Worten, die gegenwärtigen und künftigen Nuklearstreitkräfte der USA 
scheinen dafür konzipiert zu sein, einen präemptiven Entwaffnungsschlag 
gegen Russland oder China zu führen.“ Etwas mehr als zehn Jahre später 
legten die beiden Autoren, Keir A. Lieber und Daryl G. Press, in der 
International Security noch einmal nach, in der sie argumentierten, 
durch die Modernisierung der US-Atomwaffen würden die USA noch einmal 
deutlich näher in Richtung einer Erstschlagfähigkeit gegenüber Russland 
rücken.

Augenblicklich stehen dem aber noch die Begrenzungen durch "New Start" 
im Weg, der aber am 5. Februar Jahr 2021 ausläuft. Hier dürfte wohl der 
Grund liegen, weshalb bisherige Versuche Russlands, eine Verlängerung 
hinzubekommen, von den USA abschlägig beschieden wurden. Befragt, wie er 
die Chancen für eine Verlängerung von "New Start" einschätze, antwortete 
Sicherheitsberater John Bolton vor wenigen Wochen: "Es wurde noch keine 
Entscheidung getroffen, aber ich denke sie ist unwahrscheinlich."

Vor diesem Hintergrund sieht der Ex-Chef des NATO-Militärausschusses 
Harald Kujat die jüngsten russischen Rüstungsbemühungen – u.a. auch die 
Entwicklung von Hyperschallwaffen – als eine Reaktion auf die 
US-Versuche, die Eskalationsdominanz durch eine Erstschlagfähigkeit zu 
erlangen: Es gehe Moskau um die "Aufrechterhaltung des strategischen 
Gleichgewichts mit den Vereinigten Staaten".

Man muss diese Versuche ja deshalb noch lange nicht gutheißen, die 
dahinterliegende Motivation und Dynamik aber sollte verstanden werden, 
anstatt, wie viele der tonangebenden Stimmen hierzulande, mit völlig 
einseitigen und in dieser Form extrem zweifelhaften Schuldzuweisungen 
den Eintritt in einen neuen Rüstungswettlauf zu fordern.



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