[Grundeinkommen-Info] Frankfurter Rundschau Streitgespräch Pro und Contra Grundeinkommen

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Do Okt 29 14:49:31 CET 2015


Nachrichten aus Deutschland und der Welt – Frankfurter Rundschau
Freiheit - 28.10.2015


      Grundeinkommen


  „Ohne soziale Sicherheit ist Freiheit wenig wert"

Mehr Chancen: Auch Schwächeren soll das bedingungslose Grundeinkommen 
eine materielle Freiheitsgrundlage bieten – und Raum für Innovationen 
und Kreativität.
Foto: rtr
Von Timo Reuter

Hartz IV abschaffen und jedem Bürger 1000 Euro im Monat zahlen: Macht 
das bedingungslose Grundeinkommen frei? Oder macht es faul? Ein 
Streitgespräch mit dem Linken Riexinger und dem Grünen Strengmann-Kuhn.

Die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens ist heftig umstritten – und 
zwar quer durch alle politischen Lager. 1000 Euro für alle, ohne Zwang, 
ohne Bedingungen: Auch innerhalb des linken Lagers gibt es Befürworter 
wie Gegner. Einig sind sie sich zwar oft in ihren Zielen: Sie wollen 
Hartz IV abschaffen und treten für mehr Selbstbestimmung sein. Doch wie 
erreicht man das? Darüber debattiert Linken-Chef Bernd Riexinger mit dem 
sozialpolitischen Sprecher der grünen Bundestagsfraktion, Wolfgang 
Strengmann-Kuhn.

*/Im traditionellen europäischen Verständnis wird Freiheit meist als 
Abwesenheit von Zwang verstanden. Reicht das schon, um von echter 
Freiheit zu sprechen?/*
*Bernd Riexinger: *Die Freiheit von Zwang ist wichtig, aber es reicht 
nicht. Denn ohne soziale Sicherheit ist Freiheit nur wenig wert.

*/Man muss sich Freiheit also leisten können?/*
*Wolfgang Strengmann-Kuhn:* Wenn jemand frei entscheiden soll, dann 
müssen die Mittel dazu da sein. Wir brauchen neben gleichen Rechten 
einen gleichen Zugang zu Ressourcen. Dazu gehören öffentliche 
Infrastruktur wie medizinische Versorgung oder Bildungseinrichtungen 
genauso wie finanzielle Ressourcen und soziale Sicherheit.
*Riexinger:* Um frei zu sein, müssen Menschen ihre Zukunft planen können 
– dafür braucht es neben einer Demokratie vor allem eine materielle 
Grundversorgung. Das wäre in der heutigen, wohlhabenden Gesellschaft 
ohne größere Probleme für alle möglich. Doch es fehlt an einer gerechten 
Verteilung. Dafür bedarf es Rahmenbedingungen, die den Schwächeren 
gleiche Chancen ermöglichen.
*Strengmann-Kuhn:* Der Wohlstand ist heute tatsächlich so groß, da 
müsste es möglich sein, für alle Menschen eine materielle 
Freiheitsgrundlage herzustellen.

*/Wäre das bedingungslose Grundeinkommen, also die Idee, allen ein 
garantiertes Einkommen zu gewähren, nicht eine gute Möglichkeit, eine 
solche Grundlage zu schaffen?/*
*Riexinger: *Die dahinterstehenden Gedanken sind richtig: Wir wollen 
nicht, dass Menschen ihre Arbeitskraft um jeden Preis verkaufen müssen. 
Wir wollen auch nicht, dass die Arbeitenden keine Verfügung über die 
Arbeit haben. Und wir wollen auf keinen Fall die unwürdigen Sanktionen 
von Hartz IV, die die Menschen unter das Existenzminimum drücken.
*Strengmann-Kuhn: *Die Möglichkeit von Sanktionen unter das 
Existenzminimum war ein Fehler, der korrigiert werden muss. Wenn man die 
Existenzsicherung als Grundrecht ernst nimmt, wäre es das Einfachste, 
jedem dieses Existenzminimum in Form eines bedingungslosen 
Grundeinkommens zuzugestehen.
*Riexinger:* Die Frage ist doch, welchen Weg zu gerechteren und freieren 
Verhältnissen man beschreiten kann. Und da gibt es bessere Möglichkeiten 
als das bedingungslose Grundeinkommen.

*/Welche denn?/*
*Riexinger: *Es müssen flächendeckend existenzsichernde Löhne ausgezahlt 
werden. Und auch eine deutliche Arbeitszeitverkürzung bei vollem 
Lohnausgleich wäre durch den produktiven Fortschritt möglich. Wir 
könnten zudem eine existenzsichernde, aber bedarfsorientierte 
Mindestsicherung einführen …
*Strengmann-Kuhn:* … das funktioniert nicht. Bei Arbeitszeitverkürzung 
bei vollem Lohnausgleich besteht die Gefahr von noch größerer 
Arbeitsverdichtung und bei Teilzeit reicht oft auch ein höherer Lohn 
nicht zur Existenzsicherung. Mit einem Grundeinkommen hingegen ist 
Erwerbstätigkeit immer existenzsichernd. Und materielle Anreize zu 
arbeiten wären automatisch da, weil nicht wie in den 
Mindestsicherungssystemen ein Großteil des zusätzlich verdienten Geldes 
wieder weggenommen wird. Es gibt noch ein weiteres Problem der 
bedürftigkeitsgeprüften Grundsicherung: Viele Leute rutschen durch 
dieses System durch, sei es aus Unwissenheit oder aus Scham.

*/Experten gehen davon aus, dass 40 Prozent der Bedürftigen in 
verdeckter Armut leben und keine oder zu wenige Leistungen in Anspruch 
nehmen. Herr Riexinger, ließe sich durch das bedingungslose 
Grundeinkommen die Stigmatisierung der Bedürftigen nicht verhindern?/*
*Riexinger: *Man kann auch eine Mindestsicherung einführen ohne den 
bürokratischen Aufwand – und ohne Sanktionen, denn die drangsalieren die 
Menschen und führen indirekt einen Arbeitszwang ein.
*Strengmann-Kuhn: *Wir kommen bei einer Grundsicherung nicht aus der 
Logik von Leistung und Gegenleistung heraus. Das schränkt die Freiheit 
ein und eine Bedürftigkeitsprüfung führt fast automatisch zu 
Stigmatisierung.

*/Aber ganz ohne Zwang, sozusagen in totaler Freiheit, würden viele 
Menschen da nicht aufhören zu arbeiten?/*
*Strengmann-Kuhn: *Die meisten Menschen wollen arbeiten, Arbeit gehört 
in unserer Gesellschaft zur Selbstverwirklichung und zur sozialen Teilhabe.
*Riexinger: *Arbeit konstituiert ja unser menschliches Leben …

*/… wenn Menschen also auch ohne Druck arbeiten, dann könnte man doch 
bedenkenlos ein Grundeinkommen einführen?/*
*Riexinger:* Ich gehe wie meine Parteikollegin Katja Kipping, die das 
Grundeinkommen befürwortet, davon aus, dass die allermeisten Menschen an 
gesellschaftlicher Arbeit teilnehmen wollen – wenn diese vernünftig 
ausgestaltet ist. Aber das ist mit einem Grundeinkommen nicht 
garantiert. Nur in einem System, in dem demokratisch festgelegt wird, 
was wie produziert wird und wie das Verhältnis zwischen Arbeit und Leben 
ausgestaltet ist, nur in solchen Verhältnissen können und wollen alle an 
gesellschaftlicher Arbeitsorganisation teilnehmen. Und nur so würden 
alle möglichst wenig Lohnarbeit machen müssen und wären freier.
*Strengmann-Kuhn: *Es ist ein häufiges Missverständnis, dass ein 
Grundeinkommen dazu dient, nicht zu arbeiten. Es geht nicht darum 
Faulheit, sondern Arbeit zu ermöglichen, aber selbst entscheiden zu 
können, was und wie man arbeitet. Und es geht um die Freiheit, auch mal 
weniger zu arbeiten oder sich auf Erziehungs- oder Ehrenamtsarbeit zu 
konzentrieren.

*/Trägt das Grundeinkommen so zu einer Stärkung der Verhandlungsposition 
von Arbeitnehmern bei?/*
*Strengmann-Kuhn:* Ja, die Gewerkschaften werden durch das 
Grundeinkommen gestärkt, weil die Menschen nicht mehr so leicht 
erpressbar sind und auch sagen können, für so wenig Lohn arbeite ich nicht …
*Riexinger:* … die meisten Gewerkschaften sehen das aber anders. Sie 
sagen: Wenn jemand schon 1000 Euro bekommt und nur noch 500 oder 800 
Euro dazuverdienen muss, um das Gleiche zu haben wie jetzt, dann sinkt 
die Motivation, für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Das nutzt 
dann den Unternehmen.

*/Das Grundeinkommen als Kombilohn?/*
*Strengmann-Kuhn:* Um das zu verhindern, braucht es einen Mindestlohn …
*Riexinger: *… das reicht nicht. Man braucht eine sinnvolle 
Tarifpolitik, die höhere Löhne oder Arbeitszeitverkürzungen durchsetzt. 
Außerdem gibt es unterschiedlich produktive Sektoren, deswegen muss man 
neben der tariflichen auch eine gesellschaftliche Arbeitszeitpolitik machen.
*Strengmann-Kuhn: *Die Löhne für unangenehme Jobs würden durch ein 
Grundeinkommen aber steigen, weil sonst niemand mehr diese Jobs machen 
würde.
*Riexinger: *Für das Grundeinkommen müsste man aber extrem viel Geld 
umverteilen, nur damit alle dieses bekommen, also auch Millionäre.

*/Herr Strengmann-Kuhn, Millionäre bekommen ein Grundeinkommen. Ist das 
nicht absurd?/*
*Strengmann-Kuhn:* Zunächst hat jeder einen Anspruch auf dieses 
Grundrecht. Aber am Ende zahlen Gutverdiener und Reiche natürlich mehr 
Steuern als sie an Grundeinkommen erhalten, sonst wäre es ja nicht 
finanzierbar.
*Riexinger: *Wenn Erwachsene 1050 Euro und Kinder die Hälfte bekommen, 
das sind fortschrittlichere Konzepte, dann müsste man etwa 800 
Milliarden Euro umverteilen – das ist mehr als die Haushalte von Bund, 
Ländern und Kommunen zusammen. Wenn man zudem noch ein gutes 
Sozialsystem, eine angemessene Infrastruktur und kommunale 
Daseinsvorsorge haben will, dann wären wir bei einer Staatsquote von 70 
bis 80 Prozent! Für eine bedarfsorientierte Mindestsicherung in gleicher 
Höhe müsste weit weniger Geld aufgebracht und umverteilt werden. Dafür 
könnten wir deutlich mehr Geld in gebührenfreie Erziehung, Bildung, 
Pflege und ÖPNV investieren sowie die öffentliche Infrastruktur ausbauen.
*Strengmann-Kuhn: *Das ist so nicht richtig. Das Grundeinkommen ersetzt 
Steuerfreibeträge und einen Teil der staatlichen Leistungen wie die 
Sozialhilfe oder das Kindergeld. Was man volkswirtschaftlich finanzieren 
muss, ist immer der Unterschied zwischen dem Bruttoeinkommen und dem, 
was die Menschen letztlich zur Verfügung haben. Da unterscheidet sich 
das Grundeinkommen nicht von einer Mindestsicherung. Man kann das auch 
sofort verrechnen. Für Besserverdiener wäre das Grundeinkommen dann nur 
noch eine Art Steuerfreibetrag und für Geringverdiener würde eine 
Unterstützung vom Finanzamt ausgezahlt. Das heißt dann negative 
Einkommenssteuer.
*Riexinger: *Gerade die negative Einkommenssteuer wird hauptsächlich von 
Neoliberalen vertreten. Ich sehe da eine große Gefahr: Jede 
gesellschaftliche Entwicklung muss hart erkämpft werden, es hat alleine 
15 Jahre gedauert, bis der Mindestlohn eingeführt wurde. Der Kampf um 
ein echtes Grundeinkommen dürfte da fast aussichtslos sein – und am Ende 
womöglich dazu führen, dass dieses zu einem neoliberalen Projekt wird, 
das dazu benutzt wird, den Sozialstaat weiter zu schleifen.

*/Manch linker Grundeinkommensbefürworter verbindet damit auch die 
Hoffnung, den Kapitalismus zu überwinden./*
*Strengmann-Kuhn: *Um den Kapitalismus zu überwinden, bräuchte es schon 
mehr.
*Riexinger: *Ein nichtkapitalistisches, sozialistisches System heißt, 
dass es eine gemeinschaftliche Verfügung über die Produktionsmittel und 
die gesellschaftliche Organisation gibt. Das würde ermöglichen, dass die 
Menschen tatsächlich gesellschaftlich bestimmen, wie lange sie arbeiten 
wollen und wie sie die Früchte ihrer Arbeit verteilen. Das geht nicht 
mit dem Grundeinkommen, das setzt ja, um sich zu finanzieren, weiterhin 
auf Lohnarbeit. Aber zumindest ermöglichen linke Grundeinkommensmodelle 
im Gegensatz zu neoliberalen, dass linke Befürworter und Gegner des 
Grundeinkommens gemeinsame Zwischenziele anstreben können wie eine 
Mindestsicherung ohne Sanktionen.

*/Herr Strengmann-Kuhn, Sie setzen sich seit Jahren auch im Bundestag 
für die Einführung eines Grundeinkommens ein. Wie realistisch ist das?/*
*Strengmann-Kuhn: *Es wird keinen großen Knall geben, dass ein Land 
plötzlich das Grundeinkommen einführt, schon gar kein großes und 
entwickeltes Land wie Deutschland. Eher wird ein Entwicklungs- oder 
Schwellenland, in dem es noch kein gewachsenes Sozialsystem gibt, ein 
Grundeinkommen einführen. Aber auch in Europa gibt es wieder stärkere 
Debatten, zum Beispiel in Finnland, da soll es ein Experiment zum 
Grundeinkommen geben, wobei die Bedingungen noch unklar sind. Für 
Deutschland ist es realistischer, wenn das Grundeinkommen schrittweise 
eingeführt wird, zum Beispiel in Höhe des Hartz-IV-Regelsatzes oder 
zuerst für bestimmte Gruppen wie Kinder, Rentner, Erwerbstätige oder 
auch für Selbstständige, denen es besonders nutzen würde. So könnte man 
zwar nicht alle mit dem Grundeinkommen verknüpften Freiheitsideale 
direkt verwirklichen, aber es würden schon mehr Möglichkeiten 
geschaffen, die auch zu mehr Innovationen und Kreativität führen.

*Moderation: Timo Reuter*

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