[Grundeinkommen-Info] taz von heute

Michael Opielka michael.opielka at isoe.org
Mo Apr 30 12:47:42 CEST 2007


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Brauchen wir ein neues Sozialsystem?


VON HANNES KOCH UND KATHARINA KOUFEN

Es gibt Menschen, die wissen alles darüber, wie wir arbeiten. Jedenfalls
alles, was man wissenschaftlich herausbekommen kann. Zu denen gehört Ulrich
Walwei. Vor 20 Jahren schrieb er seine Doktorarbeit über befristete
Beschäftigung, ab dem 1. Mai 2007 amtiert er als kommissarischer Chef des
Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg. In diesen
20 Jahren hat sich die Arbeitsgesellschaft in Deutschland radikal verändert.
So stark, dass der 48-jährige Walwei inzwischen zu einer Minderheit gehört -
zu denjenigen, die einen festen, unbefristeten, sozialversicherten
Arbeitsplatz haben, der sie gut ernährt.

"Das Normalarbeitsverhältnis verliert weiter an Bedeutung", sagt Ulrich
Walwei, Deutschlands oberster öffentlicher Arbeitsmarktforscher. In den
1950er- und 1960er-Jahren, der Hochzeit des deutschen Wirtschaftswunders,
arbeiteten fast alle Beschäftigten auf Stellen, denen eine Verheißung
innewohnte: "Du kannst deine Familie ein Leben lang von dieser Arbeit
ernähren." Das hat sich geändert: Nur die Hälfte aller Beschäftigten kommen
heute noch in den Genuss des alten Standardjobs.

Das alltägliche Risiko, zum Sozialfall zu werden, hat erheblich zugenommen.
Da ist es kein Wunder, dass ein politisches Konzept auf den Tisch kommt, das
alte Fragen ganz neu beantwortet. Katja Kipping, die Vizechefin der
Linkspartei, Drogerie-Unternehmer Götz Werner, Umweltpolitiker Reinhard
Loske (Grüne), der CDU-Ministerpräsident von Thüringen, Dieter Althaus - um
nur einige zu nennen - machen sich stark für eine visionäre Idee: das
bedingungslose Grundeinkommen. 800 Euro pro Kopf und Monat solle jeder
erwachsene Bundesbürger vom Staat erhalten, schlägt Althaus vor. Die meisten
bisherigen Sozialleistungen fielen im Gegenzug weg. Der Charme der Idee: Das
Grundeinkommen würde als Bürgergeld gewährt, auf das ein jeder Anspruch hat
- unabhängig von der Bereitschaft zu arbeiten und den oft entwürdigenden
Prozeduren des Hartz-IV-Systems. Das Grundeinkommen ist gedacht als neue,
verlässliche Existenzsicherung - weil man nicht mehr unbedingt davon
ausgehen kann, dass jeder seinen Lebensunterhalt mit bezahlter Lohnarbeit
finanzieren kann.

Die Zeiten haben sich geändert. In den Aufrufen der Gewerkschaften zum 1.
Mai 2007, dem traditionellen Tag der Arbeit, spiegelt sich der Wandel
freilich nicht wider. So heißt es in der Erklärung des Deutschen
Gewerkschaftsbundes (DGB): "Jeder Mensch muss von seinem Einkommen in Würde
leben können und darf nicht in Zweit- und Drittjobs gezwungen werden." Der
Zweit- und Drittjob, die schlecht entlohnte Teilzeitstelle, der Stundenlohn
von 3,80 Euro brutto, die befristete Honorartätigkeit - lässt sich diese
Realität aber noch wegdiskutieren? Ist die Hoffnung berechtigt, dass die
modernen, flexiblen, teilweise miesen Arbeitsverhältnisse dereinst wieder
Platz machen für die guten alten Vollzeitarbeitsplätze?

Schon seit Mitte der 1970er-Jahre ist die Erosion des
Normalarbeitsverhältnisses im Gange. Auf der Basis von Zahlen, die Ulrich
Walwei und das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung
veröffentlichen, kann man die folgende Rechnung aufstellen. Von den gut 82
Millionen Einwohnern Deutschlands waren 2006 etwa 34,7 Millionen abhängig
beschäftigt - sie haben Arbeitsverträge zum Beispiel bei Unternehmen
unterschrieben. Von diesen allerdings arbeiten 11,5 Millionen Menschen nur
in Teilzeit. Und weitere rund 3,5 Millionen Arbeitnehmer beziehen
Niedriglöhne, von denen sie und ihre Familien oft nicht leben können. Unter
dem Strich erfreuen sich des sogenannten Standard-Arbeitsverhältnisses damit
noch 19,7 Millionen Beschäftigte. Im Verhältnis zur Gesamtzahl der abhängig
Beschäftigten sind das 56 Prozent. Zieht man einen Vergleich zum
Erwerbskräftepotenzial - zur Zahl derjenigen, die arbeiten würden, wenn man
sie ließe -, fällt die Relation noch dramatischer aus. Im Verhältnis zum
Erwerbskräftepotenzial von 44,5 Millionen Menschen in Deutschland haben noch
gut 44 Prozent einen Standardjob. Damit ist klar: Aus dem ehemaligen
Mehrheitsmodell des Wirtschaftswunders ist heute ein Minderheitenmodell
geworden.

Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Schon in der letzten Dekade der alten
Bundesrepublik hatte sich eine Entwicklung bemerkbar gemacht, die nach der
Wiedervereinigung rasant an Tempo gewann: die Globalisierung. Eigentlich
arbeiteten die westlichen Länder seit den 1940er-Jahren daran, die Zölle
abzubauen und den Handel mit Kapital zu erleichtern. Doch erst in den
1980er-Jahren kamen die Folgen auch in den deutschen Wohnzimmern an: Die
Stereoanlage hieß nicht mehr Grundig, sondern Kenwood oder Sony. Deutsche
Arbeit war wie immer gut und teuer, aber asiatische Arbeit war plötzlich gut
und billig.

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs erblühte dann im Vorgarten deutscher
Unternehmen über Nacht ein Niedriglohnparadies. Während die Ostdeutschen auf
eine schnelle Anpassung ihrer Löhne an Westniveau drängten, arbeiten Polen,
Tschechen und Rumänen für einen Bruchteil der deutschen Gehälter. Und nach
der Gründung der Welthandelsorganisation (WTO) 1994 boten zunehmend
Arbeitsmärkte in Fernost ihre Dienste an - zu einem Bruchteil der polnischen
oder tschechischen Löhne.

Die Belegschaften zu Hause in Deutschland waren von nun an mit der Drohung
kleinzukriegen: Wenn ihr euch nicht mäßigt, lagern wir eure Arbeitsplätze
aus. Die Gewerkschaften mussten zusehen, wie jahrzehntelange
Errungenschaften nichts mehr galten. Ihre Mitglieder arbeiteten länger, für
weniger Geld und immer in der Angst vor dem Jobverlust. Geradezu
exemplarisch für diese Entwicklung steht der Boom der Zeit- und
Leiharbeitsbranche. Sie stieß in die Lücke zwischen dem traditionell hohen
Schutzbedürfnis der Arbeitnehmer und dem Wunsch nach flexiblem "hire and
fire" der Betriebe. Angeboten werden nicht selten Tages- oder Wochenjobs,
die Bezahlung liegt oft unter Tariflohn.

Und noch etwas hat sich verändert, seit das goldene Zeitalter der
Vollbeschäftigung zu Ende ging: Die traditionelle Alleinernährerfamilie hat
sich überlebt. Frauen wollen heute arbeiten. Moderne Paare versuchen,
Kindererziehung, Haushalt und Erwerbstätigkeit aufzuteilen. Gleichzeitig
muss die nachwachsende Generation ihre alternden Angehörigen pflegen. Damit
nimmt die Nachfrage nach Teilzeitjobs zu.

Vor diesem Hintergrund lauten die Fragen: Ist das Normalarbeitsverhältnis
rekonstruierbar? Oder braucht Deutschland ein neues Sozialsystem, um neuen
Lebensrisiken vorzubeugen? Für die Einführung des bedingungslosen
Grundeinkommens plädiert Michael Opielka. Er ist Professor für Sozialpolitik
an der Fachhochschule Jena und hat gerade das Bürgergeld-Modell von
Thüringens Ministerpräsident Althaus analysiert. "Wir müssen die
Existenzsicherung vom Arbeitsmarkt entkoppeln", sagt Opielka. Seine
Begründung: "Das Standard-Arbeitsverhältnis lässt sich nicht
wiederherstellen".

Dass es zwischen 1960 und 2007 einen "Strukturbruch" gegeben habe,
bezweifelt dagegen Dierk Hirschel. Er ist Chefvolkswirt des Deutschen
Gewerkschaftsbundes, der die Kundgebungen zum 1. Mai ausrichtet. "Hätten wir
nur fünf Jahre Aufschwung, würde niemand über das bedingungslose
Grundeinkommen reden", so Hirschel, "denn Wachstum schafft Beschäftigung."

Auch die meisten Politiker tun so, als wäre es nur eine Frage der Zeit, bis
die Epoche von Miele, Volkwagen und AEG zurückkehre. Der gegenwärtige
Wirtschaftsboom scheint ihnen recht zu geben. Anders als in den Jahren zuvor
herrscht bei vielen Ökonomen Optimismus. "Der Aufschwung müsste noch etwa
vier Jahre anhalten", sagt Gustav Horn, Direktor des gewerkschaftsnahen
Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK). Dann könnte die
Zahl der Arbeitslosen auf unter zwei Millionen Menschen sinken, und die
Erwerbslosenquote läge bei vier bis fünf Prozent. "Damit kann man leben", so
Horn.

Holger Schäfer vom arbeitgebernahen Institut der Deutschen Wirtschaft in
Köln hält eine Rückkehr zur Vollbeschäftigung ebenso für grundsätzlich
möglich. "Auch andere Länder wie Dänemark und Großbritannien haben das
binnen zehn Jahren erreicht", sagt Schäfer. Trotzdem ist er skeptisch, ob
Deutschland es schaffen wird, die Arbeitslosigkeit komplett abzubauen. "Je
mehr Leute eingestellt werden, umso mehr sind das Arbeitnehmer mit geringer
Qualifizierung, also mit niedriger Produktivität", so Schäfer. Solche
Menschen finden auf dem ersten Arbeitsmarkt in der Regel nur im
Niedriglohnbereich einen Job. Vollbeschäftigung sei also nur um den Preis
der Ausweitung des Niedriglohnsektors zu erreichen. Schäfer: "Es ist eine
politische Frage, ob man das will."

Dass viele der neuen Jobs den traditionellen Anforderungen nicht genügen,
räumt auch Gewerkschaftsökonom Dierk Hirschel ein: "Mehr als 50 Prozent der
Stellen, die gegenwärtig entstehen, muss man als prekär bezeichnen." Um das
zu verhindern, fordert er eine "bessere Wirtschaftspolitik". Der
Gewerkschaftsbund würde die guten alten Arbeitsverhältnisse am liebsten per
Gesetz zurückholen und plädiert unter anderem dafür, schlecht bezahlte und
versicherte Mini- und Midijobs abzuschaffen, die geringfügige Beschäftigung
per Gesetz einzudämmen und Teilzeitbeschäftigte besser abzusichern. In diese
Richtung denkt auch Ulrich Walwei vom Institut für Arbeitsmarkt und
Berufsforschung in Nürnberg. "Die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses ist
ein Trend. Internationale Vergleiche zeigen jedoch, dass diese Entwicklung
gestaltbar ist."

In der Zunahme mieser Jobs sieht Grundeinkommen-Befürworter Michael Opielka
dagegen ein zentrales Argument für sein Konzept. "Das Grundeinkommen ist die
Antwort auf die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse", so Opielka.
Möglicherweise gehe uns zwar die Arbeit nicht aus, aber die neuen Jobs, die
der Aufschwung schaffe, seien häufig von geringerer Qualität als früher,
argumentiert der Professor für Sozialpolitik. Deshalb brauchten die Menschen
eine neue Art der materiellen Existenzsicherung - und damit eine neues
Gefühl sozialer Sicherheit.

taz Nr. 8263 vom 30.4.2007, Seite 4-5, 338 TAZ-Bericht HANNES KOCH /
KATHARINA KOUFEN

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