[fessenheim-fr] Der Kampf ist noch nicht gewonnen

klausjschramm at t-online.de klausjschramm at t-online.de
Di Mär 29 09:59:54 CEST 2011


Hallo Leute!

Hier ein sehr lesenswerter Artikel. Auch 1986 wähnte sich
die Anri-AKW-Bewegung bereits auf der Erfolgsstraße - und
mußte sich von der Macht der Gegenseite Jahr für Jahr
weiter zurückdrängen lassen. Um nicht nochmals dieselbe
Niederlage zu erleiden, gilt es, aus Niederlagen zu lernen.
Mit welchen Tricks die PropagandistInnen der Gegenseite
arbeiten (dieselben wie bereits nach 1979 und 1986!), beleuchtet
dieser Artikel. (Leider fand der Autor offenbar kein geeigneteres
Medium als ausgerechnet die 'taz'.)

Ciao
   Klaus


27.03.2011

Der Protest wird pathologisiert

Der Kampf um den Atomausstieg ist noch längt nicht entschieden. 
Propagandisten der Atomlobby reden die Katastrophe von Fukushima 
schon wieder klein  

VON ALBRECHT VON LUCKE

In den ersten Tagen nach der Atomkatastrophe von Fukushima konnte man 
den Eindruck haben, als wäre plötzlich ein Vorhang aufgegangen und 
eine neue Welt zum Vorschein gekommen: "Das Restrisiko", erklärte der 
Umweltminister, "ist seit Japan keine statistische Größe, sondern 
eine reale" - als ob die Gefahr zuvor nicht ganz genauso real gewesen 
wäre.  

Was wir gegenwärtig erleben, ist also keine Revolution der Tatsachen, 
sondern eine Revolution der Rezeption dieser Tatsachen. In der 
Wissenschaft würde man von einem Paradigmenwechsel sprechen. Thomas 
S. Kuhn [1] hat dessen Charakteristika bereits vor 50 Jahren in 
seinem Klassiker "Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen" 
beschrieben. Ein altes Paradigma wird in der Wissenschaft demnach 
nicht progressiv, in vielen kleinen Schritten, sondern nur 
revolutionär abgelöst - und zwar erst dann, wenn die Argumente des 
neuen Paradigmas so übermächtig geworden sind, dass sich das alte 
nicht mehr halten lässt.  

In der Politik gilt das umso mehr. Mit der Katastrophe von Fukushima 
ist das Paradigma der sicheren, da angeblich beherrschbaren Atomkraft 
massiv ins Wanken geraten. Hierin besteht der von Mathias Greffrath 
beschriebene Kairos, der günstige Moment, der AKW-Gegner. Doch zu 
voreiliger Siegesgewissheit besteht trotz der beeindruckenden 
Demonstrationen vom Wochenende kein Anlass. Denn schon einmal, nach 
dem GAU von Tschernobyl vor 25 Jahren, wurde die Gefahr der Atomkraft 
von der Mehrheitsgesellschaft anschließend radikal verdrängt - auch 
dank des massiven Drucks der Atomlobbys.  

Romantische Leidenschaften

Auch diesmal sind die alten Atompropagandisten keineswegs geschlagen, 
im Gegenteil. Exemplarisch zeigt sich dies in Springers 'Welt', seit 
Jahren publizistisches Hauptorgan bei der Bekämpfung der 
Umweltbewegung. Dort versuchten in den letzten Tagen ironischerweise 
fast ausschließlich ehemalige Linke oder Grüne, den aufkeimenden 
Protest mit allen Mitteln der ideologischen Denunziation zu 
bekämpfen.  

Statt Empathie mit den Japanern zu üben, herrsche 
"sadomasochistisches Super-GAU-Gedröhne"[2] (Andrea Seibel) und, so 
Exchefredakteur Thomas Schmid, vor langen Jahren Mitstreiter in 
Joschka Fischers "Revolutionärer Kampf"-Gruppe, eine "trübe 
Katastrophensehnsucht im Volk", das sich "instinktsicher und ohne 
jedes Zögern in die Ausstiegseuphorie"[3] flüchtet. Dass in den 
vergangenen strahlend-sonnigen Tagen alles andere als 
Untergangsstimmung zu spüren war, kann Schmid nicht irritieren, der 
zu ganz schwerem charakterologischen Geschütz greift: "1945 hatten 
die Deutschen ihr Reservoir an romantisch-politischer Leidenschaft 
bis zur Neige ausgeschöpft, mit entsetzlichen Folgen." Doch dieser 
"romantische Raum" lebt laut Schmid weiter fort: "Es ist, als habe 
sich die politische Erregungsbereitschaft ganz unter das schwere Dach 
der Anti-Atom-Kathedrale geflüchtet, um dort eingehegt und mit den 
besten menschheitlichen Absichten gepflastert zu überleben."[4]  

Ist es schon atemberaubend genug, wie hier bei Schmid aus dem 
rassistischen Hass der Deutschen eine "romantische Leidenschaft" 
wird, erkennt man sogleich, wozu diese Verniedlichung taugt: Hatte 
Götz Aly mit seinen Kontinuitätslinien der NS-Zeit noch bei 68 und 
der RAF Schluss gemacht, geht Thomas Schmid weiter und nimmt gleich 
die ganze Bewegung der 70er und 80er Jahre in "romantische" 
Geiselhaft: "Wie zum Ausgleich schufen sich die Deutschen, 
anschwellend seit den 70er Jahren, im Anti-Atom-Diskurs einen neuen 
Raum der Leidenschaft, in dem von Anfang an eine vage, nicht zähmbare 
Angst den Ton angab. [...] Da Angst nicht begründungspflichtig ist, 
konnte die Anti-Atom-Bewegung es sich leisten, alle Gegenargumente zu 
missachten, sich wort- und broschürenreich dem Diskurs zu entziehen 
und sich gewissermaßen genetisch im Recht zu fühlen."[5] Hier zeigt 
sich Schmids eigentliches Motiv: die Diskreditierung der rationalen 
Argumente der Atomkraftgegner durch deren Pathologisierung.  

Rationalität der Kernkraft

Wie rational dagegen der Betrieb von AKWs ist, weiß Schmid-Adlatus 
Gerd Held, der die ganze höhere Rationalität der Kernkraft freilegt: 
"Wer trotzdem an der Kernenergie festhält, tut dies, weil er andere, 
größere, tiefer verwurzelte Gefahren sieht: die Gefahr, dass Wärme 
und Nahrung, Arbeit und Mobilität für viele Nationen unbezahlbar 
werden. Die Gefahr der Erschöpfung der Erde durch Raubbau und CO2-
Emissionen. Diese Bedrohungen" - so Held weiter, und da wird es 
vollends abenteuerlich -"verändern den Charakter der Kernenergie. Sie 
ist keine menschliche Willkür-Entscheidung, sondern wird aus einer 
Zwangslage betrieben. Fast" - versteigt sich Held endgültig - "könnte 
man hier [gemeint ist das Hochtechnologieland Japan - ein Schelm, wer 
nicht auch an Deutschland denkt] von einer Pflicht sprechen, die Last 
der Kernenergie auf sich zu nehmen."[6]   

Zugespitzter könnte die mythologische Überhöhung der Atomkraft zu 
einer fast schicksalshaften Notwendigkeit nicht erfolgen. Ulrich 
Beck, der Autor der "Risikogesellschaft", erkannte bereits frühzeitig 
diese "Risikodramaturgie" in Form eines "Verdrängungswettbewerbs der 
Großrisiken". Man müsse die atomare Gefahr gar "nicht mehr leugnen - 
nur die anderen Gefahren als noch größer hinstellen". Genau dies ist 
in den letzten Jahren geschehen, mit Erfolg: Die drohende 
Klimakatastrophe und die notwendigen Kohlendioxid-Reduktionen 
dominierten die globalen Diskurse. Auf diese Weise konnte die völlig 
andere Gefahrendimension von Plutonium minimiert und die Atomkraft 
als "grüne Brückentechnologie" verkauft werden.  

Wenn die Ideologen der Welt nun Fukushima gar zur 
"Semikatastrophe"[7] (Matthias Horx) kleinreden, knüpfen sie direkt 
an diesen Strang an. Hier zeigt 
sich: Der Kampf um den endgültigen Ausstieg aus der Atomkraft ist 
noch lange 
nicht gewonnen. Aus den letzten 25 Jahre seit Tschernobyl zu lernen 
bedeutet 
daher vor allem eins: die existenzielle Erfahrung der völligen 
Unbeherrschbarkeit der Kernenergie nicht ein zweites Mal zu 
verdrängen.  


ALBRECHT VON LUCKE, Jurist und Politikwissenschaftler, ist Redakteur 
der Blä
tter für deutsche und internationale Politik. Zuletzt erschienen: 
"Die gefä
hrdete Republik: Von Bonn nach Berlin 1949 - 1989 - 2009" (Wagenbach 
Verlag)  

http://taz.de/1/debatte/kommentar/artikel/1/der-protest-wird-
pathologisiert



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