[FoME] Plädoyer für ein anderes Korrespondieren
Radiobridge at aol.com
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Di Okt 14 13:11:53 CEST 2014
Plädoyer für ein anderes Korrespondieren
von Klaus Jürgen Schmidt / _radiobridge at aol.com_
(mailto:radiobridge at aol.com) / _www.radiobridge.net_ (http://www.radiobridge.net)
Mitte April 1974 – Nelken-Revolution in Portugal: der ARD-Korrespondent
*** ist soeben von Madrid in Lissabon eingetroffen. Das Telefon in seinem
Hotelzimmer klingelt. Heimat-Redaktionen wollen von ihm eine Einschätzung der
Lage – jetzt!
Er ruft bei einem Kollegen an, bei mir, in der Zeitfunk-Redaktion von
Radio Bremen. Ich will ihn in die Mittagssendung schalten. Er will nicht – er
weiss nichts. Er bittet mich, ihm die neuesten Lageberichte der
Nachrichtenagenturen vorzulesen. Dann schalte ich ihn durch. Radio Bremen-Hörer
erfahren von ihm telefonisch aus Lissabon, was ich ihm soeben vorgelesen habe.
8. Oktober 2014 – IS-Truppen drohen, die syrische Grenzstadt Kobane
einzunehmen: Am Morgen höre ich bei NDR-Info eine Telefon-Schaltung zu einem
ARD-Korrespondenten; er soll die Lage einschätzen. Er kommentiert die
Entwicklung an der türkisch-syrischen Grenze – aus dem ägyptischen Kairo!
Meine per E-Mail an die Redaktion gerichtete Frage, warum das nicht ein
Kollege in der Heimatredaktion aus Agentur-Nachrichten habe destillieren
können und statt dessen Hörern authentisches Korrespondenten-Wissen
vorgegaukelt wurde, blieb unbeantwortet.
Wie kommt es, dass nach 40 Jahren das Korrespondieren zwischen
Heimat-Redaktionen und deren Auslands-Berichterstattern oft noch immer wiedergibt, was
auch zu Hause z.B. aus Agenturmeldungen zu erfahren gewesen wäre?
Oder anders gefragt: Muss unter “Korrespondieren” verstanden werden, was
dieser Begriff sonst noch meint: “korrespondieren = übereinstimmen,
entsprechen, in Beziehung stehen”? Beispiel: “Das gestrige Theaterstück
korrespondiert inhaltlich mit dem Theaterstück, das wir letzte Woche gesehen haben.”
(de.wiktionary.org/wiki/korrespondieren)
1973 war ich von einer Recherchereise aus Vietnam zurückgekehrt, bei der
nicht Kriegsverlauf, sondern das daraus folgende Kinderleid im Mittelpunkt
stand.
In Saigon hatte mir u.a. ein Kameramann von seiner Arbeit für
ZDF-Sonderkorrespondent Scholl-Latour erzählt: Es sei lebensgefährlich, in unbekanntem
Gelände zu filmen – Minen auf abgelegenen Straßen, Fallen auf
Dschungelwegen! “Man muß sich zu helfen wissen,” hatte er gegrinst, “für ein paar
Piaster gibt es immer ein paar Kinder, die vorweg gehen!”
Ein Konzept für Dritte-Welt-Berichterstattung müsste her, dachte ich, als
mir klar wurde, woraus das durchschnittliche Korsett eines ausländischen
Berichterstatters genäht sein muss, wenn es in einem hierarchischen
Aufstiegssystems hilfreich sein soll; Muster-Vorgaben aus der Heimatredaktion sind
da eher von Vorteil als neue Moden.
Im März 1974 legte ich mein Konzept dem neuen Chefredakteur bei Radio
Bremen vor; der hieß Gert von Paczensky. Dank seiner Erfahrungen bei der
publizistischen Aufarbeitung des französischen Kolonialkrieges in Algerien fand
ich einen aufmerksamen Gesprächspartner und Förderer für Grundsätze
journalistischer Arbeit, die ich so formuliert hatte:
> “Die Berichterstattung über Situation, Strukturen, Entwicklungen und
Beziehungen der Dritten Welt – vornehmlich im Hörfunkbereich – bedarf einer
Systematisierung, die sich abwendet vom kurzatmigen Interesse, oft lediglich
ausgelöst durch spektakuläre Ereignisse und rasch erlahmend bei
nachlassender Aktualität.”
> “Die Sammlung von Fakten darf sich nicht auf die Erstellung immer neuer
Mosaike beschränken; vielmehr müssen immer wieder Zusammenhänge
herausgearbeitet werden, ökonomische, politische, ideologische Interessen müssen
deutlich werden.”
> “Rückwirkungen auf unser eigenes gesellschaftliches Selbstverständnis –
die zweifellos zur Hauptaufgabe der gesamten Arbeit gehören – sind aber
nur zu erreichen, wenn die Informationen in einer Weise geliefert werden, die
Aufnahmebereitschaft weckt.”
Drei Jahre lang, von Dezember 1974 bis Dezember 1977, ermöglichte ein
unkonventioneller Chefredakteur mit seiner Verfügungsgewalt über Etat und
Sendeplätze – und mit sachkundigem Rat – ein Experiment außerhalb von
Korrespondenten-Zwängen der ARD, das mich unter Menschen in Lateinamerika, in
Südostasien, in der arabischen Welt lehrte, wie zwischen unterschiedlichen
Kulturen Brücken gebaut werden können.
Diese Erfahrungen halfen mir später – zwischen 1993 und 2000 – einen
globalen und regelmäßigen Zugang zu Stimmen aus Afrika zu schaffen, mit der
überregionalen Trainings- und Produktionseinrichtung von "Radio Bridge
Overseas" in Harare / Simbabwe (http://www.radiobridge.net).
Zwei Prinzipien zeichneten die Programmarbeit von RBO aus: das erste
Prinzip setzte den Schwerpunkt auf die Sichtweise von Laien. RBO-Korrespondenten
nahmen ihre Mikrofone mit zu den Menschen in ihrem Alltag, am
Strassenrand, in Tanzhallen, dort, wo Menschen auf dem Kontinent zusammenkommen, und
sie sammelten so Perspektiven mit einem neuen Verständnis. Der zweite Aspekt
der Programmarbeit von RBO war die Rolle, die den Autoren in ihren
Geschichten zukam. Tatsächlich wurden sie keineswegs ermutigt, sich aus ihren
Geschichten herauszuhalten, im Gegenteil, sie sollten ihre eigene Haltung nicht
verschweigen. Gerade weil RBO eine unabhängige Organisation war, meinten
wir, dass es nur fair sei, wenn die Hörer verstünden, dass RBO’s Autoren
immer aktiver Bestandteil ihrer Umgebung blieben. Es war diese Philosophie, die
RBO’ afrikanische Geschichtenerzähler dazu bewog, sich als Teil ihrer
Geschichte zu begreifen, und viele mögen Sätze benutzt haben wie "... in meiner
Gesellschaft ...", "... war mein Freund ..." oder "... ich hatte Angst ..."
Die ARD erklärt auf ihrer Website: “Die Korrespondentinnen und
Korrespondenten im In- und Ausland sind das Rückgrat der ARD-Nachrichtensendungen –
sowohl im Fernsehen als auch im Hörfunk und Online. Sie machen die besondere
Qualität unserer Berichterstattung aus. Ob mit Berichten und Reportagen
oder live zugeschaltet vom Ort des Geschehens: Die Fernseh- und
Radio-Korrespondenten der ARD informieren aktuell und kompetent. … Für das Fernsehen
berichten 45 Korrespondenten aus dem Ausland, für das Radio rund 60
Korrespondenten. Im Jahr 2012 lagen die Kosten für die Auslandsberichterstattung der
ARD bei 67 Millionen Euro: knapp 48 Millionen für das Fernsehen und 19
Millionen Euro für das Radio.” (http://korrespondenten.tagesschau.de)
SWR-Auslandsreporter Peter Puhlmann, seinerzeit mit Sitz in Mexico-City: „
Wir betreuen mehr als 20 Länder, darunter Mexiko, Zentralamerika, die
Karibik und das nördliche Südamerika. Eigentlich sind wir eher ein Reisebüro,
weil wir immer unterwegs sind.“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Korrespondent)
Ungefähr zu der Zeit, da private Medien in den deutschen Rundfunk- und
Fernsehmarkt drängten, behaupteten in den öffentlich-rechtlichen Anstalten
neue Quoten-Kontrolleure, Studien zufolge lasse die Aufmerksamkeit der Zuhörer
nach ca. 3,5 Minuten nach, weshalb die Beiträge meist nicht länger sein
sollten. “Sei fleißig! Drei-dreißig!” wurde zur Maßgabe, bald unterboten von
“Eins-dreißig!” für Auslandskorrespondenten, die nun auch
24-Stunden-Aktualitäten-Magazine von ARD-Anstalten zu bedienen hatten.
Ich war dabei, als dieser Unfug auch bei Radio Bremens “Zeitfunk”
eingeführt wurde und sich unter den Korrespondenten schließlich ein Kollege in
Neu-Delhi bereit fand, sich zur Premiere für einen “Eins-dreißig”-Aufsager am
Telefon bereitzuhalten.
Von diesem Telefon kamen er und immer mehr Auslandskollegen bald nicht
mehr weg! Unter dem Druck, Sendezeiten mit original klingendem Material vor
allem von weit weg zu füllen, nahmen Heimatredaktionen ihren Mann / ihre Frau
vor Ort immer öfter an die Strippe.
Am 21. August 2014 erwies ich auf dem Kölner Melatenfriedhof meinem Mentor
Gert von Paczensky die letzte Ehre, wir begruben ein journalistisches
Urgestein.
Begruben wir auch einen journalistischen Anspruch, z.B. den, Brückenbauer
zwischen Kulturen zu sein?
Was wäre nötig für einen solchen Brückenbau ?
Fünf Forderungen für einen radikalen Umbau von Programm-Verständnis –
nicht bloß in Sachen Dritte-Welt-Berichterstattung:
1. In erster Linie, den Brückenbauern Zeit zum Eintauchen in den Alltag
ihrer jeweiligen Gastkultur verschaffen, indem sie eben nicht mehr “Rückgrat
der ARD-Nachrichtensendungen” sein müssen, jederzeit erreichbar für “
Aufsager” nach Zeitplan und Vorgabe von Heimatredaktionen.
2. Mit wachsendem Verständnis der Brückenbauer wäre ihre primäre Aufgabe,
immer mehr authentische Quellen zu erschließen und diesen vor Ort mit
Übersetzung und Technik zu helfen, für sich selber ein Fenster in die Welt ihnen
fremder Medien zu öffnen, also selber Korrespondenten eigener
Angelegenheiten zu werden.
3. Als Konsequenz in den Heimatredaktionen: erheblich verstärkte
Kooperation mit international arbeitenden Nachrichtenagenturen und kontinuierliche
Verwendung von deren angeliefertem Material in deutlich ausgewiesenen
Nachrichtenblöcken, mit klarer Quellen-Angabe, aber durchaus in eigener
redaktioneller Bearbeitung.
4. Kompletter Verzicht auf “Häppchen”-Journalismus durch ARD-eigene
Auslandsberichterstatter in aktuellen Magazinen, statt dessen ständiger Freiraum
für Originalstimmen zu aktuellen Zeitfragen, kompetent gesammelt,
editiert, deutsch synchronisiert, und ständig angeboten von den jeweiligen
ARD-Auslandbüros, deren nobelste Aufgabe es wäre, dabei weder politische noch
ideologische Filter zuzulassen.
5. Neben dieser Brückenbau-Funktion in einer fremden Kultur würde sich die
Kompetenz eines ARD-Auslandskorrespondenten darin erweisen, ob und wie es
ihm/ihr gelingt, seine/ihre Erfahrungen grundsätzlich zu reflektieren und
dabei in gelegentlich umfangreicheren Programmen und unter Einsatz diverser
Formate Hörer-Interesse zu mobilisieren.
KJS / 14.10.2014
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