[IMI-List] [0509] ITEC: Rüstungsregion Stuttgart / Studie: Gegenkonversion
IMI-JW
imi at imi-online.de
Di Mär 20 15:33:29 CET 2018
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Online-Zeitschrift "IMI-List"
Nummer 0509 .......... 21. Jahrgang ........ ISSN 1611-2563
Hrsg.:...... Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.
Red.: IMI / Jürgen Wagner / Christoph Marischka
Abo (kostenlos).. https://listi.jpberlin.de/mailman/listinfo/imi-list
Archiv: ....... http://www.imi-online.de/mailingliste.php3
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Liebe Freundinnen und Freunde,
in dieser IMI-List findet sich
1.) eine neue IMI-Studie zur „Gegenkonversion“, der zunehmenden
Wiederaneignung von Flächen durch die Bundeswehr;
2.) eine IMI-Analyse zur in Kürze stattfindenden Rüstungsmesse ITEC und
ihrer „Verankerung“ in der Stuttgarter Region.
1.) Studie: Konversion rückwärts
IMI-Studie 2018/03
Konversion rückwärts:
Wiederaufrüstung in Baden-Württemberg
http://www.imi-online.de/2018/03/19/konversion-rueckwaerts/
http://www.imi-online.de/download/IMI-Studie2018-3_Gegenkonversion-Web.pdf
Alexander Kleiß (19. März 2018)
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung – 1
2. KSK-Standort Calw und die Suche nach einem neuen Absprunggelände – 2
3. Carl-Schurz-Kaserne in Hardheim – 6
4. Coleman-Areal in Mannheim – 10
5. Fazit – 11
Anmerkungen – 15
Die 16seitige Studie kann auch als Zehnerpack zum Selbstkostenpreis (10
Euro inkl. Porto) bestellt werden: imi at imi-online.de
2010 war die Neuausrichtung der Bundeswehr beschlossen worden, welche
unter anderem die Aussetzung der Wehrpflicht und eine deutliche
Reduzierung des Streitkräfteumfangs beinhaltete. 2011 folgte das
entsprechende Stationierungskonzept: Der Personalumfang sollte allein in
Baden-Württemberg um mehr als 10.000 Dienststellen reduziert werden. 13
Standorte sollten hier geschlossen oder signifikant reduziert werden,
unter anderem der Standort Hardheim. Dadurch sollten mehrere Flächen
ihren Status als militärisches Sperrgebiet verlieren. Somit stand einer
Konversion zahlreicher vormals militärisch genutzter Flächen nichts mehr
im Wege. Konversion ist eine Bezeichnung für die Umwidmung militärischer
Liegenschaften für zivile Zwecke.
Doch nicht nur Flächen, die vorher durch die Bundeswehr genutzt wurden,
hatten die Perspektive auf eine zivile Nutzung. Auch die US-Armee hatte
bekannt gegeben, einige zuvor militärisch genutzte Flächen aufgeben zu
wollen, was vor allem den Raum Mannheim / Heidelberg betraf. Die Stadt
Mannheim richtete 2010 eine Geschäftsstelle „Konversion“ ein, um die
Überführung in die zivile Nutzung zu koordinieren.
Konversion kann für die von Standortschließungen betroffenen Gemeinden
und Städte durchaus auch wirtschaftlich positive Effekte haben. Eine
Studie aus dem Jahr 2010, die über 100 Regionen, in denen
Bundeswehrstandorte geschlossen wurden, untersucht, kommt zu dem
Ergebnis, dass die Schließung von Bundeswehrstandorten keinen
signifikant negativen Einfluss auf die sozioökonomische Situation in der
Umgebung hatte: „[…] in Deutschland hatten Standortschließungen kaum
Auswirkungen auf die lokale Wirtschaft. Standortschließungen, die als
Teil der Modernisierung der Bundeswehr ab 2003 umgesetzt wurden, hatten
keinen signifikanten sozioökonomischen Effekt auf die umliegenden
Gemeinden.“ Die wirtschaftlichen Auswirkungen von Militärstützpunkten
auf die Umgebung würden überschätzt. Außerdem habe die Konversion der
militärischen Liegenschaften äußerst positive Einflüsse auf die Umgebung
gehabt: „Durch die Konversion und die Folgenutzung dieser Militärbasen
wurden neue Arbeitsplätze geschaffen und diejenigen, die ihre Stelle
verloren hatten, konnten oft neu beschäftigt werden, was die negativen
Auswirkungen von Standortschließungen abschwächt. Diese neuen (zivilen)
Entwicklungsprojekte erzeugen voraussichtlich einen substanziellen
Anstieg an Steueraufkommen […]“.
Wie oben beschrieben standen die Zeichen 2010 bis 2012 auf Konversion.
Mittlerweile ist ein gegenläufiger Trend zu beobachten. Sowohl das
deutsche als auch das US-amerikanische Verteidigungsministerium
revidierten Entscheidungen in Fällen, in denen Konversion vorgesehen
war. Aufgegebene Flächen werden wieder in Betrieb genommen, Konversions-
und Standortschließungsprozesse werden verzögert und nun sollen sogar
bisher zivile Flächen künftig militärisch genutzt werden.
Dieser aktuelle Trend lässt sich mit dem neu einzuführenden Begriff
„Gegenkonversion“ beschreiben.
Ganze Studie hier:
http://www.imi-online.de/2018/03/19/konversion-rueckwaerts/
2.) ITEC und Rüstungsregion Stuttgart
IMI-Analyse 2018/06
Rüstung ohne Schwermetall
Die ITEC und der militärisch-forschungsindustrielle Komplex im „Ländle“
http://www.imi-online.de/2018/03/20/ruestung-ohne-schwermetall/
Christoph Marischka (20. März 2018)
Von 15. bis 17. Mai 2018 wird neben dem Stuttgarter Flughafen die
High-Tech-Rüstungsmesse ITEC stattfinden. Obgleich Rheinmetall als
„Platin-Sponsor“ noch eher mit den Panzern Marder, Boxer und Leopard
assoziiert wird,[1] liegt der Schwerpunkt der Messe nicht auf schwerem
Metall und Gerät, sondern explizit auf militärischen Trainings- und
Simulationsumgebungen wie beispielsweise Flugsimulatoren. In den
vergangenen Jahren haben solche Technologien auch für das Heer und
insbesondere Spezialkräfte an Relevanz gewonnen, die ihre Einsätze
teilweise in maßstabsgetreuen Nachbauten der Einsatzorte, zunehmend aber
auch in virtuellen Abbildern der betreffenden Gebäude oder auch
Stadtviertel vorbereiten. Auch jenseits detailliert vorbereiteter
Zugriffe hat die virtuelle Realität an Bedeutung für Ausbildung und
Training zugenommen. So wirkt das Gefechtsübungszentrum des Heeres (GÜZ)
in der Colbitz-Letzlinger Heide auf den ersten Blick wie ein normaler,
wenn auch mit seiner Übungsstadt „Schnöggersburg“ aufwändig
ausgestatteter Übungsplatz. Zu einem der „weltweit modernsten
militärischen Übungszentren“ wird es durch Systemtechnik des
Geschäftsbereichs Simulation und Training[2] von Rheinmetall: „Große
Teile der Übungsgefechte werden per Lasertechnik simuliert.
Truppenbewegungen, Schüsse und Treffer werden per EDV kontrolliert und
ausgewertet“.[3]
Darüber hinaus verschwimmen Trainingsumgebung und realer Einsatz
zunehmend im Zuge der aktuellen High-Tech-Kriegführung. Am Beispiel der
Steuerung unbemannter Flugzeuge lässt sich z.B. veranschaulichen, dass
der/die Pilot*in objektiv gar nicht unterscheiden könnte, ob es sich um
einen virtuellen Übungseinsatz oder eine tatsächliche Mission mit
womöglich tödlichen Folgen handelt. Die „erweiterte Realität“, in der
die tatsächliche Umwelt mit visualisierten Informationen aus Datenbanken
usw. angereichert wird, ist für viele Nutzer*innen von Smartphones
bereits Alltag, hat ihren Ursprung aber oft in militärischen Führungs-
und Informationssystemen. So gehört es zu den grundlegenden Funktionen
militärischer Lagezentren, aktuelle Informationen aus dem Gefechtsfeld
z.B. auf Karten zu visualisieren und mit Kontextinformationen zu
verknüpfen. Systeme wie der „Infanterist der Zukunft“ der Bundeswehr –
erprobt natürlich zunächst von Spezialkräften – streben nun danach, auch
die Kräfte im Feld in einer „erweiterten Realität“ agieren zu lassen,
die z.B. auf Karten eigene und mutmaßliche feindliche Stellungen mitsamt
der verfügbaren Waffensysteme, ihrer Reichweite und Reaktionszeit darstellt.
Damit gewinnt die ITEC als Messe für bereits zuvor durchaus profitable,
aber eher periphere Produkte der Rüstungsindustrie beträchtlich an
Relevanz. Zentrale Themen hier sind bereits seit Jahren virtuelle und
erweiterte Realität, Künstliche Intelligenz und die Verarbeitung von Big
Data sowie die sog. „Human Factors“, also die Anpassung maschinell
aufbearbeiteter Daten an die menschliche Wahrnehmung. Als besonderer und
neuer Themenschwerpunkt in diesem Jahr werden die „Chancen des
Dual-Use“[4] benannt. Auf der Homepage der ITEC 2018 heißt es:
„Ereignisse wie in Paris, Barcelona und London haben die Gefahren
veranschaulicht, mit denen zivile Sicherheitskräfte umgehen müssen. Im
gegenwärtigen Klima erwartet man von den (zuerst eintreffenden)
Einsatzkräften, einzelne Terroristen mit automatischen Waffen in
belebten Straßen zu eliminieren und zugleich Verwundete mit einer
Reaktionszeit zu versorgen, die einem militärischen Schlachtfeld
entspricht. Die Rolle von Simulation und Training für Polizei-,
Feuerwehr- und Rettungskräften wird gleichbedeutend mit derjenigen für
militärische Kräfte und das bedeutet, dass die Trainingsmethoden sich
immer ähnlicher werden“.[5] Das ist tatsächlich erstaunlich nah an der
Wahrnehmung des Baden-Württembergischen Innenministeriums, das in den
vergangenen Jahren die Streifenwagen der Polizei mit Maschinengewehren
ausrüsten und deren Besatzung in der Terrorbekämpfung ausbilden ließ.[6]
Wo die ITEC auf ihrer Homepage aber den diesjährigen Austragungsort
Stuttgart vorstellt, geht es vor allem um Kultur und Architektur, „bunte
Märkte“ und andere Freizeitangebote. Erwähnt wird außerdem, dass die
Stadt „die Wiege der Mobilität“ sei, da hier Wilhelm Maybach und
Gottlieb Daimler eines der ersten Automobile entworfen hätten und
Mercedes-Benz und Porsche bis heute große Produktionsanlagen in der
Stadt unterhalten. Betont wird zusammenfassend, dass hier „Tradition und
Innovation Hand in Hand“ gingen.[7]
Militärische Standorte um Flughafen und Messe
Und trotzdem beschleicht einen der Eindruck, dass die Autor*innen des
Textes die wahren Bezüge zwischen Messe und Region entweder gar nicht
erfasst haben, oder bewusst verschweigen. Das beginnt bereits mit dem
Austragungsort der Messe, der ja nicht in der Stadt selbst liegt,
sondern neben deren Flughafen. Der liegt zwar direkt neben der Autobahn
A8, ist mit öffentlichem Nahverkehr allerdings eher schlecht zu
erreichen. Der Flughafen selbst hat wie viele Flughäfen eine
militärische Geschichte und bis heute einen militärisch genutzten Teil,
der einen guten Kilometer südlich der Messehallen liegt und vom US Army
Special Operations Command betrieben wird. Zu diesem gehört auch ein
Hubschrauberlandeplatz, der gemeinsam von der US Army und der
Landespolizei genutzt wird. Auf dem Gelände des militärisch genutzten
Teils des Flughafens ist heute noch ein Hangar in Betrieb, in dem ab
November 1944 jüdische Zwangsarbeiter untergebracht wurden. Außerdem
befindet sich hier ein Gräberfeld für die Leichen von 34 ehemaligen
Häftlingen, die 2005 bei Baumaßnahmen entdeckt wurden. Außerhalb des
militärischen Sperrgebietes erinnert seit 2010 die Gedenkstätte „Wege
der Erinnerung“ an das ehemalige KZ-Außenlager Echterdingen.[8]
Gut fünf Kilometer nördlich der Messehallen quasi in Sichtweite über die
Autobahn hinweg befinden sich die Kelley Barracks, in denen seit 2007
das US-Oberkommando für Afrika (AfriCom) untergebracht ist und von dem
aus nicht nur zahlreiche Operationen der US-Army in Libyen, West- und
Zentralafrika, sondern auch tödliche Drohneneinsätze u.a. in Somalia
koordiniert werden. Etwa zehn Kilometer nordwestlich an der A8 bzw. am
südlichen Rand des Stuttgarter Talkessels entlang befinden sich am Rande
des Stadtbezirks Vaihingen die Patch Barracks, Sitz des EUCOM, dem
Oberkommando der US-Streitkräfte für Europa und das russische
Territorium. Fünf Kilometer südlich von diesem und zehn Kilometer
westlich der Messehallen erstrecken sich im Böblinger Wald großflächig
die „Panzer“-Baracken der US-Spezialkräfte, die wahlweise unter dem
Kommando des EUCOM oder des AfriCom eingesetzt werden können. Im
Waldgebiet zwischen Böblingen und Vaihingen, das fast nur durch die
Autobahnen A8 und A81 durchschnitten wird, befinden sich weitere
militärische Einrichtungen, darunter ein Schießstand der Bundeswehr und
die Kampfmittelbeseitigungsanlage des Landes Baden-Württemberg.
Inwiefern auch der direkt gegenüber dem EUCOM im Autobahnkreuz gelegene,
angeblich leerstehende aber gut bewachte Eiermann-Campus als ehemaliger
Hauptsitz des IBM-Konzerns in Deutschland mit seinem Sendeturm in die
militärische Infrastruktur eingebunden war oder ist, bleibt hingegen
bislang Gegenstand von Spekulationen.
Nordwestlich von Stuttgart: Thales und Atos
Etwas weiter westlich der Panzer Baracken befindet sich der
Hauptstandort des Kommandos Spezialkräfte (KSK) der Bundeswehr sowie ein
Forschungscampus der Firma Bosch, der bislang auch vom KSK für Übungen
genutzt wurde. Mehr noch als die im engeren Sinne militärischen
Liegenschaften im Großraum Stuttgart weisen jedoch v.a. die dortigen
High-Tech-Betriebe und Forschungseinrichtungen enge Bezüge zur ITEC und
den dort behandelten Themen auf. Folgt man etwa der A81 nach ihrer
Abzweigung von der A8 in nördliche Richtung, so beginnt nach dem
Engelbergtunnel und einigen Feldern westlich der Autobahn die Bebauung
der kleinen Stadt Ditzingen mit dem in den letzten Jahren umfangreich
ausgebauten deutschen Hauptsitz des Rüstungsunternehmens Thales, nach
Rheinmetall wichtigster Sponsor der diesjährigen ITEC. Das Unternehmen
entstand aus der politisch gewollten Zusammenlegung der Rüstungssparten
verschiedener französischer Unternehmen und ist neben der Luft- und
Raumfahrt v.a. auf militärische Kommunikations- und Informationssysteme
spezialisiert. Da sich in den vergangenen Jahren jedoch die
Anforderungen ziviler und militärischer Datenverarbeitung und
-übertragung aufeinander zubewegt haben, kann das Unternehmen Thales
auch zunehmend auf „zivilen“ Märkten agieren und entsprechende
Forschungsgelder aquirieren. Nach Angaben des Rechercheprojektes
‚Security for Sale‘ war Thales jener Konzern, der am umfangreichsten von
den EU- Forschungsprogrammen FP7 und Horizon2020 profitierte.[9] Hierbei
wurden unter reger Beteiligung klassischer Rüstungsunternehmen Szenarien
für die „zivile Sicherheit“ ausgearbeitet und daraus Fragestellungen
abgeleitet, die dann in hunderten Einzelprojekten von
Forschungsverbänden aus Unternehmen, Universitäten bzw.
Forschungseinrichtungen und „Anwendern“, also häufig Polizeien und
Sicherheitsbehörden, bearbeitet wurden. Die meisten Projekte bezogen
sich auf Sensorik/Datenerfassung, die Aufarbeitung von Daten für
Mensch-Maschine-Schnittstellen (Bildschirme, Lagezentren usw) sowie die
sichere Kommunikation zwischen Sensorik, Auswertungs- und Lagezentren
sowie Einsatzkräften. Aus diesem für die Projekte typischen Design und
der aktiven Rolle von Thales bereits in der Konzeption der
Forschungsprogramme erklärt sich auch die herausragende Rolle des
Konzerns unter den Nutznießer*innen. Ähnliches gilt für den Mega-Konzern
ATOS, der in Sichtweite des Thales-Hauptsitzes in Ditzingen im
benachbarten Weilimdorf neuerdings ebenfalls eine Niederlassung
unterhält. ATOS ist auf Großkunden, also staatliche Behörden und
Unternehmen mit vergleichbaren Ausmaßen, ausgerichtet und seine Aufgabe
besteht hier in der Systemintegration, also der Abstimmung der
verschiedenen Komponenten von Kommunikations- und Informationsnetzwerken
aufeinander. Auch dieses Profil passt bestens zum Design der
EU-Forschungsprogramme und entsprechend war ATOS nach Thales,
Finmeccanica (heute: Leonardo), Airbus (allesamt auf der ITEC vertreten)
und dem staatlichen finnischen Forschungszentrum VTT deren fünftgrößter
unternehmerischer Nutznießer.[10]
Rüstungsforschung für die „zivile Sicherheit“
Um den Zusammenhang zwischen Rüstungsindustrie und Sicherheitsforschung
besser zu verstehen, hilft es, der A8 gut sechzig Kilometer weiter in
westlicher Richtung nach Karlsruhe zu folgen. Hier und im benachbarten
Ettlingen waren das Fraunhofer Institut für Informations- und
Datenverarbeitung (IITB) und das FGAN-Institut für Optronik und
Mustererkennung (FOM) angesiedelt, bevor sie 2010 zum Fraunhofer
Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung (IOSB)
fusioniert wurden. Die Fusion ging auf die Initiative des
Bundesverteidigungsministeriums (BMVg) zurück, das zuvor das FOM fast
alleine, das IITB jedoch nur zu einem kleineren Teil finanziert hatte.
Das BMVg erhoffte sich durch deren Fusion eine bessere Anbindung an die
zivile Wissenschaft und eine schnellere Umsetzung wissenschaftlicher
Erkenntnisse in militärische wie auch zivile Produkte.[11] Als
Katalysator hierfür dienten die vom BMVg noch vor ihrer Bekanntgabe
explizit benannten, oben genannten Forschungsprogramme, welche eine enge
Einbeziehung (ziviler) Anwender*innen und der Rüstungsindustrie in
konkrete, szenarienbasierte Forschung gewährleisteten. Der Plan ging
erstaunlich gut auf: Aus dem von älteren Herren dominierten und unter
militärischer Geheimhaltung agierenden FOM wurde das nach eignen Angaben
größte Institut im Feld der Bildgewinnung, Bildverarbeitung und Analyse
Europas mit besten Beziehungen in die Universitäten, Behörden, zur
Rüstungsindustrie und zur Bundeswehr. Entsprechend forschte das IOSB in
den Folgejahren nicht nur gemeinsam mit der Bundeswehr an der
Optimierung der Bildauswertung der Luna-Drohne (u.a. in Afghanistan),
sondern auch mit Thales, Airbus, der (damaligen) Carl Zeiss AG und dem
Deutschen Zentrum Luft- und Raumfahrt (DLR) zur vermeintlich zivilen
Überwachung des Mittelmeers mit Satelliten, Drohnen und Sensorbojen u.a.
zur Bekämpfung illegalisierter Migration. 2015 unterzeichneten auch das
IOSB und Atos einen Kooperationsvertrag.
Ein militärisch-forschungsindutrieller Komplex im Ländle
Dass sich Deutschland und der Cluster in Baden-Württemberg in der
Europäischen Sicherheitsforschung gut positionieren konnten, ist nicht
nur der vorausschauenden Umstrukturierung der zivilen und militärischen
Forschungslandschaft zu verdanken, sondern auch einem parallel zu den
EU-Programmen im Jahr 2007 angelaufenen Programm nationaler
Sicherheitsforschung im Rahmen der High-Tech-Strategie der
Bundesregierung, das seit dem über 540 Millionen Euro aus dem Budget des
Bundesforschungsministeriums und mehr als 122 Millionen Euro aus der
Industrie erhielt.[12] Angekündigt wurde das Programm 2006 auf der
ersten und seither regelmäßig stattfindenden Konferenz „Future Security“
des Fraunhofer-Verbunds Verteidigungs- und Sicherheitsforschung (VVS) am
Standort des damaligen FOM in Ettlingen von der damaligen
Bundesbildungsministerin Annette Schavan,[13] die zuvor (bis 2005) zehn
Jahre lang Kultusministerin des Landes Baden-Württemberg war.
Mit dem im November 2017 verabschiedeten neuen Polizeigesetz
Baden-Württemberg schuf das Land erneut beste Bedingungen für die zeit-
und praxisnahe Umsetzung neuer Technologien: Mit dem neuen Gesetz habe
das Land „erstmals einen rechtlichen Rahmen für solche Methoden“
geschaffen, frohlockte das IOSB und kündigte an, dass „[d]as am
Fraunhofer IOSB entwickelte, computergestützte Investigationssystem
ivis-X für die digitale Forensik“ nun „erstmals in der realen Anwendung
getestet und weiterentwickelt werden“ könne.[14] Fast könnte man meinen,
bei dem neuen Polizeigesetz, mit seinen schweren und tw. bizarren
Angriffen auf Grundrechte[15] gehe es v.a. um Forschungs- und
Industrieförderung. Tatsächlich jedoch hatte das IOSB (bzw. sein
Vorgängerinstitut IITB) bereits andere Tests unter realitätsnahen
Bedingungen durchgeführt: Mehrfach wurden große Musik-Festivals mit
Ballonkameras und Drohnen von oben gefilmt und die gewonnenen Bilder in
einem Container mit Kartendaten aufbereitet auf einem Lagetisch
dargestellt, der auch von den Festivalbesucher*innen begutachtet werden
konnte.[16] Dass es sich hierbei um eine Erprobung der Systeme AMFIS und
„Digitaler Lagetisch“ handelte, die das IOSB im Auftrag des
Bundesverteidigungsministerium entwickelt hatte, wurde den
Besucher*innen – soweit bekannt – allerdings nicht mitgeteilt. Weitere
Erprobungen des im militärischen Auftrag entwickelten Systems fanden bei
Übungen u.a. mit der Feuerwehr Mannheim statt.[17]
Künstliche Intelligenz und Big Data
Dem Thema „Öffentliche Sicherheit – intelligente Videoauswertung“ hat
das Fraunhofer IOSB 2017 eine Schwerpunktausgabe seiner Zeitschrift
visIT gewidmet, in der neben der „Forensische[n] Bildanalyse“ auch die
„Sensorbasierte Verhaltensanalyse“, die „Gesichtswiedererkennung in
Videomassendaten“ und ein „Video-basiertes Assistenzsystem für die
Sicherheit von Großveranstaltungen“ vorgestellt werden.[18] Wie sich
bereits in den genannten Titeln andeutet, ist hierbei die „Auswertung …
großer Datenmengen“ ein zentrales Thema – und damit die künstliche
Intelligenz. Das führt uns zu einem weiteren Großprojekt der deutschen
Forschungspolitik in Baden-Württemberg, das sog. Cyber Valley. Die
zugrundeliegende Kooperation wurde am 16. Dezember 2016 im Stuttgarter
Neuen Schloss von Ministerpräsident Winfried Kretschmann und dem
Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft feierlich begründet: Neben den
Universitäten Stuttgart und Tübingen beteiligen sich die Unternehmen
Bosch, Daimler, Porsche, BMW, ZF Friedrichshafen und Facebook, später
ist noch Amazon hinzugekommen. Ziel ist es, „die Forschungsaktivitäten
von internationalen Key-Playern aus Wissenschaft und Industrie auf dem
Gebiet der Künstlichen Intelligenz“ zu bündeln: „Gefördert durch das
Land Baden-Württemberg werden die Cyber Valley-Partner neue
Forschungsgruppen und Lehrstühle auf den Gebieten Maschinelles Lernen,
Robotik und Computer Vision schaffen und in einem neuen Zentrum in der
Region Stuttgart-Tübingen zusammenführen… Erklärtes Ziel von Cyber
Valley ist es, die Ergebnisse der Grundlagenforschung rasch zur
Anwendung zu bringen“.[19]
Grob räumlich definiert ist das Cyber Valley durch den erst letztes Jahr
fertiggestellten, neueren Standort des MPI für Intelligente Systeme in
Tübingen und den Standort bei Stuttgart-Vaihingen, der seit 2011
besteht. Hervorgegangen ist der Stuttgarter Standort aus dem ehemaligen
Max-Planck-Institut (MPI) für Metallforschung, das wiederum eine sehr
ausgeprägte militärische Geschichte aufweist. Der damalige Präsident der
Kaiser-Wilhelms-Gesellschaft (KWG) und heutige Namensgeber Max Planck
habe den Umzug von Berlin nach Stuttgart 1933 sogar explizit wegen der
„Nähe zu Friedrichshafen“ begrüßt, „mit Zeppelin und Dornier
traditioneller Standort der deutschen Luftfahrtindustrie“.[20] Die heute
– ebenso wie Daimler – wieder am Cyber Valley beteiligte ZF
Friedrichshafen AG war 1915 eine Ausgründung eben jener Zeppelin GmbH
und ist zu einem großen Teil in der Rüstung aktiv.
Laserwaffenforschung am Campus Vaihingen
Gebaut wurde das damalige KWG-Gebäude in der Stuttgarter Seestraße. Nach
der Umbenennung und Umsturkturierung in ein MPI ist das Institut bis
2002 in einen Neubau am Rande des Ortsteils Büsnau umgezogen und liegt
dort nur gut 500 Meter nördlich des EUCOM in einer auf den ersten Blick
idyllischen Landschaft. Einen guten Kilometer östlich des MPI, über den
Katzenbach und durch ein Rotwildgehege, hat das Institut für Technische
Physik des Deutschen Zentrums Luft- und Raumfahrt (DLR) seinen Sitz. Der
Wissenschaftsrat schrieb hierüber 2007, dass die Aktivitäten des
Instituts „vorwiegend auf Anwendungsmöglichkeiten im wehrtechnischen
Bereich“ zielten und deshalb „in erster Linie das Bundesministerium der
Verteidigung (BMVg) sowie die deutsche wehrtechnische Industrie zu den
Auftraggebern und Kooperationspartnern des Instituts“ gehörten. „Ein
besonderer Schwerpunkt der aktuellen Forschungs- und
Entwicklungsarbeiten liegt in der Nachführung auf und
Positionsbestimmung von unkooperativen Targets im Luftraum mit
anschließender Einweisung eines Wirklasers“, heißt es auch im
Jahresbericht 2016 des BMVg zu dessen wehrwissenschaftlicher
Forschung.[21 Die Entwicklung von Laserwaffen am DLR in Stuttgart ist
umso bemerkenswerter, als hier zugleich „Weltraummüll-Forschung“
stattfindet. Dabei sollen im Weltraum fliegende Teile „in der
Größenordnung von einem Satelliten“ durch gepulste Laser so abgebremst
werden, dass sie in der Atmosphäre verglühen. In einigen Jahren könnte
es laut Stuttgarter Zeitung gar möglich sein, „den Himmel systematisch
leer räumen zu können“.[22]
Äußerlich fügt sich das DLR-Gelände nahtlos in den Campus der Univerität
Stuttgart-Vaihingen ein.[23] Die „lasergestützten Bahnbestimmung von
Trümmerteilen im All“ durch das hauptsächlich vom BMVg finanzierte
Institut erfolgt jedoch nicht vom Campus Vaihingen aus, sondern aus dem
Zentrum Stuttgarts: Seit 2013 unterhält das DLR hier ein
Forschungsobservatorium an der „Schwäbischen Sternwarte“ auf der
Uhlandshöhe,[24] etwa einen Kilometer westlich des Hauptbahnhofes, die
durchaus auch als Ausflugsziel bekannt ist.
Das andere Ende des Cyber Valley
Zwar plant das Institut für technische Physik zukünftig auch, deutlich
kleinere Teile im Weltraum zu registrieren und ihre Bewegung im Hinblick
auf mögliche Kollisionen zu simulieren, womit Bezüge zu Big Data und
künstlicher Intelligenz durchaus herzustellen wären. Dennoch ist nicht
anzunehmen, dass es (jenseits der räumlichen Nähe) eine wesentliche
Rolle im Cyber Valley spielen wird. Dessen eigentliches Herz schlägt
bislang auf einem Hügel im Norden Tübingens, wo bereits länger die
Max-Planck-Institute für Evolutionsbiologie und für biologische
Kybernetik angesiedelt sind und letztes Jahr – wiederum in Anwesenheit
des Ministerpräsidenten und des Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft
– der Tübinger Standort des MPI für Intelligente Systeme eingeweiht
wurde. Das Land hatte den Bau mit 41 Mio. Euro unterstützt, der u.a. ein
„variables Trainingsgelände für Roboter“ und eine „Capture Hall“
beinhaltet, in der ein „weltweit einzigartige[r] 4D-Ganzkörperscanner …
Körper und ihre Bewegungen vollständig in Raum und Zeit hochauflösend
aufnehmen kann“.[25] Mittlerweile hat auch der Amazon-Konzern die
Ansiedlung eines seiner Entwicklungszentren für Künstliche Intelligenz
auf dem Gelände angekündigt.
Die Vorarbeiten zum Cyber Valley gingen jedoch v.a. vom MPI für
biologische Kybernetik aus und begannen etwa zeitgleich mit der
Umstrukturierung der Institute in Karlsruhe. Auch hier war die
Vernetzung außeruniversitärer Institute mit der Hochschule einerseits
und der Industrie andererseits ein wesentlicher Meilenstein: 2007
bewarben sich das MPI für biologische Kybernetik, das Institut für
klinische Hirnforschung der Hertie-Stiftung und die neurologischen
Institute der Universität Tübingen gemeinsam im Rahmen der
Exzellenzinitiative um die Bildung eines Exzellenzclusters unter dem
Titel „Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften
(CIN)“, das daraufhin entsprechend gefördert wurde. 2010 gründeten CIN,
MPI für biologische Kybernetik und Universität Tübingen wiederum das
„Bernstein-Zentrum für Computational Neuroscience“, wiederum gefördert
mit 8 Mio. Euro aus dem Bundesforschungsministerium. Beide im Grunde
weitgehend deckungsgleiche Cluster fassten zunächst v.a. bestehende
Lehrstühle und Abteilungen zusammen und bildeten gemeinsame
Forschungsgruppen und Laboratorien. Sie und die damit verbundenen
Forschungsgelder und Karrieremöglichkeiten beförderten die
Neuausrichtung von (Sub-)Disziplinen der Psychologie, Mathematik,
Informatik und Biologie auf sog. Kognitionswissenschaften und die
künstliche Intelligenz. Die Erforschung von Nervenzellen und ihrer
messbaren Aktivitäten u.a. in umstrittenen Tierversuchen geht seither
nahtlos über in deren Simulation u.a. durch sog. künstliche neuronale
Netze. Die Erforschung menschlichen Bewegungshandelns und der räumlichen
Wahrnehmung von Mensch und Tier zielt primär auf deren Rekonstruktion
durch Roboter und sog. Intelligente Systeme sowie die Optimierung von
Mensch-Maschine-Schnittstellen. So waren CIN bzw. Universität Tübingen
am wiederum von der EU-Sicherheitsforschung geförderten Projekt „Smart
Eyes“ beteiligt, „das im Erkennen und Verarbeiten von bewegten Bildern
menschenähnliche Leistungen erreichen sollte“. Dabei waren „das Erkennen
von Auffälligkeiten im Aufnahmebereich sowie das Fixieren und Verfolgen
dieser Phänomene“ zentrale Aufgabenstellungen.[26] Der Beitrag der
Tübinger Arbeitsgruppe bestand darin, aus nachgestellten Szenen einiger
Handvoll Studierender eine Menschenmenge zu simulieren und Unterschiede
zwischen der Bewertung der so erstellten Szenen durch Polizisten und
automatisierte Software zu identifizieren – eine geradezu typische
Aufgabe der KI-Forschung. Beteiligt waren an dem Projekt neben
Universitäten und Forschungseinrichtungen ein Düsseldorfer
Veranstaltungsunternehmen und das Unternehmen Trackmen Limited.
Auch im Falle des Tübinger Clusters war es also u.a. die
EU-Sicherheitsforschung, die – wiederum unterstützt durch nationale und
regionale Förderprogramme – die Zusammenarbeit mit der Wirtschaft
forcierte. So wurde zwischen Ende 2011 und Ende 2014 das Projekt
„Wahrnehmungsbasierte Bewegungssimulation (WABS)“ des MPI für
biologische Kybernetik vom Bundesforschungsministerium mit gut einer
Mio. Euro gefördert. Im selben Zeitraum wurde ein ähnliches Projekt mit
dem Titel VR-Hyperspace von der EU mit 3,5 Mio finanziert, an dem neben
dem Tübinger MPI u.a. die bereits genannten, auf der ITEC vertretenen
Unternehmen Airbus und Thales beteiligt waren. Im Mittelpunkt stand
jeweils ein Bewegungssimulator im sog. Cybernarium des MPI für
biologische Kybernetik – ein fensterloser Bau, in dessen Inneren ein
Roboterarm eine Kabine in allen räumlichen Dimensionen bewegen und
neigen und mittels Projektionen den Flug durch virtuelle Landschaften
simulieren kann. Vergleichbare Funktionen waren auch beim Projekt SUPRA
gefragt, das – von der EU mit 3,7 Mio. Euro gefördert – die
Möglichkeiten verbessern sollte, kritische Situationen in
Flugsimulatoren abzubilden und zu trainieren.[27] Beteiligt waren hier
die Firmen Desdemona aus den Niederlanden und AMST-Systemtechnik aus
Österreich, die beide Flugsimulatoren insbesondere für militärische
Abnehmer produzieren und damit geradezu beispielhaft für den Kern jener
Technologien stehen, die auf der ITEC traditionell im Mittelpunkt stehen.
Geopolitisierung der Forschungspolitik
Zum Auftakt seiner Serie über die Zukunft des Krieges für Politico.eu
schreibt Bruno Maçães: „Die kommenden Kriege können bewaffnete Konflikte
sein, sie könnten aber auch radikal andere Formen annehmen:
Auseinandersetzungen um die Kontrolle von Infrastruktur,
Propagandaschlachten, Wettrennen um Technologien wie Künstliche
Intelligenz, Robotik, Cyberwar sowie Handels- und
Wirtschaftskriege“.[28] Der Gedanke ist nicht neu sondern in der
militärische Planung und Strategie innerhalb des Theoriegebäudes der
„Revolution in Military Affairs“ längst fest verankert. Obwohl trotz
jahrzehntelanger High-Tech-Rüstung die konkreten militärischen Erfolge
ausbleiben wird dort – sehr zur Freude der entsprechenden Sparten der
Rüstungsindustrie – weiterhin davon ausgegangen, dass diejenige Partei
den nächsten Krieg gewinnt, die am schnellsten die meisten Daten
erfassen und (wie auch immer) auswerten kann. Im gegenwärtigen Gerede
von „disruptiven Technologien“ gerade im Zusammenhang mit Künstlicher
Intelligenz und Robotik (und der Genetik) kann man gewissermaßen eine
Verallgemeinerung dieser militärischen Theorie auf die
Technologiepolitik erkennen. So argumentierte der Max-Planck-Präsident
Stratmann kürzlich im Deutschlandfunk für größere „Freiheitsgrade in der
Wissenschaft“ mit eher geopolitischen Argumenten: „Wir müssen den Mut
haben, Dinge zu machen, die riskanter sind… Aber ich glaube, auch die
Politik erkennt, dass es ein wesentliches Element der Zukunftssicherung
für Deutschland ist… Wir reden ja nicht nur von Deutschland, sondern wir
reden auch von großen Forschungsräumen, die untereinander in Konkurrenz
stehen. Das sind im Wesentlichen die USA, Asien und Europa, und unsere
Heimat ist Europa. Wir müssen also dafür sorgen, dass Europa stark
bleibt, stark wird“.[29]
Künstliche Intelligenz und erweiterte Realität auf der ITEC
In die ITEC eingebettet findet auch dieses Jahr eine Konferenz mit
Redner*innen aus dem Militär, der Wirtschaft und der Wissenschaft statt.
Grob die Hälfte der Beiträge stammen von Vertreter*innen der NATO, des
britischen und des US-amerikanischen Militärs.[30] In einigen dieser
Beiträge geht es um eher grundsätzliche Themen wie die Relevanz des
Kriegstheoretikers von Clausewitz in modernen Trainingsumgebungen, in
anderen um die Notwendigkeit, den zivilen Markt im Auge zu behalten, um
hier Innovationen abzuschöpfen. Interessant ist etwa die Begründung, mit
der ein Vortrag zur „Notwendigkeit der Interoperabilität im Bereich der
Live-Simulationen“ angekündigt wird. Hier habe die NATO-Operation
„Enhanced Forward Presence“, bei der multinationale NATO-Truppen
rotierend in Osteuropa stationiert werden und kontinuierlich Manöver
durchführen, die Rolle eines „Katalysators“ eingenommen: „Unter der
Annahme, dass ‚Übung der neue Einsatz‘ im (ost-)europäischen Raum sei,
haben Simulationssysteme nahezu den selben Status erreicht, wie
Waffensysteme“. Ein Dr. Martin Rother wird hingegen darüber berichten,
dass die NATO Wissenschafts- und Technologieorganisation (NATO-STO) 15
disruptive Technologien identifiziert hätte, deren Fortschritte sie
überwacht und eine Arbeitsgruppe der NATO für Modellierung und
Simulation (NATO Modelling & Simulation Group, NMSG) entsprechende
„zukünftige Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten in die effektivste
und effizienteste Richtung zu dirigieren“ versucht. Ein Vertreter der
EU-Rüstungsagentur EDA wird gemeinsam mit einem Vertreter der
französischen Firma Diginext die Pläne der EU vorstellen, im Zuge der
Entwicklung einer eigenen bewaffneten Drohne die
Ausbildungseinrichtungen für unbemannte Systeme der betreffenden Staaten
zu vernetzen und so eine Umgebung zu schaffen, in der „Taktiken,
Techniken und Prozeduren“ für das neue Waffensystem entwickelt werden
können.
Während Rheinmetall als Platin-Sponsor der Veranstaltung auf drei der
insgesamt knapp hundert angekündigten Einzelvorträge auf der Konferenz
vertreten ist, zeigt Thales mit acht Mitarbeiter*innen auf fünf
Vorträgen nahezu die gesamte Bandbreite der behandelten Themen ab: Sie
stellen u.a. ein für das (insgesamt auf der ITEC stark vertretene)
niederländische Militär entwickeltes System zur Simulation militärischer
Dilemmas vor, beschreiben verbesserte Systeme für Flugsimulatoren und
die Möglichkeiten, Umgebungen für elektronische Kriegführung zu
simulieren. Ebenfalls gut vertreten ist die TNO, die (stark
wehrtechnisch ausgerichtete) Niederländische Organisation für angewandte
Wissenschaften, und jene Forschungseinrichtung, die nach der
Fraunhofer-Gesellschaft und der Schwedischen Gesellschaft für
Wehrforschung am umfangreichsten von der EU-Sicherheitsforschung
profitierte. Die TNO wird u.a. darüber berichten, wie sich
Raktenabwehrsysteme virtuell testen und Trainingsumgebungen räumlich
optimieren lassen. Ein weiterer Beitrag der TNO beschäftigt sich mit der
Fragestellung, wie Übungsgelände für Militärische Operationen in urbanem
Gelände (MOUT) mit Leben gefüllt werden können. In der Ankündigung heißt
es: „Trotz der großen Zahl von MOUT-Trainingseinrichtungen auf dem
Globus sind die Möglichkeiten bislang begrenzt umgesetzt, diese in
dynamische ‚real world‘-Übungsgelände zu verwandeln. Die Umgebung ist
meist statisch hinsichtlich der Gebäude und erscheint leer wegen der
begrenzt verfügbaren Rollenspieler und Objekte“. Demgegenüber soll ein
System vorgestellt werden, das „virtuelle Rollenspieler in die Umgebung
einfügt und die kinetischen und nicht-kinetischen Handlungen der
Soldaten erfasst, durch die sie mit diesen in Interaktion treten“. Mit
der Simulation und Interaktion von zivilen, polizeilichen und
militärischen Akteuren in Städten unter Krisenszenarien setzen sich
weitere Beiträge auseinander. Ein Vertreter der NATO wird ein System
vorstellen, mit dem sich das Versagen kritischer Infrastrukturen in
virtuellen Städten und die Reaktionen der Bevölkerung in den Social
Media simulieren und erfassen lassen. Dennis Duke, Professor am Florida
Institute of Technology, möchte hingegen darstellen, welche
kommerziellen Produkte es bereits gibt, mit denen sich Situationen wie
nach den Hurricans Harvey, Irma und Maria in Florida, Texas und Puerto
Rico oder nach dem Erdbeben 2017 in Mexiko abbilden lassen.
Eine weitere Rednerin ist Kimberly Himmer, ehemalige Offizierin der
US-Marineaufklärung und Mitbegründerin der Firma Articulated Python, die
v.a. militärische Kundschaft hat und sich vor diesem Hintergrund mit den
speziellen Anforderungen von Serious Games für Erwachsene
auseinandersetzt. Gleich auf der (aktuellen Startseite des
Internetauftritts des Unternehmens ist eine digitale Darstellung eines
zivil gekleideten Mannes mit Turban, Gewehr und Fadenkreuz auf der Brust
zu sehen. Bei „Serious Games“ handelt es sich um simulierte Umgebungen,
die auf unterhaltsame Weise Fähigkeiten vermitteln sollen, die durchaus
auch sinnvolle zivile Anwendungen haben können. Auch Prof. Alessandro De
Gloria von der Universität Genua zum Thema Serious Games sprechen und
unterstreicht bereits im Ankündigungstext die Notwendigkeit, in der
nächsten Dekade „fesselnde Abenteuer in hochgradig realistischen
Umgebungen mit einer Fülle von Informationen“ zu entwickeln. Zwar
handelt es sich bei De Gloria um einen der wenigen vortragenden
Wissenschaftler ohne unmittelbare militärische oder unternehmerische
Anbindung, Berührungsängste mit Militär und Rüstung bestehen jedoch
offenbar nicht. Er ist Präsident der Serious Games Society (SGS), die
aus dem EU-Projekts GALA (Game and Learning Alliance) hervorgegangen
ist. Explizites Ziel des von der EU mit gut 5,6 Mio. Euro geförderten
Exzellenznetzwerks GALA bestand darin, „die Forschung zu Serious Games
zu erfassen, zu integrieren, zu harmonisieren und zu koordinieren“.
Beteiligt waren u.a. die NATO Wissenschafts- und Technologieorganisation
(NATO-STO), ATOS und das britische Unternehmen PlayGen Ltd, das u.a.
Trainingssimulationen für Polizeibehörden und die Armee herstellt.[31]
Gegen Rüstung, Überwachung und die Militarisierung der Forschung
Die ITEC soll 2018 erstmals in Stuttgart stattfinden, nachdem sie in
Köln nicht mehr willkommen war. Auch in Stuttgart regen sich allerdings
Proteste gegen die Vermietung der Landesmesse für das Schaulaufen der
Rüstungsindustrie. Bereits am 18. Oktober 2017 hatte eine Kundgebung vor
den Messehallen und am 25. Januar Proteste vor dem Stuttgarter Rathaus
stattgefunden. Dabei wurde Finanzbürgermeister Michael Föll, zugleich
Vorsitzender des Messe-Aufsichtsrats, ein Protestbrief überreicht. Am
Karfreitag (30. März) ist im Rahmen der Ostermärsche 2018 um 14:00 Uhr
vor dem Hotel Mövenpick neben dem Flughafen eine weitere Aktion geplant.
Der Ostermarsch Stuttgart am 31. März wird dieses Jahr vor dem Rathaus
in der Innenstadt beginnen, um die Komplizenschaft der Stadt mit der
Rüstungsindustrie, dem deutschen und dem US-Militär anzugreifen. Auch
während der ITEC-Messe Mitte Mai werden Kundgebungen auf dem Messe- und
Flughafengelände stattfinden.
Die Ostermärsche und die Proteste gegen die ITEC bieten eine gute
Gelegenheit, die traditionellen Anliegen der Friedensbewegung und
insbesondere den Widerstand gegen die Erhöhung der Rüstungsausgaben mit
der Kritik an einer Forschungs- und Technologiepolitik zu verbinden, die
sich in den Dienst der Aufrüstung stellt und militärische Technologien
auf die Anwendung im zivilen Umfeld vorbereitet. Krieg beginnt hier!
Anmerkungen
[1] Siehe z.B.: „Rheinmetall AG“, aufschrei-waffenhandel.de
[2] „Rheinmetall modernisiert und erweitert das Gefechtsübungszentrum
Heer der Bundeswehr“, rheinmetall.com vom 29.9.2016.
[3] Bundestags-Drucksache 17/10589.
[4] ITEC 2018, defence-suppliers.com.
[5] „Key Themes“, www.itec.co.uk.
[6] Martin Kirsch: Militarisierung der Polizei – Massive Aufrüstung im
Namen der Terrorabwehr, IMI-Studie 2017/05.
[7] „About Stuttgart“, www.itec.co.uk.
[8] Nikolaus Back und Bernd Klagholz: KZ-Gedenkstätte
Echterdingen-Bernhausen, Landeszentrale für Politische Bildung,
Fachbereich Gedenkstättenarbeit,
https://www.gedenkstaetten-bw.de/fileadmin/gedenkstaetten/pdf/gedenkstaetten/filderstadt_kzgedenkstaette_echterdingen_bernhausen.pdf.
[9] Siehe: Kai Biermann und Christian Fuchs: 800.000 Euro für einen
Terror-Airbag, der nie fertig wurde, zeit.de vom 23.2.2017.
[10] Ebd.
[11] Christoph Marischka: Fraunhofer IOSB – Dual Use als Strategie,
IMI-Studie 02/2017.
[12] „Zahlen und Fakten zum Sicherheitsforschungsprogramm“, sifo.de vom
Juli 2017.
[13] Eric Töpfer: Entwicklungsauftrag „Zivile Sicherheit“, in:
Bürgerrechte & Polizei/CILIP 94 (3/2009) .
[14] „Intelligente Videoüberwachung: Mehr Privatsphäre und Datenschutz“,
iosb.fraunhofer.de vom 16.1.2018.
[15] Alexander Kleiß: Neues Polizeigesetz in Baden-Württemberg –
Militarisierung der Polizei und schwere Eingriffe in Grundrechte,
IMI-Analyse 2017/47.
[16] In einem Fall wurde dies vom Chaos Computer Club vehement
kritisiert, woraufhin der Veranstalter des Festivals, der SWR, erklären
musste, dass „zu keinem Zeitpunkt, weder von der Stadt Heidenheim als
örtlichem Veranstalter noch vom Südwestrundfunk, ein Auftrag erteilt
[wurde], die Überwachung der Gäste zu übernehmen. Lediglich
vorbesprochen wurde der eventuelle Einsatz eines kleinen Fesselballons,
der Luftbilder für die Fernsehberichterstattung im SWR Fernsehen liefern
könnte“. Siehe: „ARD und Fraunhofer proben die Totalüberwachung“, ccc.de
vom 15.9.2011.
[17] Karl Urban: Luftunterstützung für die Feuerwehr, deutschlandfunk.de
vom 6.2.2013.
[18] Fraunhofer IOSB: Öffentliche Sicherheit – intelligente
Videoauswertung, visIT 3/2017.
[19] „Die künstliche Intelligenz findet ein Zentrum“, Startseite von
cyber-valley.de (abgerufen am 16.3.2018).
[20] Helmut Maier: ‚Wehrhaftmachung‘ und ‚Kriegswichtigkeit‘ – Zur
rüstungstechnologischen Relevanz des Kaiser-Wilhelm-Instituts für
Metallforschung in Stuttgart vor und nach 1945, Herausgegeben von Carola
Sachse im Auftrag der Präsidentenkommission der Max-Planck-Gesellschaft
zur Förderung der Wissenschaften e. V.
[21] BMVg: Wehrwissenschaftliche Forschung – Jahresbericht 2016.
[22] Anja Tröster: Ein Laser soll den Himmel leerfegen,
Stuttgarter-Zeitung.de vom 12.1.2012.
[23] „Goldgelber Kern“, german-architects.com vom 27.9.2017.
[24] „Weltraumschrott-Forschungsobservatorium Uhlandshöhe“, dlr.de.
[25] „Ein Leuchtturm für die künstliche Intelligenz“, mpg.de vom 12.7.2017.
[26] „Smart Eyes: Erkennen auffälliger Ereignisse“, fit.fraunhofer.de.
[27] Christoph Marischka: Alzheimer- oder Drohnenforschung?, Telepolis
vom 18.9.2014.
[28] Bruno Maçães: The most valuable military real estate in the world,
politico.eu vom 15./16.1.2018.
[29] „’Glaubwürdigkeitskrise der gesellschaftlichen Eliten‘ – Martin
Stratmann im Gespräch mit Ralf Krauter“, deutschlandfunk.de vom 24.1.2018.
[30] Die folgende Beispiele und Zitate entstammen dem Konferenzprogramm
der ITEC (itec.co.uk/conference-agenda) mit Stand vom 18.3.2018.
[31] EU-CORDIS: Game and Learning Alliance, sowie zu PlayGen Ltd.:
http://playgen.com/play2/.
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