[fessenheim-fr] in den Ruecken gefallen
klausjschramm at t-online.de
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Di Mai 3 13:55:21 CEST 2011
Hallo Leute!
Wegen anderer dringender Arbeiten - hier erst heute
ein Artikel zur Endlager-Problematik und
dem vergangene Woche veröffentlichten "grün-roten"
Koalitions-Vertrag der neuen baden-württembergischen
Landesregierung.
Ciao
Klaus Schramm
28.04.2011
Baden-Württemberg
"Grün-Rot" fällt der Anti-Atom-Bewegung in den Rücken
Wenig interessant ist meistens, was an wohlfeilen Versprechungen in
Partei-Programmen und Koalitions-Verträgen geboten wird.
Landesregierungen können die Einlösung solcher Versprechungen
schließlich jederzeit unter Hinweis auf das Haushaltsdefizit auf
unbestimmte Zeit hinausschieben. Interessant ist jedoch um so mehr,
was in einem Koalitions-Vertrag fehlt. Noch vor wenigen Tagen wurde
in den Mainstream-Medien verkündet, die neue "grün-rote" baden-
württembergische Landesregierung wolle auch im "Ländle" die
Tauglichkeit von Tonschichten für ein atomares Endlager untersuchen
lassen. Voraussetzung sei allerdings "der definitive Ausstieg aus der
Atomenergie". Im Koalitions-Vertrag jedoch ist von diesem Junktim
keine Rede mehr.
Bekanntlich stellt sich die deutsche Anti-Atom-Bewegung nicht gegen
eine Endlagersuche, sondern fordert die Einhaltung der Reihenfolge:
Zunächst müssen die Atomkraftwerke stillgelegt sein, dann kann über
einen Endlager-Standort entschieden werden. Die Begründung für diese
Reihenfolge ist leicht verständlich: Denn solange Atomkraftwerke
betrieben werden, besteht ein enormer Druck, auch eine untaugliche
Lagerstätte - wie beispielsweise den Salzstock unter Gorleben - als
atomares Endlager festzulegen. Hinzu kommt, daß es nach der
Festlegung eines atomaren Endlagers auf jeden Fall heißen wird, nun
sei ja das Hauptargument gegen die Atomenergie weggefallen - und also
können Atomkraftwerke bedenkenlos weiter betrieben werden.
Als es vor wenigen Tagen vermeldet wurde, "Grün-Rot" wolle nun auch
in Baden-Württemberg auf die Endlagersuche gehen, hieß es
gleichzeitig beschwichtigend: Voraussetzung hierfür sei "der
definitive Ausstieg aus der Atomenergie". Atomkraft-GegnerInnen
fragten sogleich, was denn nun unter "definitiv" zu verstehen sei. So
ist von Seiten der "S"PD mittlerweile häufig von einem "Atom-Ausstieg
bis 2020" die Rede. Als definitiv könnte jedoch auch das verstanden
werden, was von der derzeit in Berlin regierenden "schwarz-gelben"
Koalition irgendwann in den kommenden Monaten beschlossen wird. Kaum
mehr die Rede ist von dem von "Rot-Grün" im Jahr 2000 verkündeten
"Atom-Ausstieg", der angeblich eine Stillegung der deutschen
Atomkraftwerke bis 2022 oder 2023 vorsah (was jedoch auf Täuschung
beruhte).
Im "grün-roten" Koalitions-Vertrag (hier dokumentiert), ist von einem
solchen Junktim - also, daß zuerst ein Atom-Ausstieg
erfolgt/versprochen sein muß, bevor es um ein atomares Endlager gehen
kann, keine Rede mehr. Hier (auf Seite 33) heißt es lediglich: "Wir
halten es für erforderlich, dass für die hoch radioaktiven Abfälle
baldmöglichst ein geeignetes Endlager zur Verfügung steht." Und dies
unter der suggestiven Kapitel-Überschrift "Atomkraft - Nein Danke!"
Während in Berlin der Atom-Ausstieg weiter verzögert wird, sorgt nun
also die baden-württembergische "grün-rote" Landesregierung dafür,
daß "baldmöglichst" das wichtigste Argument der Atomkraft-GegnerInnen
beseite geräumt wird. Damit fällt sie der Anti-Atom-Bewegung in den
Rücken.
Daß es dem designierten "grünen" Ministerpräsidenten Winfried
Kretschmann nicht etwa um ein sicheres Endlager geht, sondern darum,
die Endlager-Frage "baldmöglichst" abzuräumen, zeigte er bereits
deutlich in einem Interview mit der 'Badischen Zeitung' (20. November
2010). Darin war zu lesen, daß sich Kretschmann bereits eingehend mit
den Gepflogeheiten der Durchsetzung eines atomaren Endlagers im
Nachbarland Schweiz beschäftigt hat. In der Schweiz geht es übrigens
auch um eine Endlager in einer Tonschicht, die eine völlig
unzureichende Dicke aufweist. Nachdem die Durchsetzung eines
Endlagers für hochradioaktiven Müll in der Schweiz in den vergangenen
Jahrzehnten am hartnäckigen Widerstand der Bevölkerung gescheitert
war, versucht es die dort zuständige NAGRA mittlerweile mit einem
Konzept der "Bürgerbeteiligung". Dieses neue Vorgehen der NAGRA wird
von der Schweizer Anti-Atom-Bewegung als undemokratisch
zurückgewiesen, da diese Form der "Bürgerbeteiligung" eine echte
Mitsprache ausschließe. Kretschmann kündigte jedoch bereits in diesem
Interview im vergangenen November an, ein "transparentes Verfahren
mit Bürgerbeteiligung nach Schweizer Muster" durchführen zu wollen.
Welche Methoden Kretschmann zur Verfügung stehen, um ein von der
Bevölkerungs-Mehrheit abgelehntes Projekt durchzusetzen, hat er mit
der "Geißler-Schlichtung" im vergangenen Herbst bereits vorgeführt.
Nach dieser Inszenierung einer Schlichtung kehrte sich das Verhältnis
von BefürworterInnen zu GegnerInnen des Mega-Projekts "Stuttgart 21"
in Baden-Württemberg - wenn auch nicht in Stuttgart - um. Wenig
bekannt ist außerhalb Baden-Württembergs, daß Kretschmann im Vorfeld
der "Geißler-Schlichtung" die Bewegung gegen "Stuttgart 21" spaltete -
zuvor hatte sich eine Mehrheit für einen Bau-Stop als Vorbedingung
für Gespräche mit Landesregierung und Bahn AG ausgesprochen - und daß
Kretschmann den früheren Generalsekretär unter Helmut Kohl, Heiner
Geißler, als Schlichter vorgeschlagen hatte. Wenig bekannt ist auch,
was bereits am 17. November durch eine Veröffentlichung des 'stern'
aufgedeckt wurde: Interne Unterlagen der Bahn beweisen, daß der nach
außen hin behauptete Kostenrahmen nicht eingehalten werden kann und
daß dies die Betreiber-Seite genau weiß. Wie bei einer echten
Schlichtung war Mitte Oktober vereinbart worden, daß sämtliche Fakten
auf den Tisch kämen. Nach dieser Veröffentlichung war klar, daß es
sich bei der "Geißler-Schlichtung" nur um eine Farce handelte.
Dennoch wurde das Spektakel mit enormer Unterstützung der Mainstream-
Medien bis Ende November durchgezogen.
Wenig bekannt ist in der Öffentlichkeit auch, daß der in der
"Schlichtung" als Trostpflaster vereinbarte Stresstest von "Stuttgart
21" nicht etwa - wie es zunächst verlautbart worden war - von
unabhängigen GutachterInnen, sondern von der Bahn AG selbst
durchgeführt werden soll. Am 2. Februar 2011 kam zu Tage, daß der
amtierende baden-württembergische Ministerpräsident Stefan Mappus
zusammen mit Bahn-Chef Rüdiger Grube den Vertrag einseitig brach und
nun doch nicht wie vereinbart neutrale WissenschaftlerInnen mit der
Berechnung der Leistungsfähigkeit des geplanten unterirdischen
Stuttgarter Bahnhofs beauftragt werden. Der Fahrgastverband 'Pro
Bahn' wies erbost in einer Pressemitteilung darauf hin, daß schon
während der "Schlichtung" der Hang der Bahn AG zur Faktenschönung
überdeutlich geworden sei.
Dennoch versucht Kretschmann weiterhin zu suggerieren, bei dem in den
kommenden Monaten von der Bahn AG auszuführenden "Stresstest" könne
es zu einem Aus für "Stuttgart 21" kommen. Damit soll Zeit gewonnen
werden. Denn mittlerweile hat sich auch in breiten
Bevölkerungskreisen herumgesprochen, daß bei dem für Herbst
vorgesehenen Volksentscheid - allein wegen des in der Verfassung
vorgesehenen undemokratischen Quorums - eine Niederlage für die
"Stuttgart-21"-GegnerInnen zu erwarten ist. Doch auch hier baute
Kretschmann bereits vor: So sagte er im vorigen Monat gegenüber der
'taz': "Der Gedanke erfüllt mich mit Grausen, daß wir ein Projekt
selber realisieren müssen, von dessen Unsinnigkeit wir seit 15 Jahren
überzeugt sind. Aber auch das gehört im Zweifel zur direkten
Demokratie dazu."
Beim Thema Atomenergie sind noch andere Sätze, die im Koalitions-
Vertrag fehlen, entscheidend. So ist keineswegs vorgesehen, daß die
"grün-rote" Landesregierung entsprechende Sicherheits-Auflagen
erteilt, um den Weiterbetrieb der Reaktorblöcke II der baden-
württembergischen Atomkraftwerke Neckarwestheim und Philippsburg zu
stoppen. Kretschmann schickt sich an, als erster "grüner"
Ministerpräsident in die Geschichte einzugehen, der den Weiterbetrieb
der Reaktoren II der baden-württembergischen AKW Neckarwestheim und
Philippsburg bis 2016 garantierte. Dennoch heißt es in den
Schlagzeilen der Mainstream-Medien über den Koalitions-Vertrag etwa:
"Rascher Ausstieg aus der Atomenergie." Auch eine Klage gegen den
Weiterbetrieb der beiden Reaktorblöcke ist nicht vorgesehen und kann
allenfalls noch durch großen Druck der Anti-Atom-Bewegung
durchgesetzt werden. Der Koalitions-Vertrag enthält an dieser Stelle
jedoch einen lauen Witz. Vermutlich erstmals ist in einem Koalitions-
Vertrag schriftlich festgehalten, daß nun nicht mehr die Opposition,
sondern die Regierung Forderungen erhebt: Ausgerechnet von "Schwarz-
Gelb" will die Landesregierung nun einen "beschleunigten Atom-
Ausstieg" fordern. Dabei wurden bereits durch den "Atom-Ausstieg" des
Jahres 2000 die Laufzeiten verlängert und nicht etwa gekürzt.
Wenig Beachtung fand im Zusammenhang mit dem Koalitions-Vertrag der
Umgang der neuen baden-württembergischen Landesregierung mit einem
der größeten Konzerne im "Ländle", mit dem AKW-Betreiber und Strom-
Konzern EnBW, der zu den "Großen Vier" zählt, die den Strommarkt in
Deutschland beherrschen. Bereits wenige Tage nach der Wahl hatte sich
"Grün-Rot" darauf geeinigt, daß die frühere Bundesvorsitzende der
Pseudo-Grünen, Gunda Röstel, einen Aufsichtsratsposten bei EnBW
erhält. (Siehe unseren Bericht vom 19. April) Bereits im Jahr 2000
war Röstel nach dem erfolgreichen Deal mit den "Großen Vier", der in
den Mainstream-Medien als Atom-Ausstieg gefeiert wurde, mit einem
Managerposten bei der E.on-Tochter Gelsenwasser versorgt worden. Die
neue Rolle Röstels besteht offenbar darin, dem baden-
württembergischen AKW-Betreiber ein grünes Mäntelchen umzuhängen, im
PR-Jargon wird dies als Greenwashing bezeichnet.
Übrigens wurden zur selben Zeit eine ganze Reihe weiterer
Aufsichtsratsposten beim Atomstom-Konzern EnBW neu besetzt - und zwar
mit Personal, an dessen Auswahl noch die "schwarz-gelbe"
Landesregierung unter Stefan Mappus beteiligt war. Damit wird die
energiepolitische Ausrichtung des Konzerns für Jahre fortgeschrieben.
Eine Umwandlung von EnBW in einen Ökostrom-Anbieter ist allein von
daher kaum zu erwarten. Mehr als Greenwashing ist bei EnBW ohnehin
nicht machbar. Bereits vor Jahren hatte der bekannte Solar-Pionier
Hermann Scheer vor der Illusion gewarnt, große Energie-Konzerne
könnten zu Ökostrom-Anbietern transformiert werden. In seinem
wegweisenden Buch 'Energieautonomie' schrieb Scheer im Jahr 2005: "Es
spricht jedoch entschieden mehr dagegen als dafür, dass nunmehr die
großen Energiekonzerne die treibenden Kräfte werden könnten. (...)
Investitionen in Großkraftwerke und Infrastrukturen haben
Amortisationszeiten von zwei bis drei Jahrzehnten. Die jeweiligen
einzelnen Investitionen erfolgen nie zum gleichen Zeitpunkt. Die Zahl
vorfinanzierter Großinvestitionen ist immer ungefähr so groß wie die
der abgeschriebenen. (...) Die Lokomotivführerrolle für erneuerbare
Energien wird auch in Zukunft nicht aus dem konventionellen
Energiesystem kommen. Es sei denn, wir würden einen Bummelzug für
ausreichend halten."
Als Trostpflaster soll wohl der im Koalitions-Vertrag angekündigte
Ausbau der Windenergie an der Stromerzeugung in Baden-Württemberg auf
zehn Prozent bis 2020 dienen. In Sachsen-Anhalt konnte selbst unter
einem "schwarzen" Ministerpräsidenten bis heute ein Anteil der
erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung von über 40 Prozent
durchgesetzt werden. Realistisch muß diese Ankündigung offenbar so
verstanden werden, daß in Baden-Württemberg der Ausbau der Windenegie
weiterhin gebremst werden soll - wenn auch nicht so rigoros wie unter
Mappus. 10 Prozent jedenfalls sind vor dem Hintergrund der
Ankündigung, Baden-Württemberg zum "Musterland für erneuerbare
Energien" werden lassen zu wollen, nur als schlechter Witz zu
verstehen.
Auch bei den Finanzen versucht sich "Grün-Rot" mit dem Koalitions-
Vertrag ein solides Image zu geben. Doch nur wer genau hinschaut
erkennt: Auch unter "Grün-Rot" sollen jedes Jahr neue Schulden
aufgenommen werden - der "Schuldenberg" wächst also voraussichtlich
über das bereits vorhandene Minus von 45 Milliarden Euro hinaus. An
eine effiziente Besteuerung der Großkonzerne wagt sich "Grün-Rot"
nicht heran - dies wäre die einzige realistische Chance, den
Landeshaushalt zu sanieren. Doch offenbar legt es auch "Grün-Rot"
darauf an, die Einlösung gegebener Versprechungen unter Hinweis auf
das Haushaltsdefizit auf unbestimmte Zeit hinausschieben zu können.
Lassen wir eine Formulierung im Koalitionsvertrag, in der es heißt
"wir streben an", einmal beiseite, kann allenfalls folgende Aussage
als verbindlich gewertet werden: "In der Haushaltspolitik des Landes
werden wir die Schuldenbremse des Grundgesetzes, d.h. die
strukturelle Nullverschuldung des Landeshaushalts erreichen und
danach einhalten." Die zitierte Schuldenbremse ist erst ab 2019
verpflichtend. Wie im Titel ersichtlich gilt der vorliegende
Koalitions-Vertrag jedoch nur bis zum Ende der Legislaturperiode im
Jahr 2016.
In einem Fall wurde ein fehlender Satz im Koalitions-Vertrag sogar
von den Mainstream-Medien bemerkt: In einem unter JournalistInnen
zirkulierenden Vorentwurf zum Koalitions-Vertrag war noch "die
Absenkung des Wahlalters für Landtagswahlen auf 16 Jahre" enthalten.
Dies war auch schon von der Nachrichtenagentur dpa verbreitet worden.
So konnte kaum mehr übergangen werden, daß diese Versprechung nun im
Koalitions-Vertrag nicht mehr zu finden war. "Ein redaktionelles
Versehen," erklärt ein Sprecher der Pseudo-Grünen entschuldigend.
Daß sich auch beim Thema Verkehr im Bundesland mit den Zentralen von
Daimler und Porsche kaum etwas gegenüber der Vorgänger-Regierung
ändern soll, ist weniger dem Koalitionsvertrag als einer Äußerung des
designierten Superministers (für Wirtschaft und Finanzen) Nils Schmid
zu entnehmen: "Jede baden-württembergische Landesregierung hat Benzin
im Blut," sagte Schmid am 25. April in aller Öffentlichkeit. Sollten
es die Pseudo-Grünen jedoch für den Erhalt ihres Image als nötig
erachten, ein wenig in Richtung auf eine Verkehrs-Wende zu drängen,
besteht immer noch die Möglichkeit auf altvertraute Rollenspiele
zurückzugreifen. Dann kann sich Kretschmann von Schmid, der nun
schließlich für das Haushaltsdefizit verantwortlich sein wird,
zurückpfeifen lassen.
Und als Placebo kann "Grün-Rot" sich auch auf die von den
Umweltverbänden längst als umweltpolitischen Irrweg gekennzeichnete
Förderung der "Elektromobilität", also die Verschwendung von
Steuergeldern für die Produktion von Autos mit Elektromotoren
verlegen. So heißt es im Koalitions-Vertrag bereits, Baden-
Württemberg solle "zum Leitmarkt für Elektromobilität" werden.
Politisch Interessierte können sich die ein oder andere
vielversprechende Formulierung aus dem "grün-roten" Koalitions-
Vertrag notieren, um dann einmal im Jahr 2016 Bilanz zu ziehen und
Soll und Haben miteinander zu vergleichen.
So heißt es nun etwa in Artikeln der Mainstream-Medien anerkennend,
"Grün-Rot" wolle das bisherige Ziel, bis 2013 für 34 Prozent der
Kleinkinder unter drei Jahren einen Betreuungsplatz anzubieten,
übertreffen. Dabei ist selbst im Koalitions-Vertrag der Hinweis zu
finden: "Dabei muss berücksichtigt werden, dass das früher einmal
vereinbarte Ausbauziel eines Versorgungsgrades von 34 Prozent
teilweise schon heute deutlich überschritten wird." Wer also im Jahr
2016 eine Bilanz der nun antretenden Landesregierung ziehen möchte,
sollte sich nicht an den in den Mainstream-Medien genannten Vorgaben,
sondern beispielsweise an einem Vergleich mit anderen Bundesländern
orientieren.
Messen lassen müssen wird sich die neue Landesregierung im Jahr 2016
auf jeden Fall an ihrem Versprechen, daß der Unterrichtsausfall an
den Schulen abgebaut und die Krankheitsreserve erhöht wird. Doch
Aufsehen erregte Kretschmann bereits kurz nach der Landtagswahl, als
er bekannt gab, daß er entgegen dem vor dem 27. März verkündeten
Versprechen die Zahl der LehrerInnen in Baden-Württemberg verringern
will. Der Verband Bildung und Erziehung, der Philologenverband und
die GEW warfen "Grün-Rot" am 12. April vor, ihre Wahlversprechen zu
brechen. Scharfe Kritik kam auch vom Landeselternbeirat.
Schuldmindernd muß Kretschmann allerdings zugebilligt werden, daß
WählerInnen, die Wahlversprechen für bare Münze nehmen, längst den
Kontakt zur Realität verloren haben.
Im Koaltitions-Vertrag findet sich nun auch die Ankündigung, "Grün-
Rot" werde eine "Verfasste Studierendenschaft" einführen, "die auch
über die Belange der Hochschule hinaus mit einem entsprechenden
Mandat an der gesellschaftlichen Willensbildung teilnimmt." Ob dies
dem lange geforderten "allgemeinpolitischen Mandat" gleichkommt,
bleibt abzuwarten.
Und ob tatsächlich - wie versprochen - die Studien-Gebühren
abgeschafft werden, ist letztlich eher eine Haushalts- denn eine
bildungspolitische Frage. Denn wie hatte ein Journalist in einem
Kommentar am 30. März der neuen Landesregierung empfohlen? "Mit der
chronisch prekären Haushaltslage ließe sich sogar begründen, warum
man die Studiengebühren jetzt gerade nicht abschafft. Dass sie
unsozial seien, stimmt ohnehin nicht, eher das Gegenteil. Wenn die
Regierung stattdessen die Zinsen für die Studiendarlehen
heruntersubventioniert, verlöre die Gebühr jeden Rest Abschreckung."
Beim Thema "freie Radios" geht es im Koalitions-Vertrag ganz
offensichtlich nur darum, den Schein zu erwecken, es gehe um eine
zukünftige Förderung. Denn die zentrale Forderung, daß freie Radios
auf der Frequenz, die ihnen zugewiesen wurde, auch tatsächlich
empfangen werden können (bekanntlich ist beispielsweise der Empfang
von 'Radio Dreyeckland' im Bereich Freiburg auf 102,3 MHz äußerst
schlecht), wird im Koalitionsvertrag übergangen.
Ebenfalls kein Wort ist im Koalitions-Vertrag zur Bespitzelung linker
Gruppen
durch den baden-württembergischen "Verfassungsschutz" zu finden. Zur
NPD heißt
es im Koalitionsvertrag witziger Weise: "Wir werden deshalb prüfen,
welche
Vorgehensweise gegen die NPD rechtlich geboten ist, insbesondere ob
die
Voraussetzungen für die Einleitung eines neuerlichen
Verbotsverfahrens
vorliegen." Wissen Kretschmann und Schmid etwa nicht, daß sie mit der
Landesregierung auch die Gewalt über den baden-württembergischen
Geheimdienst
("Vefassungsschutz") übernehmen und daß sie also in Zukunft dafür
verantwortlich sind, wenn - gerade in Baden-Württemberg - durch die
personelle
Durchmischung der Leitungsebene der NPD mit BeamtInnen des
"Verfassungsschutzes" ein Haupthindernis besteht, das ein Verbot der
NPD durch
das Bundesverfassungsgericht bislang verhinderte?
Da es laut Nils Schmid in Baden-Württemberg vorrangig um das
Automobil geht und
hierzulande angeblich Benzin durch die Adern fließt, sei diese
Metapher hier
einmal aufgegriffen: Tatsächlich nimmt eine Landesregierung eher im
Auspuff als
hinter dem Lenkrad dieses Autos ihren Platz ein. Jenseits aller
Versprechungen
ist anzunehmen, daß sie keinerlei Einfluß auf die Fahrtrichtung des
Gefährts
noch auf den Bezinstrom ausübt, der zum Motor fließt - geschweige
denn, daß sie
den Motor durch einen anderen ersetzen könnten.
Es muß damit gerechnet werden, daß die Bilanz der "grün-roten"
Landesregierung
zum Ende der Legislaturperiode im Jahr 2016 noch verheerender
ausfällt als jene
von "Schwarz-Gelb". Verantwortlich hierfür werden jedoch nicht in
erster Linie
Winfried Kretschmann oder Nils Schmid zu machen sein, sondern zum
einen die
wirklich Mächtigen im "Ländle". Denn wie schon Kurt Tucholsky wußte:
"Sie
meinen, sie hätten die Macht, dabei sind sie nur an der Regierung."
Zum anderen jedoch hängt die Zukunft Baden-Württembergs wesentlich
davon ab, ob sich die Bevölkerung täuschen läßt oder ob sie für die
Realisierung dessen kämpft, was ihr versprochen wurde.
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