[fessenheim-fr] ...ueber April 2023 hinaus!

Klaus Schramm klausjschramm at t-online.de
Sa Sep 10 17:40:18 CEST 2022


Hallo Leute!

Wie ich aus vielen Gesprächen in
den vergangenen Tagen nach dem
Montag, 12.09., erfahren habe, geben
sich Viele der Illusion hin, spätestens
im April 2023 könne der versprochene
deutsche Atomausstieg gefeiert werden.

Angelika Claussen schreibt heute in
ihrem Gastbeitrag auf tp (Text und
Link weiter unten), es sei "nicht
unwahrscheinlich", daß die Atom-Reaktoren
auch über den April 2023 hinaus in
Betrieb bleiben.

Meines Erachtens ist dies nach der
- de facto - AKW-Laufzeitverlängerung
vom Montag sehr sicher (Wahrscheinlichkeit
90:10)!

Die einzige Chance, das noch zu verhindern,
wäre eine Groß-Demo in Berlin Mitte Oktober!

In einer ähnlichen Situation, nachdem die
Merkel-Regierung den "Ausstieg aus dem
Ausstieg" verkündet hatte, kamen am 18.
September 2010 über 100.000 Menschen zur
Demo nach Berlin!

Ciao
    Klaus Schramm


+++
Stresstest zugunsten Frankreichs
10. September 2022

Angelika Claußen

Wir erleben nicht nur eine Gaskrise. Die wirkliche Gefahr geht von alten 
AKW aus. Ein Blick auf die Krise der französischen Atomindustrie und die 
Entscheidung über deutsche Laufzeitverlängerungen.

Der zu Beginn dieser Woche veröffentlichte Stresstest der 
Bundesregierung sieht vor, die Atomkraftwerke Isar 2 und Neckarwestheim 
2 als Notreserve bis zum April 2023 bereitzuhalten – ein Fehler. Denn 
die beiden besagten Atomkraftwerke stellen ein besonders erhöhtes Risiko 
dar. Gleichzeitig reicht ihre Stromproduktion nicht aus, um etwaige 
Energieknappheiten zu beheben.

Doch statt die erneuerbaren Energien mit Hochdruck auszubauen und einen 
Stromsparplan zu entwickeln, scheinen CDU und FDP, wie schon 2009, 
erneut Laufzeitverlängerungen auch über April 2023 hinaus, anzustreben. 
Der Grund: die deutsch-französische Zusammenarbeit und die 
zivil-militärische Nutzung von Atomenergie.

Bei genauerem Hinschauen wird deutlich, dass es sich zurzeit nicht nur 
um eine Gaskrise handelt, ausgelöst durch den Ukraine-Krieg und die 
EU-Wirtschaftssanktionen gegen Russland. Es gibt ein weiteres Problem: 
Fast alle europäischen und deutschen Atommeiler sind alt – mehr als 80 
Prozent laufen schon länger als 30 Jahre1 und sind korrosionsanfällig. 
Das gilt besonders für die französischen Atomkraftwerke. Zu Anfang 
dieses Jahres musste ein Drittel und aktuell mehr als die Hälfte der 
französischen Atommeiler vom Netz genommen werden.
Dr. Angelika Claußen ist niedergelassene Ärztin und Ko-Vorsitzende der 
Deutschen Sektion der Friedens- und Ärzteorganisation IPPNW.

Neben den Korrosionsproblemen ist dafür vor allem der Klimawandel 
verantwortlich: Wasserpegel sinken, das Kühlwasser in den Flüssen ist 
entweder zu warm oder nur noch unzureichend vorhanden. Frankreich hat 
ein strukturelles Problem mit seinen Atommeilern; es muss im Gegensatz 
zu früheren Jahren Strom importieren.

Deswegen versorgen andere Länder, darunter insbesondere Deutschland, 
Frankreich mit dem fehlenden Strom, um das Netz zu stabilisieren und 
einen Blackout zu verhindern. Die Wissenschaftler:innen des Fraunhofer 
ISE stellten fest, dass die Stromproduktion aus Erdgas im Mai 2022 einen 
Höchststand erreichte.
Nuklearkrise und "Energieschmerzen" für Europa

Deutsche Gaskraftwerke haben kurzfristig den fehlenden Strom aus 
französischen Atomkraftwerken ersetzt. Allein im Juni 2022 flossen 1,7 
Milliarden Kilowattstunden Strom aus deutschen Gaskraftwerken nach 
Frankreich, um den Atomstromausfall der französischen Atomkraftwerke zu 
kompensieren.

Schon im Mai 2022 titelte die Wirtschafts- und Finanzagentur Bloomberg: 
"Die sich vertiefende Nuklearkrise in Frankreich wird für Europa noch 
mehr Energieschmerzen bedeuten". Bloomberg warnte wegen des 
langfristigen Ausfalls der französischen Atomkraftwerke vor hohen 
Preisen und Schwierigkeiten für die Energieversorgung im kommenden 
Winter. Die Entscheidung um die Laufzeitverlängerung in Deutschland ist 
damit direkt verbunden.

Nüchtern betrachtet überrascht es, wie Sicherheitsaspekte in der 
Entscheidung führender Politiker komplett ausgeblendet werden. Die 
neueste Studie des BUND erinnert daran, dass Deutschland den 
Atomausstieg 2011 mit der Begründung der unberechenbaren 
Sicherheitsrisiken im AKW-Betrieb beschlossen hat.

Das Sicherheitsrisiko ist jedoch seit 2011 größer geworden. Die drei am 
Netz verbliebenen Atomkraftwerke in Deutschland haben ihre Betriebsdauer 
von 30 Jahren überschritten. Zudem erlaubten die Atomaufsichtsbehörden 
den Betreibern Abstriche auf Sicherheitsüberprüfungen, Nachrüstungen und 
Reparaturen.

In den Reaktoren der Meiler Neckarwestheim und Lingen wurden in den 
vergangenen Jahren immer wieder Risse in den Dampferzeugern entdeckt. 
Ursache ist eine Spannungsrisskorrosion in den Dampferzeugerrohren, die 
im ungünstigen Fall einen Super-Gau auslösen kann. Im Atomkraftwerk 
Neckarwestheim sind bereits mehr als 300 Risse bekannt. Risse, wie sie 
auch in französischen AKW festgestellt wurden, die deshalb vom Netz 
gehen mussten. Lokale Atomkraftgegner:innen haben zusammen mit der 
Antiatominitiative "Ausgestrahlt" Klage gegen den Weiterbetrieb erhoben.

Das ganze Dilemma der Atomkraftdebatte zeigt sich am Beispiel der 
französischen Atomindustrie. Hier wird auf dramatische Weise sichtbar, 
welche Defizite eine ausschließlich auf Atomkraftwerke ausgerichtete 
Stromgewinnung mit sich bringt. In Frankreich werden rund 70 Prozent des 
Stroms mit Atomkraftwerken erzeugt.
AKW-Verlängerung blockiert Energiewende

Die fortgesetzte Nutzung von Atomkraft blockiert die dringend notwendige 
Energiewende, in Frankreich, Deutschland und ganz Europa. Denn Atomkraft 
ist träge, sie kann nicht kurzfristig zurückgefahren werden, wenn 
erneuerbare Energien gerade im Überfluss zur Verfügung stehen.

Wie Frankreich in diese selbstverschuldete Atomkrise rutschen konnte, 
wird deutlich, betrachtet man den zivil-militärischen französischen 
Atomindustriekomplexes. Infrastrukturen und Investitionen werden doppelt 
genutzt: zivil und militärisch. Sie sind auf eine langfristige 
Weiterentwicklung ausgerichtet, um die Infrastruktur für die Produktion 
von Atomwaffen und atomaren U-Booten zu sichern.

Bereits vor Beginn des Ukraine-Kriegs hatte der französische Präsident 
Macron der EU das Angebot gemacht, mit ihr über gemeinsame Atomwaffen zu 
reden. "Wir glauben", so Macron, "die französische nukleare Abschreckung 
ist ein Weg, europäische Interessen zu schützen."

Seit Beginn des Ukraine-Kriegs scheint dieses Interesse an einer 
doppelten Nutzung der Atomenergie auch in Deutschland zu wachsen. So 
plädierten bereits hochrangige Vertreter in der CDU für europäische 
Atomwaffen: Im Mai 2022 nahm der erste parlamentarische Geschäftsführer 
der CDU/CSU Fraktion Torsten Frei die von Macron angestoßene Debatte in 
einem Gastbeitrag in der FAZ auf.

Der Titel: "In der Krise das Undenkbare denken: Europa braucht eine 
eigene atomare Abschreckungsstreitmacht." Frei plädierte darin für eine 
Europäisierung der französischen Atommacht. Anschließend griff CDU-Chef 
Friedrich Merz im Juni 2022 das Angebot Macrons auf: Angesichts der 
Weltlage sähe er in einer gemeinsamen europäischen "nuklearen Kapazität 
unsere Lebensversicherung". Es dürfe da "keine Tabus mehr" geben.

Im Juli 2022 äußert sich schließlich der CDU-Politiker und ehemalige 
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, er halte eine nukleare 
Abschreckung auf europäischer Ebene für unverzichtbar. Die europäische 
Verteidigungskapazität sei ohne die nukleare Dimension nicht denkbar. 
Auch der ehemalige deutsche Botschafter Eckhard Lübkemeier und andere 
Persönlichkeiten hatten sich zu der Idee geäußert.

So ist es nicht unwahrscheinlich, dass hinter den Laufzeitverlängerungen 
bis April das Kalkül steht, diese aus Interesse an einer Zusammenarbeit 
mit Frankreich, im zivilen und militärischen Bereich der 
Atomenergienutzung, auch über dieses Datum hinaus am Netz zu halten.

Dass die Altmeiler Isar 2 und Neckarwestheim 2 ein erhebliches 
Sicherheitsrisiko darstellen, wird dabei wissentlich in Kauf genommen – 
nicht um uns selbst vor einem Blackout zu bewahren, sondern um 
Frankreich weiter mit Strom zu versorgen und sich die Möglichkeit 
offenzuhalten, an einer europäischen Atombombe mitzuwirken.

***
Dr. Angelika Claußen ist niedergelassene Ärztin und Ko-Vorsitzende der 
Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des 
Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e. V. (IPPNW) sowie 
Präsidentin der IPPNW Europa.
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