[IMI-List] [0302] NATO und Migration / NATO-Broschüre / Studie Bundeswehr-Werbemaßnahmen
Informationsstelle Militarisierung
imi at imi-online.de
Mi Jan 14 13:16:53 CET 2009
----------------------------------------------------------
Online-Zeitschrift "IMI-List"
Nummer 0302 .......... 13. Jahrgang ........ ISSN 1611-2563
Hrsg.:...... Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.
Red.: IMI / Christoph Marischka / Jürgen Wagner
Abo (kostenlos)........ IMI-List-subscribe at yahoogroups.com
Archiv: ....... http://www.imi-online.de/mailingliste.php3
----------------------------------------------------------
Liebe Freundinnen und Freunde,
in dieser IMI-List finden sich:
1) Eine IMI-Studie zu Werbemaßnahmen der Bundeswehr;
2) Der Hinweis auf eine in Kürze erscheinende NATO-Broschüre;
3) Eine IMI-Analyse zur Rolle der NATO bei der Militarisierung der
Migration.
1) IMI-Studie zu Werbemaßnahmen der Bundeswehr
IMI-Studie 2009/1
Die Bundeswehr im Kampf an der Heimatfront
Der Kampf um die "Hearts & Minds" der deutschen Bevölkerung und um neue
RekrutInnen für weltweite Militärinterventionen
http://www.imi-online.de/download/glasser2009dr.pdf
14.1.2009, Michael Schulze Glaßer
Die Studie liefert einen ausführlichen Überblick über die
Bundeswehr-Werbemaßnahmen. Sie beschäftigt sich mit bundeswehreigenen
Werbeveranstaltungen, Rekrutierungsmedien der Bundeswehr und Werbung in
öffentlichen Medien sowie Rekrutierungsveranstaltungen in Arbeitsämtern
und Bildungsstätten.
http://www.imi-online.de/download/glasser2009dr.pdf
2) NATO-Mobilisierungsbroschüre
Die Mobilisierung zu den Protesten gegen den NATO-Gipfel Anfang April
laufen auf Hochtouren. Als Hintergrundmaterial sind wir augenblicklich
dabei, eine umfangreiche Broschüre zu erstellen, die die NATO
Kriegspolitik möglichst umfassend beleuchten und spätestens Ende Januar
erscheinen soll.
Die Broschüre wird 64 Seiten (A4) umfassen und 2 Euro (plus Porto)
kosten. Damit wir die Auflage besser planen (und den Verkaufspreis so
niedrig halten) können, freuen wir uns schon jetzt über möglichst viele
Vorbestellungen: imi at imi-online.de
Auch der folgende Text wird in der NATO-Broschüre erscheinen.
3) IMI-Analyse zur Rolle der NATO bei der Militarisierung der Migration.
IMI-Analyse 2009/001
Weltherrschaft durch die Kontrolle von Strömen
Die Rolle der NATO bei der Militarisierung der Migration
http://www.imi-online.de/2009.php3?id=1872
14.1.2009, Christoph Marischka
In dieser Analyse werden verschiedene Aspekte der NATO-Strategie
beleuchtet, welche die Bewegungsfreiheit von Menschen einschränken und
zu einer Militarisierung der Grenzregime rund um den Globus beitragen.
Der Autor möchte sich von einigen der hierbei verwendeten
menschenverachtenden Begriffen wie "Migrationsströme", "Youth Bulge" und
"Surplus Population" distanzieren. Diese sind nicht geeignet,
individuelle Entscheidungen und Notlagen oder deren Folgen angemessen zu
beschreiben - es sei denn, man strebt die Weltherrschaft an und
analysiert hierfür demografische Trend im kontinentalen Maßstab, wie es
die NATO tut.
Active Endeavour
Unmittelbar nach den Anschlägen vom 11.9.2001 erklärte die NATO erstmals
in der Geschichte den NATO-Bündnisfall und begann damit tatsächlich
einen Krieg gegen einen unsichtbaren und abstrakten Feind, den
Internationalen Terrorismus. Als Teil des globalen Krieg gegen den
Terror wurde die NATO-Mittelmeerflotte aktiviert, die seit dem im Rahmen
der Operation Active Endeavour das Mittelmeer patrouilliert, um die
Handelsschifffahrt zu überwachen. Bis November 2007 wurden im Rahmen
dieses Einsatzes 88.590 Schiffe kontaktiert, 488 begleitet und 125
kontrolliert. Wie solche Kontrollen ablaufen, offenbart ein
NATO-Propagandavideo mit dem Titel "Defence against terrorism": mehrere
Kriegsschiffe steuern das Zielobjekt - in diesem Falle ein Tanker - an,
Hubschrauber mit bemanntem Maschinengewehr überfliegen es. Über Funk
wird das Schiff kontaktiert, zu Herkunft, Ladung und Ziel befragt. Diese
Angaben werden mit den Aufklärungsdaten aus dem "intelligence network"
der NATO abgeglichen. Bei Unstimmigkeiten und nach dem Zufallsprinzip
werden Kontrollen durchgeführt. Die Besatzung muss sich an Deck
versammeln, NATO-Soldaten setzen mit Schlauchboten über und betreten das
Schiff mit schusssicheren Westen und ihren Gewehren im Anschlag. Sie
werfen einen Blick in die Logbücher und auf die Ladung und durchstreifen
die Gänge und Räume des Tankers.
Solche Kontrollen auf See sind nur im Kriegszustand zulässig, der
tatsächlich mit dem NATO-Bündnisfall für das Mittelmeer ausgerufen wurde
und bis heute in Kraft ist. Offiziell soll Active Endeavour dafür
sorgen, dass keine Terroristen, vor allem aber auch keine Waffen und
Kampfstoffe über das Mittelmeer nach Europa gelangen. Bei den Kontrollen
wird aber darüber hinaus auch nach "nicht Spezifischem" gesucht. Die
Soldaten versuchen, sich ein Bild des Schiffes zu machen und achten auf
alles, was verdächtig ist. "Bislang verliefen alle Inspektionen
negativ", heißt es in dem Film, "das heißt, wir haben niemals Waffen
oder verdächtiges Material gefunden". Nicht zu unterschätzen sei aber
die präventive Wirkung der Operation. Durch den militärischen Aufmarsch
im Mittelmeer sollen die Bootsbesatzungen eingeschüchtert und zum
vorauseilenden Gehorsam gezwungen werden. Das bedeutet auch, die Ladung
genau zu kontrollieren, rigoros gegen blinde Passagiere vorzugehen und
in Seenot geratene Bootsflüchtlinge im Zweifelsfall nicht zu retten.
Denn eine Rettung von Schiffbrüchigen im Mittelmeer hat bereits mehrfach
zu Anzeigen gegen die Bootsbeatzungen geführt.
Dass die Militarisierung des Mittelmeers, das eine der wichtigsten
Außengrenzen der EU und einen Raum darstellt, der eines der größten
Wohlstandsgefälle weltweit überbrückt, als Teil einer
Abschottungsstrategie der EU gegenüber unerwünschten MigrantInnen
Wirkung zeigt, versucht zumindest die us-amerikanische Botschafterin in
Malta glaubhaft zu machen. Die Operation Active Endeavour hätte einen
"nützlichen Nebeneffekt": "Im westlichen Teil des Mittelmeeres, wo die
Mission begann, wurde die irreguläre Migration um 50% reduziert."[1]
Darin jedoch den Hauptzweck der Operation zu sehen, ist zweifelhaft.
Dieser ist vielmehr in dem langfristigen Ziel zu finden, eine
globalisierte Welt, die aus Sicht der NATO-Strategen in erster Linie aus
Strömen von Waren, Informationen und Menschen besteht, durch die
militärische Kontrolle dieser Ströme zu beherrschen. Als Vorwand hierfür
dient im Augenblick v.a. der Terrorismus - nicht nur im Mittelmeer.
Vergrenzung Afrikas
Dass die NATO 2006 ihr erstes offizielles Maneuver in Afrika (Steadfeast
Jaguar) zunächst in Mauretanien abhalten wollte und dann auf die
Kapverdischen Inseln auswich, von wo kurz zuvor die Zahl der
Bootsflüchtlinge auf die Kanaren eben wegen der zunehmenden Abschottung
des Mittelmeeres sprunghaft anstieg, ist ebenfalls weitgehend Zufall.
Das Interesse der NATO an der westafrikanischen Küste begründet sich
vorrangig in den dortigen Rohstoffvorkommen und den dort endenden
Ölpipelines aus Nigeria und Zentralafrika.[2] Insbesondere die Küste vor
Nigeria gilt als "Hot Spot" der Piraterie und soll deshalb verstärkt von
internationalen Flottenverbänden kontrolliert werden, um die günstige
und sichere Versorgung der Ersten Welt mit Öl aus der Dritten zu
gewährleisten. Doch auch hier läuft man Gefahr, das Interesse der NATO
zu spezifisch zu interpretieren, wenn man lediglich an Öl denkt. Ein
Jahr später, im Juli 2007, umschiffte ein Teil der NATO-Mittelmeerflotte
ganz Afrika, um "die Fähigkeit der NATO zu demonstrieren, Sicherheit und
internationales Recht auf hoher See zu gewährleisten".[3] Hierzu
passierte die Flotte die westafrikanische Küste, zeigte Präsenz im
Niger-Delta und fuhr dann weiter nach Südafrika, wo eine gemeinsame
Übung mit der dortigen Marine abgehalten wurde. Anschließend besuchten
die Kriegsschiffe noch die Seychellen und hielten sie ein Maneuver vor
Somalia ab - wo ohnehin, ebenfalls seit 2001, ständig NATO-Schiffe im
Rahmen der Operation Enduring Freedom präsent sind - bevor sie durch den
Suez-Kanal ins Mittelmeer zurückkehrten.
Die US-Marine hat außerdem eine Initiative namens "Africa Partnership
Station" begründet, in deren Rahmen regelmäßig us-amerikanische
Kriegsschiffe in westafrikanische Häfen einlaufen um gemeinsame Übungen
oder Kurse für die jeweilige Küstenwache und Marine abzuhalten. Ziel der
Initiative ist es, "die Fähigkeit der beteiligten Nationen zu
verbessern, die Herrschaft des Rechts auf die See auszudehnen und
illegale Fischerei, Menschenschmuggel, Drogenhandel, den Diebstahl von
Öl und die Piraterie besser bekämpfen zu können".[4] Obwohl dies
zunächst rein us-amerikanische Einsätze sind, nutzen die US-Streitkräfte
für ihre Operationen in Afrika fast immer die NATO-Stützpunkte in
Europa, viele der eingesetzten Schiffe sind dort dauerhaft stationiert
und zeitweise Teil von NATO-Verbänden. Auch die EU ist in Westafrika
militärisch aktiv. Bislang nur in Guinea-Bissau, sie will dieses
Engagement aber ausdehnen. Ihr dienen als Begründung der Drogenhandel,
der von dieser Region ausginge, sowie die wenig zuverlässigen
Sicherheitskräfte. Durch Reformen der Polizeien und Militärs der
jeweiligen Länder sowie die Installation eigener Überwachungstechnologie
will sie eine bessere Überwachung der See- und Flughäfen erzielen.[5]
Denn Knotenpunkte internationaler Ströme, die nicht der eigenen
Kontrolle unterliegen, gelten per se als Bedrohung der europäischen
Sicherheit.
Die Drogenbekämpfung ist auch eines der Ziele, dem neben der
Migrationsabwehr das spanische Projekt Sea Horse Network dienen soll.
Dieses beinhaltet im Kern die Weitergabe europäischer
Echtzeit-Satellitenaufnahmen der westafrikanischen Küste an die
jeweiligen Sicherheitsbehörden, daneben aber auch Ausbildungsprogramme
der jeweiligen Sicherheitskräfte im Grenzmanagement.[6] Ähnliche
Programme planen die USA in nahezu allen afrikanischen Staaten im Rahmen
des Counter-Terrorism. Grenzsicherung wird in Afrika als wichtigstes
Instrument im Krieg gegen den Terror gesehen. Allein schon deshalb, weil
sog. gescheiterte Staaten per se als Hort und Rückzugsbasis für
Terroristen sowie als Umschlagplatz für (Massenvernichtungs-)Waffen
gelten und die Kontrolle der eigenen Grenzen aus westlicher Sicht eines
der wesentlichen Merkmale von Staatlichkeit gilt. Aber auch, weil
Analysen scheinbar ergeben haben, dass sehr instabile Staaten zwar
Möglichkeiten zur Finanzierung und Rekrutierung für Terrorgruppen
bieten, deren Netzwekre aber auf ein Mindestmaß an Infrastruktur (und
damit etwas stabilere Staaten) angewiesen sind, um international
operieren zu können. Deshalb wird auch afrikanischen Binnengrenzen eine
hohe Bedeutung zugesprochen[7] So oder so werden die unregistrierten
Grenzübertritte, wie sie zwischen vielen afrikanischen Ländern den
Normalfall darstellen, als Bedrohung wahrgenommen und sollen mit
Programmen wie der Pan-Sahel Initiative (PSI, später: Trans-Sahel
Counter-Terrorism Initiative TSCTI) verhindert werden, in deren Rahmen
Tschad, Niger, Mali und Mauretanien Ausbildung und Ausrüstung für den
Grenzschutz erhielten.[8] Hiermit kommen die USA den Bemühungen der EU
entgegen, die in denselben Ländern und insbesondere in Nordafrika
versucht, die innerafrikanischen Grenzen für potentielle MigrantInnen in
die EU zu schließen. Die US-Initiativen wurden zunächst vom EUCOM in
Stuttgart und werden heute vom AfriCom geleitet , das beim EUCOM
angesiedelt ist - welches ebenfalls eng mit der NATO verflochten ist.
Vergrenzung Eurasiens
Die oben angerissene Argumentation hat sich die NATO ohnehin im Rahmen
ihres Programmes "Partnership for Peace" (PfP) zu eigen gemacht:
"Grenzen sind eine der ersten Verteidigungslinien gegen den
Terrorismus".[9] Dieses Programm war 1994 für potentielle
Beitrittskandidaten des Balkans und des Baltikums entworfen worden,
dient der NATO aber heute als Einflussinstrument bis tief in den
asiatischen Raum hinein. Im Rahmen der PfP drängt die NATO ihre
Partnerstaaten - selbst solche, die niemals Mitglied der NATO werden
können - ihren Sicherheitssektor und damit auch den Grenzschutz nach den
eigenen Vorstellungen umzubauen sowie mit internationalen Organisationen
wie der International Organization for Migration (IOM) oder Interpol
zusammen zu arbeiten. Das PfP-Modul, das sich mit der Bekämpfung des
Terrorismus beschäftigt (PAP-T), sieht den Austausch von
geheimdienstlichen Informationen über grenzüberschreitende Kriminalität
und Geldtransfers vor, sowie wiederum die Ausbildung und Ausrüstung der
nationalen Grenzschutzbehörden. In der NATO-Schule in Oberammergau sowie
den PfP-Trainingszentren in Griechenland und der Türkei werden Kurse
über "Grenzsicherung" angeboten, die explizit auch die Verhinderung
"illegaler" Migration beinhalten.[10] Auch das Marshall-Center der NATO
in Garmisch veranstaltete beispielsweise im April 2007 eine fünftägige
Konferenz zum Austausch über Best Practices beim Grenzschutz, an der
Vertreter aus 26 Nato-Mitglieds- und Partnerstaaten teilnahmen.[11]
Darüber hinaus organisiert die NATO den Informationsaustausch
hinsichtlich der Migrationsrouten der Partnerländer untereinander sowie
mit internationalen Organisationen. Sie gestaltet so unmittelbar das
Grenzregime von Ländern wie Moldawien aber auch Tadschikistan,
Usbekistan und Aserbeidschan mit. In Zentralasien bildet das Thema
"Grenzsicherung" einen der Schwerpunkte ihrer Tätigkeiten.[12] Peter W.
Singer von der Brookings Institution beantwortete die Frage nach den
zukünftigen Aufgaben der NATO u.a. mit den Erfahrungen, welche das
Bündnis beim Export von Grenzsicherheit auf dem Balkan und in
Zentralasien gesammelt hätte. Die NATO müsse sich nicht auf
traditionelle militärische Funktionen beschränken, sondern sollte auch
solche "neuen Sicherheitsfunktionen" verstärkt wahrnehmen.[13]
Tatsächlich sind die Erfahrungen der NATO auf dem Balkan in Bezug auf
Grenzmanagement beachtlich, wenn auch nicht immer glorreich. Alle
Balkan-Staaten (mit Ausnahme des Kosovo) sind oder waren Partner im
PfP-Programm, haben ihren Sicherheitssektor einschließlich des
Grenzschutzes den Erwartungen der NATO angepasst oder sind gerade dabei.
Im Kosovo und in Bosnien und Herzegowina hat die NATO im Rahmen
militärischer Besatzungsmissionen den Grenzschutz zwischenzeitlich
selbst ausgeübt und war sie anschließend unmittelbar am Aufbau von
Grenzschutzeinheiten aus lokalem Personal beteiligt. Zusätzlich hierzu
initiierte sie gemeinsam mit EU und OSZE 2003 den Ohrid-Prozess zur
Verbesserung der Grenzsicherung. Dieser sollte die Zusammenarbeit
zwischen den Grenzschützern der Staaten des westlichen Balkan verbessern
und deren Migrationsregime den Anforderungen der EU anpassen.
Auch in der Schwarzmeerregion, nach Aussagen des Frontex-Chefs Laitinen
einer der Hot-Spots illegaler Migration und zukünftiges Aktionsfeld der
EU-Grenzschutzagentur,[14] ist die NATO an einer Verschärfung und
Militarisierung der Grenzüberwachung beteiligt. Die NATO misst dieser
Region ebenfalls enorme geostrategische Bedeutung zu, nicht nur, weil
hier ihr eigener Einflussbereich auf denjenigen Russlands trifft und
mehrere Ölpipelines im Schwarzen Meer enden, sondern auch weil das
Schwarze Meer bei der NATO als unkontrollierter Transitraum für
Menschen, Waffen und Drogen - insbesondere aus Afghanistan - gilt.
Deshalb wollte sie ihren oben beschriebenen Einsatz Active Endeavour
auch auf diese Region ausdehnen, was aber am Widerstand Russlands und
der Türkei scheiterte. Stattdessen begannen beide mit Black Sea Harmony
einen eigenen Einsatz nach dem Vorbild von Active Endeavour,[15] Beide
Länder hatten zuvor zumindest temporär auch an dem Einsatz im Mittelmeer
teilgenommen, um die Praktiken der NATO zu studieren.
Gemeinsam mit dem US-Hauptquartier für Eurasien und der EU arbeitet die
NATO zudem eine Strategie aus, wie sie in die Sicherheitskooperation im
Schwarzmeerraum eingreifen kann. Hier sind vor allem zwei Initiativen zu
nennen: Im SECI-Center (Southeast European Cooperation Initiative) in
Bukarest arbeiten 24 Zoll- und Polizeibeamte aller Balkanstaaten sowie
Ungarns und Moldaviens unter der "Führung und Beratung" von Interpol und
der Weltzollorganisation zusammen. Diese Zusammenarbeit führte etwa im
Jahr 2004 zur Verhaftung von 500 "Schleppern". Im Black Sea Border
Coordination and Information Center (BBCIC) in Bulgarien tauschen sich
die Küstenwachen von sechs Schwarzmeeranrainern auf nahezu täglicher
Basis aus. Die NATO spekuliert nun darauf, diese beiden Zentren, die in
NATO-Ländern liegen, auszubauen und weitere Anrainer zur Mitgliedschaft
zu bewegen. Als Anreiz sollen hierbei die technisch überlegenen
Aufklärungsmittel dienen, welche die NATO zur Verfügung stellen könnte.
Die USA erwägen, durch die Stationierung von Drohnen und die Weitergabe
von Aufklärungsdaten Einfluss insbesondere auf die russische
Ordnungspolitik im Schwarzen Meer zu nehmen.[16]
Migration als verkümmerte Sozialpolitik
Ob in Afghanistan, Bosnien und Herzegowina oder im Kosovo: Wo immer die
NATO militärische Besatzungen durchgeführt hat und am Aufbau neuer
Staaten beteiligt war, standen für sie Sicherheitsaspekte bzw.
strategische Interessen im Vordergrund. Wirtschaftspolitisch folgte der
Staatsaufbau einer streng neoliberalen Ideologie. An den Aufbau sozialer
Sicherungssysteme wurde deshalb in der Hoffnung auf Hoffnung auf die
Ausländischen Direktinvestitionen, die oft weitgehend ausblieben oder
ihre Gewinne zu nahezu 100% ins Ausland abführen konnten, kein Gedanke
verschwendet.[17] Gleichzeitig wurden Milliarden in den Aufbau neuer
Polizeien, Armeen und Grenzschutzeinheiten investiert. Das Ergebnis sind
verarmte und völlig perspektivlose Bevölkerungsgruppen, entsprechend
anfällig für revolutionäre Ideologien aller Art und auf informellen oder
kriminellen Broterwerb angewiesen, welche wiederum eine militärische
Befriedung auf Dauer erforderlich machen. Das eindeutigste Beispiel für
einen von der NATO aus geopolitischen Interessen herbeigebombten,
wirtschaftlich aber nicht überlebensfähigen Staat ist wohl der Kosovo,
mit 75% Jugendarbeitslosigkeit und einer Bevölkerung, die zu 40%
offiziell in Armut lebt.[18] Die Hoffnung auf eine wirtschaftliche
Entwicklung, die dem starken Bevölkerungswachstum gerecht werden könnte,
hat die internationale Gemeinschaft längst aufgegeben. Selbst die
Braunkohleverstromung - "einzige potenzielle Wirtschaftskraft" des
Kosovo - würde unter besten Bedingungen höchstens 20-30.000
Arbeitsplätze schaffen - bei 36.000 zusätzlichen Jugendlichen, die
jährlich dem Arbeitsmarkt ausgesetzt werden. Ein "Migrationsdruck", der
bislang militärisch, etwa durch die oben genannten Maßnahmen,
aufrechterhalten wird. Aufgrund der wirtschaftlichen Misere warnte das
Institut für Europäische Politik 2007 allerdings, basierend auf
Geheimdienstinformationen, vor "revolutionsartigen Erhebungen" in den
kommenden Jahren. In den letzten Jahren sind deshalb Stimmen laut
geworden, die aus Sicherheitsgründen eine erleichterte Visa-Vergabe für
junge Kosovaren fordern, damit diese im Ausland arbeiten und durch
Rücküberweisungen ihre Familien unterstützen können. Das Centrum für
Angewandte Politikforschung (CAP) stellte jedoch gleichzeitig klar: "Das
setzt die effektive Umsetzung von Rückführungsabkommen auf Seiten der
westlichen Balkanstaaten voraus."[19]
Das Demografische Risiko
Die Zusammensetzung der Bevölkerung ist mittlerweile Teil westlicher
Risikoanalysen und Sicherheitsstrategien. Als besonders bedrohlich gilt
der so genannte "Youth Bulge",[20] ein besonders hoher Anteil
(männlicher) Jugendlicher an der Gesamtbevölkerung, wie er etwa
entsteht, wenn sich die Überlebenserwartung aufgrund besserer
hygienischer Bedingungen oder medizinischer Versorgung erhöht, sich die
Geburtenrate einer Gesellschaft aber nicht entsprechend verringert, wie
es in vielen arabischen Ländern der Fall ist. Ist die Politik nicht
willens oder in der Lage - etwa durch eine schwache Konjunktur oder
neoliberale Anpassungsprogramme - die öffentliche Infrastruktur
(Kindergärten, Schulen, Wohnungsbau, soziale Einrichtungen) entsprechend
auszubauen, seien besteht das Risiko einer "Surplus Population",[21]
einer überflässigen Bevölkerung. "Demographic trends affect
urbanisation, crime and terrorism" - demokrafische Trend wirken auf
Urbanisierung, Kiminalität und Terrorismus.[22] Deshalb wird
"Demografie" - "Bevölkerungswachstum und -veränderungen rund um den
Globus" auch von hochrangigen NATO-Offizieren in ihrem Vorschlag für
eine neue NATO-Strategie als erste von sechs "Principal Challenges",
fundamentalen Herausforderungen der "globalen Gemeinschaft"
identifiziert. Gefahren birgt dabei nicht nur Bevölkerungswachstum in
Arabien und Afrika, sondern auch Schrumpfung und Überalterung in Europa,
"Russland wird [wegen des Bevölkerungsrückgangs] zunehmend um die
Kontrolle seiner riesigen Landflächen kämpfen müssen".
Weltherrschaft durch Interdiktion
Insgesamt zeichnen die Autoren des NATO-Strategieentwurfs ein düsteres
Bild der Globalisierung, welche eine "Komplexität jenseits der
Vorhersagbarkeit" und ebensolche Bedrohungen hervorbrachte. "Vorbereitet
zu sein auf das, was nicht vorhersagbar ist, wird eine der
herausragenden Herausforderung der nächsten Jahre sein." Und kein Land
sei in der Lage, sich diesen Herausforderungen alleine zu stellen.
Deshalb sei eine erneuerte NATO als eine "Allianz von Demokratien", die
eine "gemeinsame und umfassende Zone gemeinsamer Sicherheit zwischen
Finland und Alaska" herstellt, als Institution am geeignetsten, den Kern
einer zukünftigen globalen "Sicherheitsarchitektur" zu bilden.[23]
Dieser Anspruch zur Weltherrschaft zeigt sich (traditionell) zunächst im
Handeln der NATO-Marine, die anstrebt, alle wichtigen Nadelöhre des
internationalen Handels auf See dauerhaft, im multinationalen Verbund zu
kontrollieren.[24] Das ist auch die klassische Aufgabe der Marine: die
Interdiktion, „also die Kontrolle und das Unterbrechen von Personen- und
Güterverkehr“[25] - im großen Maßstab. In einer globalisierten und vor
unvorhersehbaren Gefahren (Unwetter, Seuchen, Aufruhr, Flucht oder
Streik) nur so strotzenden Welt, die noch dazu dem Terrorismus den Krieg
erklärt hat, reicht es aber nicht, nur die Containerschiffe zu
kontrollieren. Jeder Werkschutz und jeder Grenzposten wird zum Teil der
Sicherheitsarchitektur. Interdiktion stellt deshalb nach Ansicht von
Militärstrategen eine der Hauptaufgaben zukunftsfähiger Streitkräfte
dar. Doch die NATO-Armeen können und sollen nicht jeden Grenzposten und
jeden Küstenabschnitt selbst überwachen (für Umgang mit Fischerbooten,
Pendlern und Touristen sind "zivilere" Kräfte ohnehin geeigneter), aber
sie sollen dafür sorgen, dass und beeinflussen, wie er kontrolliert
wird. So zeigt die NATO vor Westafrika Präsenz, während die USA und EU
dort Gendarmerien ausbilden und deshalb unterstützt sie lokale
Kooperationen wie das SECI und das BBCIC. Deshalb berät sie
Grenzschutzbeamte aus Zentralasien und Westeuropa. Und sie kontrolliert
im Mittelmeer Tanker, während Frontex die Koordination unter deren
Mitgliedsstaaten und zwischen deren Verteidigungsministerien,
Geheimdiensten und Küstenwachen organisiert: damit kein Fischkutter mehr
die Überfahrt wagt und kein Schlauchboot unentdeckt in Europa landet.
Anmerkungen
[1] "A Potential for growth", Vanessa Macdonald im Interview mit der
US-Botschafterin auf Malta, Molly Bordonaro, http://malta.usembassy.gov/
[2] Martin Pabst: External Interests in West Africa, in: Brigadier
Walter Feichtinger, Gerald Hainzl: Sorting Out the Mass - Wars,
Conflicts, and Conflict Management, Studien und Berichte zur
Sicherheitspolitik der österreichischen Landesverteidigungsakademie, 1999
[3] "NATO naval force sets sail for Africa", NATO-News vom 30.7.2007
[4] http://en.wikipedia.org/wiki/Africa_Partnership_Station (13.1.2009)
[5] Christoph Marischka: Was kostet Guinea-Bissau?, Telepolis vom
13.6.2008, sowie: "EU plant weiteres Engagement in Westafrika",
kritische Online-AG Neue Kriege vom 14.11.2008
[6] " Indra will deploy a communications channel for information
exchange regarding illegal inmigration and drug trafficking",
Pressemitteilung des Unternehmens Indra Sistemas S.A. vom 9.5.2008
[7] Jessica R. Piombo: Terrorism and U.S. Counter-Terrorism Programs in
Africa - An Overview, in: Strategic Insights, Volume VI, Issue 1
(January 2007)
[8] Ebd. Zu den Programmen und Kooperationen, welche die USA im Rahmen
der Drogenbekämpfung in fast jedem Land der Erde durchführen, liefert
folgendes Dokument einen wertvollen Überblick: US Department of State:
International Narcotics Control Strategy Report 2008,
http://www.state.gov/documents/organization/102583.pdf
[9] "The Partnership Action Plan against Terrorism - How does
cooperation work in practice?" Nato-Topics vom 30.1.2008
[10] Ebd.
[11] "Marshall Center border security conference focuses on best
practices", Pressemitteilung des George C. Marshall European Center for
Security Studies vom April 2008
[12] Alexander Catranis: NATO's Role in Central Asia, in: Central Asia
and the Caucasus 5/2005
[13] "New Thinking on Transatlantic Security: Terrorism, NATO, and
Beyond", Rede von Peter W. Singer auf dem "Workshop on Transatlantic
Challenges" der BMW Herbert Quandt Stiftung am 26.11.2002
[14] So Laitinen auf einer Veranstaltung der Europäischen Kommission im
Europäischen Haus in Berlin am 19.5.2008
[15] Eugene Rumer / Jeffrey Simon: A Euro-Atlantic Strategy for the
Black Sea Region, National Defense University / Institute for National
Strategic Studies Staff Analysis, Januar 2006
[16] Ebd.
[17] Insbesondere zum Beispiel Afghanistan siehe: Jürgen Wagner:
Neoliberaler Kolonialismus - Protektorate, Aufstandsbekämpfung und die
westliche Kriegspolitik, in: Widerspruch 53 - Weltordnung, Kriege und
Sicherheit
[18] Institut für Europäische Politik (IEP): Operationalisierung von
Security Sector Reform (SSR) auf dem westlichen Balkan, Studie im
Auftrag des ZTransfBw, Januar 2007
[19] Dominik Tolksdorf: Der er westliche Balkan nach dem
Ahtisaari-Vorschlag - Handlungsfelder auf dem Weg in die EU,
Bertelsmann-Stiftung / CAP: Reform-Spotlight 1/2001
[20] US Departement of the Army: Army Modernization Strategy 2008,
http://downloads.army.mil/docs/08modplan/Army_Mod_Strat_2008.pdf
[21] Dieser Begriff entstammt dem Bericht des UN-HABITAT-Programms "The
Challenge of Slums" von 2003. Er wurde kritisch aufgegriffen von Mike
Davis in "Planet of Slums" (Verso, 2006), ähnlich: Zygmunt Bauman:
Wasted Lives - Modernity and Its Outcasts, Polity Press, 2004
[22] General a.D. Klaus Naumann u.a.: Towards a Grand Strategy for an
Uncertain World: Renewing Transatlantic Partnership,
http://www.csis.org/media/csis/events/080110_grand_strategy.pdf
[23] Ebd.
[24] Lothar Rühl: Nicht nur eine Definitionsfrage - deutsche
Sicherheitsinteressen in Afghanistan, in: Strategie & Technik 50 (2007)
[25] Stephan Böckenförde: Sicherheitspolitischer Paradigmenwechsel von
Verteidigung zu Schutz, in: Europäische Sicherheit, August 2007
Mehr Informationen über die Mailingliste IMI-List