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Klussmann
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Fr Mai 12 11:49:57 CEST 2006
REGIERUNGonline
Nr. 40 5/2006
Foto: Marco Berger / CIM
Kolumbien: Friedensarbeit über den Sender
Kolumbien: Journalisten kämpfen um Aufklärung
Interne bewafffnete Konflikte, Drogenanbau und organisierte Kriminalität machen Kolumbien enorm zu schaffen. Ziel eines Projekts des Centrums für internationale Migration und Entwicklung (CIM) ist es, die Bevölkerung intensiv an der Friedensarbeit für Kolumbien zu beteiligen. Der Weg führt dabei über das Fernsehen.
Im Auftrag des CIM unterstützt der deutsche Journalist Marco Berger deshalb den Canal U, den Universitätssender von Medellin. Für e.velop schildert Berger sehr eindrucksvoll die Situation des Landes. Er erklärt, warum es so schwierig ist, mit kritischen Sendungen Gehör zu finden - und welche Möglichkeiten es gibt, die Menschen zu erreichen.
Opfer- und Täterrolle im Wechselspiel
Wie schnell Opfer zu Tätern in Kolumbien werden, zeigt das Beispiel der Familie Rodriguez. Das Paar gerät mit seinen sechs Kindern in den Schusswechsel von Paramilitärs und Guerilleros. Aus Angst um ihr Leben verlässt die Bauernfamilie über Nacht Haus und Hof. Ab sofort sind die Flüchtlinge acht von drei Millionen Vertriebenen im Land.
In Rio Negro, einem Vorort von Medellin, ist die Familie sicher, aber wovon soll sie leben? Eine Tochter sucht ihr Auskommen bei der Guerilla, der Jüngste landet bei den Paramilitärs und sein Bruder bei der Armee. Letzterer räumt die Minen weg, die seine Schwester gelegt hat. Früher war auch der andere Bruder bei der Guerilla. Doch der wechselte die Seiten, weil seine Einheit nach einem Schusswechsel mit der Armee seine Schwester im Busch verwundet liegen ließ.
Heute schießt der 20jährige Ex-Guerillero für die Paras. "Die zahlen auch besser." Die Umstellung fällt nicht schwer. Sogar seinen neuen Boss kennt der junge Mann gut. Zu Guerilla-Zeiten hatte er mitgeholfen, ihn zu entführen und dessen Familie zu erpressen. Der Para-Lider weiß davon, und der Neue weiß, dass der Boss davon weiß.
Eigentlich wollte der ehemalige Rebell lieber zur Armee. Die versprach ihm tatsächlich eine Uniform und einen ordentlichen Sold - unter einer Bedingung: Er müsse alles über seine Ex-Kameraden bei der Guerilla ausplaudern, Verstecke, Lager, Waffennachschub und mehr. Als nichts mehr aus ihm rauszuholen ist, sagen sie ihm: "Nix ist mit Soldatentum, du kannst froh sein, dass wir dich nicht einsperren."
Was soll er jetzt machen? Auf der Straße kann sich der Verräter nicht mehr sicher fühlen. Eine normale Arbeit wird er nicht finden. Er kann kaum lesen und schreiben und hat nichts gelernt außer Schießen und Robben. Den Programmen der Regierung zur Wiedereingliederung von Ex-Kombattanten in die Gesellschaft traut er nicht. Vielleicht weiß er auch nichts oder nur wenig davon. Er braucht Geld, und vor allem braucht er Schutz. Dann liegt er tot auf der Straße: Motorradunfall, heißt es.
Nicht anklagen, sondern Verständnis fördern
Was davon veröffentlichen wir? Oder ignorieren wir die Geschichte? Wem und was bringt es, wenn wir sie im Fernsehen ausstrahlen? Ein Einzelfall ist das nicht, soviel ist klar. Wir wollen nicht anklagen. Nur verstehen, verständlich machen, Verständnis fördern.
Wer, wenn nicht wir, könnte diesen Job machen? Wir kennen Opfer und Täter. Mit einigen haben wir als Kinder gespielt. Wir wollen Frieden. Wir sind Lokaljournalisten und müssen dringend unsere Medienkompetenz steigern, aber wie? Wie können wir einen einheitlichen Standard bei Recherche, Realisierung, Schnitt, Sprachaufnahme, Vertonung und so weiter sicherstellen, um überhaupt wahrgenommen zu werden?
Hintergründige Reportagen sind Mangelware
Fast überall auf der Welt schauen die Menschen durchschnittlich drei Stunden täglich in die Röhre, allerdings immer seltener, um sich zu informieren. Wer abends erschöpft nach Hause kommt, will die Beine hochlegen, sich berieseln lassen. Das ist in Deutschland nicht anders als in Kolumbien. Allerdings, wer genug hat von Superstars, die angeblich ganz Deutschland sucht, hat die Möglichkeit, auf gutgemachte Reportagesendungen zu switchen oder sich einen Doku-Kanal zu suchen.
Anders in Lateinamerika. Hier fehlt die berühmte Wissenslücke, die in Europa zwischen den wenigen gut informierten Zuschauern und den Konsumenten immergleicher Massenware klafft. Sie fehlt, weil es jenseits von Show, Sport, Telenovelas, billig gemachten Nachrichtensendungen und so genannten Realities schlichtweg nichts gibt. Investigative, hintergründige Reportagen? In Kolumbien Fehlanzeige!
Das hat vor allem ökonomische Gründe. Ein Reportagemagazin verhält sich zu einer Spielshow umgedreht proportional. Recherchen, Transport, Hotel, Material und Personal kosten viel Geld und bringen doch vergleichweise wenige Sendeminuten. Hier versucht der Universitätskanal von Medellin, Canal U, mit seinem Projekt "Acceso Publico" gegenzusteuern.
Canal U will Geschichten erzählen und Frieden stiften
Erstmals soll es gelingen, den besten journalistischen Nachwuchs an Universitäten und Lokalsendern in und um Medellin zu vereinen, um gemeinsam Geschichten zu recherchieren und in einem wöchentlichen Magazin auszustrahlen.
Junge Reporter, Kameraleute und Cutter kommen wenigstens einmal in der Woche in der Redaktion von "Canal U" zusammen, um über Produktion und Ausstrahlung friedensfördernder Themen zu beraten. Hier trifft sich, wer zum Studiengang Journalismus einer - meist in Medellin ansässigen - Universität oder zu einem der 150 Lokalsender im Bundesstaat Antioquia gehört.
Der Aufbau eines flächendeckenden Korrespondentennetzes in einem der bevölkerungs- und konfliktreichsten Bundesstaaten Kolumbiens ist der Anspruch der Sendeleitung von Canal U. Das Netzwerk soll lokalen Friedensreportern mehr Gewicht verschaffen und zum Modell für andere Konfliktregionen im Land werden.
Jede Reportage wird in der Sendung "Acceso Publico" (öffentlicher Zugang) im Programm von Canal U ausgestrahlt und anschließend als Flash-Video ins Internet gestellt. Dazu hat Canal U auch eine eigene Webpage geschaffen.
Von den Chancen und Problemen der Wiedereingliederung
Auf dieser Webpage findet sich beispielsweise der Beitrag "Reinsertados" der Universität Luis Amigó. Er beschäftigt sich mit den Schwierigkeiten und Chancen der Wiedereingliederung von ehemals bewaffneten Gruppen in die Zivilgesellschaft.
Protagonist des Beitrags ist Alexis, ein 35jähriger Familienvater, der im Medelliner Stadtteil Manrique Anführer eines paramilitärischen Verbandes war. Alexis bewachte und verteidigte sein Revier mit Waffengewalt. Mit Einbrüchen, Drogengeschäften, Erpressungen, Entführungen und sehr wahrscheinlich auch Auftragsmorden hielt sich der Rädelsführer über Wasser. Eine Chance auf legalen Broterwerb sah Alexis nicht. Ein Wunder, dass er noch am Leben ist.
Heute ist der Stadtteil Manrique weitgehend befriedet. Die Paramilitärs haben im Rahmen der landesweit ausgerufenen Kampagne zur "desmovilización" ihre Waffen abgegeben und die Kampfanzüge ausgezogen. Ein Übergangsgeld von derzeit umgerechnet hundert Euro monatlich hält sie von beschaffungskriminellen Aktionen mit ihren oft tödlichen Folgen ab. Was aber passiert, wenn die Unterstützung ausbleibt? Wenn es den Kombattanten von einst nicht gelingt, innerhalb kürzester Zeit, Aus- oder Arbeitsplätze zu finden?
Auf Mitverantwortung hinweisen
Der etwa zehnminütige Beitrag der Studenten geht genau dieser Frage nach, versucht Publikum, aber auch Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft auf ihre Mitverantwortung bei der Beilegung des bewaffneten Konfliktes in Städten und Gemeinden aufmerksam zu machen. Mit welchem Erfolg, ist noch nicht absehbar.
Klar ist allerdings, dass die Nachwuchstalente unter den Journalisten in Medellin seit "Acceso Publico" einen Motivationsschub zur Produktion von Beiträgen verspüren. Mit dem neuen Sendeformat und einer eigens für das Projekt mit CIM-Mitteln angeschafften Kamera- und Schnittausrüstung steht den Newcomern ein eigener zensurfreier Sendeplatz zur Verfügung, der eifrig genutzt wird.
Ein Traum ...
Und es gibt einen neuen Traum: Einmal genügend Geld haben für eine Telenovela, in der der bewaffnete Konflikt im Land so thematisiert würde, dass Kolumbianer wie auch Ausländer ihn endlich einmal verstünden. Durchaus auch mit viel Schmalz und Liebe. Hauptsache ist, wir Journalisten erreichen auf diesem Weg unser Publikum! Mit einer Telenovela, die Geschichten erzählt und allein deswegen die Masse anspricht.
Dadurch können komplizierte Zusammenhänge aufdröselt und die Guten und die Bösen benannt werden, ohne ihre Namen veröffentlichen zu müssen - ein überlebenswichtiges Kriterium in Kolumbien: Mehr als zehn Journalisten pro Jahr starben in den vergangenen zehn Jahren in Kolumbien bei der Ausübung ihres Berufes.
Vielleicht schaffte man es mit einer Telenovela sogar, das Publikum im wahren Leben für die Richtigen und das Richtige zu mobilisieren. Einen Versuch wäre es wert.
(Autor: Marco Berger TV-Journalist und Mitarbeiter des Centrums für internationale Migration und Entwicklung in Medellin/Kolumbien)
Kontext
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