[Grundeinkommen-Info] Sozialgericht: Regelsätze sind verfassungswidrig
Wolfgang Strengmann-Kuhn
wolfgang at strengmann-kuhn.de
Mi Apr 25 18:01:22 CEST 2012
Liebe Freundinnen und Freunde,
für viele nicht überraschend, aber jetzt ist hat es das Sozialgericht Berlin beschlossen und
das Verfassungsgericht (wieder) am Zug: Die Berechnung der Regelsätze sind
verfassungswidrig.
Hier die Presseerklärung des Gerichts
http://www.berlin.de/sen/justiz/gerichte/sg/presse/archiv/20120425.1035.369249.html
Hartz IV verfassungswidrig - Regelsatz um 36 Euro zu niedrig
Pressemitteilung
Berlin, den 25.04.2012
Beschluss vom 25. April 2012 (S 55 AS 9238/12): Nach Auffassung der 55. Kammer des
Sozialgerichts Berlin verstoßen die Leistungen des SGB II gegen das Grundrecht auf
Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Die Kammer hat daher dem
Bundesverfassungsgericht die Frage der Verfassungswidrigkeit des SGB-II-Regelbedarfs zur
Prüfung vorgelegt. Zwar seien die Leistungen nicht evident unzureichend. Der Gesetzgeber
habe bei der Festlegung des Regelsatzes jedoch seinen Gestaltungsspielraum verletzt. Die
Referenzgruppe (untere 15 % der Alleinstehenden), anhand deren Verbrauchs die Bedarfe
für Erwachsene ermittelt worden sind, sei fehlerhaft bestimmt worden. Die im Anschluss an
die statistische Bedarfsermittlung vorgenommenen Kürzungen einzelner Positionen
(Ausgaben für Verkehr, alkoholische Getränke, Mahlzeiten in Gaststätten und Kantinen,
Schnittblumen u.s.w) seien ungerechtfertigt. Insbesondere habe der Gesetzgeber dabei den
Aspekt der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben unzureichend gewürdigt. Im Ergebnis seien
die Leistungen für einen Alleinstehenden um monatlich rund 36 Euro und für eine dreiköpfige
Familie (Eltern und 16-jähriger Sohn) um monatlich rund 100 Euro zu niedrig bemessen.
Die Kläger, eine gewerkschaftlich vertretene dreiköpfige Familie aus Neukölln, erhoben am
13. Juli 2011 Klage gegen das Jobcenter Berlin Neukölln wegen der Höhe der ab Januar
2011 bewilligten Leistungen. Für den letzten umstrittenen Zeitraum Januar bis Juli 2012
waren ihnen nach Anrechnung von Einkünften aus Erwerbsminderungsrente, Kindergeld und
Erwerbseinkommen Leistungen von insgesamt 439,10 Euro bewilligt worden. Das Jobcenter
hatte der Leistungsberechnung den gesetzlichen Regelbedarf von 2 x 337 Euro für die Eltern
und 287 Euro für den 16-jährigen Sohn zuzüglich Kosten für Unterkunft und Heizung
zugrunde gelegt. Die Kläger trugen vor, dass sie mit dem bewilligten ALG II ihre Ausgaben
nicht decken könnten. Trotz größter Sparsamkeit müssten sie regelmäßig ihren Dispokredit
und Privatdarlehen in Anspruch nehmen.
Die 55. Kammer des Sozialgerichts Berlin in der Besetzung mit einem Berufsrichter und zwei
ehrenamtlichen Richterninnen kam heute nach öffentlicher mündlicher Verhandlung zu der
Überzeugung, dass die Kläger zwar nach den ab 2011 gültigen SGB II-Vorschriften keine
höheren Leistungen beanspruchen könnten. Diese Vorschriften seien jedoch mit dem
Grundgesetz nicht vereinbar. Die Richter haben das Verfahren daher ausgesetzt und die
Frage der Verfassungsmäßigkeit des aktuellen Regelsatzes dem Bundesverfassungsgericht
zur Entscheidung vorgelegt.
Das Bundesverfassungsgericht habe dem Gesetzgeber in seinem Urteil vom 9. Februar
2010 (1 BvL 1/09)(Externer Link) einen Gestaltungsspielraum zur Bestimmung des
Existenzminimums eingeräumt. Das Gesetzgebungsverfahren müsse jedoch transparent
erfolgen und methodisch und sachlich nachvollziehbar sein. Insoweit zulässig habe der
Gesetzgeber zur Bemessung des Existenzminimums ein Statistikmodell verwandt, das auf
einer Auswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2008 (EVS 2008) beruhe.
Bereits die Auswahl der unteren 15 % der Alleinstehenden als Referenzgruppe sei jedoch mit
massiven Fehlern behaftet. Sie sei ohne nachvollziehbare Wertung und damit willkürlich
erfolgt. Es sei nicht begründet worden, wie aus dem Ausgabeverhalten dieser Gruppe auf
eine Bedarfsdeckung der Leistungsberechtigten geschlossen werden könne. Die
Referenzgruppe enthalte unter anderem auch Haushalte von Erwerbstätigen mit
"aufstockendem" Bezug von existenzsichernden Leistungen sowie Studenten im BAföG-
Bezug und Fälle "versteckter Armut". Es stelle einen unzulässigen Zirkelschluss dar, deren
Ausgaben zur Grundlage der Berechnung existenzsichernder Leistungen zu machen.
Darüber hinaus lasse das Ausgabeverhalten Alleinstehender keinen Schluss auf die
besondere Bedarfslage von Familien zu. Nicht hinreichend statistisch belegt sei zudem, dass
es mit den ermittelten Beträgen noch möglich sei, auf langlebige Gebrauchsgüter
(Kühlschrank/Waschmaschine) anzusparen.
Auch der wertende Ausschluss bestimmter Güter und Dienstleistungen aus dem
Ausgabekatalog der EVS 2008 sei jedenfalls hinsichtlich der Positionen Verkehr, Mahlzeiten
in Restaurants/Cafés und Kantinen, Ausgaben für alkoholische Getränke, Schnittblumen und
chemische Reinigung nicht nachvollziehbar begründet. Der Gesetzgeber verkenne
insbesondere, dass das Existenzminimum auch die Pflege zwischenmenschlicher
Beziehungen zu ermöglichen habe. Im Übrigen sei bei einem derart "auf Kante genähten"
Regelbedarf das Statistikmodell seiner Legitimation beraubt. Das Statistikmodell und die
Gewährung pauschaler Leistungen beruhten gerade darauf, dass der Gesamtbetrag der
Leistung es erlaube, einen überdurchschnittlichen Bedarf in einer Position durch einen
unterdurchschnittlichen Bedarf in einer anderen Position auszugleichen. Dieser interne
Ausgleich sei durch die umfangreichen Streichungen nicht mehr ausreichend möglich.
Angesichts des Ausmaßes der aufgezeigten Fehler seien die Vorschriften zur Höhe des
Regelsatzes (§§ 19, 20, 28 SGB II) verfassungswidrig. Für alleinstehende Personen müsse
ab 2012 ein monatlicher Fehlbetrag von 36,07 Euro, für die klägerische Bedarfsgemeinschaft
von ca. 100 Euro angenommen werden.
Schriftliche Entscheidungsgründe liegen noch nicht vor.
Anmerkungen der Pressestelle: Der Beschluss der 55. Kammer ist der deutschlandweit erste
Vorlagebeschluss an das Bundesverfassungsgericht, in dem es um die Klärung der
Verfassungsmäßigkeit der neuen Regelsatzhöhe geht. Allein das Bundesverfassungsgericht
ist befugt, ein Parlamentsgesetz für verfassungswidrig zu erklären.
Am Berliner Sozialgericht sind zurzeit 107 Kammern mit der Bearbeitung von Klagen aus
dem Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II - dem sogenannten Hartz IV
Gesetz) befasst. Weitere Entscheidungen, die von der Verfassungswidrigkeit des aktuellen
Regelsatzes ausgehen, sind bisher nicht bekannt. Ausdrücklich bejaht hat die
Verfassungsmäßigkeit des Regelsatzes unter Verweis auf entsprechende Urteile der
Landessozialgerichte von Bayern und Baden-Württemberg zum Beispiel die 18. Kammer des
Sozialgerichts Berlin, Urteil vom 29. März 2012 - S 18 AS 38234/10.(Externer Link)
Nach wie vor bewegen sich die Eingangszahlen am SG Berlin auf dem Rekordniveau der
letzten beiden Jahre. Im ersten Quartal 2012 gingen 7.857 neue Hartz IV Verfahren ein - ein
monatlicher Durchschnitt von 2.619.
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