[fessenheim-fr] Info-Serie Atomenergie - Folge 9
klausjschramm at t-online.de
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Sa Aug 15 20:12:27 CEST 2009
Info-Serie Atomenergie
Folge 9
Der italienische Atom-Ausstieg
Am 8. November 1987
fand das italienische Atom-Referendum statt
Warum hatte Italien mit dem Atom-Ausstieg Erfolg?
Zur Vorgeschichte
Die sogenannte zivile Nutzung der Atomenergie begann in Italien zu
Beginn der 1960er-Jahre. Eine bedeutende Rolle spielte der Physiker
und Atom-Pionier Enrico Fermi. Dieser hatte bereits 1938 den
Nobelpreis für Physik erhalten und wurde durch die erste
kontrollierte Kettenreaktion weltbekannt.
Zunächst wurden in Italien drei nach heutigen Verhältnissen relativ
kleine Atomkraftwerke gebaut:
Das AKW Caorso in der Region Emilia bei Piacenza - 840 MW
Das AKW Trino Vercellese I in der Region Piemeont - 270 MW
Und das AKW Latina in der Region Latinum - 150 MW
Nach zeitlichen Verzögerungen ging das AKW Caorso erst 1981 in
Betrieb. Die drei AKWs lieferten bei einer Leistung von zusammen
1.260 MW rund 4 Prozent des italienischen Stroms. Noch 1983 wurde 25
Prozent des italienischen Stroms aus regenerativen Energien - sprich:
aus Wasserkraft - erzeugt.
1977 wurde von der italienischen Industrie und der Regierung das Ziel
vorgegeben, bis 1985 - also innerhalb von acht Jahren 12 Reaktoren à
1000 MW zu bauen. Diese Zielvorgabe wurde sowohl von der DC
(Democrazia Cristiana), einer Partei, die im politischen Spektrum
ungefähr der deutschen CDU entsprach, als auch der KPI
(Kommunistische Partei Italiens) unterstützt.
Da sich aber in Italien seit Ende des Zweiten Weltkriegs schwache
Koalitionsregierungen unter Ausschluß der KPI in rascher Folge
ablösten - und der Schmiermittelbedarf entsprechend hoch war - blieb
die Entwicklung der Atomenergie hinter der anderer vergleichbarer
europäischer Staaten zurück. Heute gilt es als überraschend, daß
Italien im prestigeträchtigen Club der G 8 Mitglied ist. Bei der
Gründung 1975 als G 6 war Italien neben Frankreich, Großbritannien,
Deutschland, Japan und den USA als eine der führenden
Industrienationen mit von der Partie.
Bereits 1979, beim Baubeginn des AKW Montalto di Castro stellten sich
UmweltschützerInnen in den Weg. Es ging nicht allein um den
Widerstand gegen die Atomenergie, sondern auch um die Sorge um ein
nahegelegenes Vogelschutzgebiet. Der Ort Montalto di Castro liegt
rund 100 Kilometer nördlich von Rom am Tyrrhenischen Meer in der -
damals - einsamen, paradiesisch gelegenen Küstenzone der Maremma.
Ebenfalls 1979 wurde nach dem österreichischen Vorbild (Atom-Ausstieg
per Volksentscheid 1978) beim italienischen Kassationshof die
Forderung nach Volksentscheid über einen Atom-Ausstieg mit den
nötigen 50.000 Unterschriften eingereicht - vergeblich.
Bereits 1980 - ein Jahr nach Harrisburg - gab es eine weitere
Unterschriftensammlung für den italienischen Atom-Ausstieg.
1986 waren die Reaktionen in der Bevölkerung nach der Reaktor-
Katastrophe von Tschernobyl in Italien besonders heftig, während sie
in Frankreich dank der perfekt zentralisierten, antidemokratischen
Informationspolitik nahezu gleich Null war und in Deutschland
zwischen wenig koordinierten Protesten, Gleichgültigkeit und Ausreise
schwankte. In Frankreich gab es etwa keinerlei Beschränkungen beim
Gemüse und der radioaktive Niederschlag der Wolke aus Tschernobyl,
die eine Spur über den gesamten europäischen Kontinent gezogen hatte,
wurde in Frankreich offiziell geleugnet.
In den italienischen Medien wurde die Angst der Menschen nahezu
durchweg als "Hysterie" abgetan, was nicht selten mit "schlechter
Information" erklärt wurde. Beispielsweise hatte der italienische
Zivilschutz wenige Tage nach dem 26. April jegliche Gefahr für
Personen ausgeschlossen. Kurz darauf verbot Innenminister Degan den
Verzehr von Frischgemüse. Blattgemüse und Spinat mußten großflächig
vernichtet werden. Der Konsum von Milch wurde stark eingeschränkt.
Beispielsweise mußte der Bürgermeister der Adria-Provinz Pesaro
zeitweilig wegen Grenzwertüberschreitungen den Verkauf von Ziegen-
und Schafmilch verbieten.
Gleichzeitig wurde bekannt, daß die von den Behörden veröffentlichten
Meßergebnisse bei Lebensmitteln über die lokal alarmierend hohe
Radioaktivität hinweg getäuscht hatten.
Noch 1986 wurden weitere Planungen der italienischen Industrie und
der Regierung bekannt, wonach bis 1995 weitere sieben AKWs mit je
zwei Reaktoren à 1000 MW gebaut werden sollten. Diese Planung hatte
breite Zustimmung im italienischen Parlament inklusive der KPI
gefunden.
Seit Oktober 1986 war das AKW Caorso angeblich wegen "vorübergehender
Prüfungen" außer Betrieb. Der Bürgermeister von Montalto di Castro,
Leo Lupidi (Partito Socialiste), richtete gegen den Weiterbau am
dortigen AKW immer neue rechtliche Hürden auf. Er bestätigte damit
die ungewöhnlich hohe Machtkonzentration im Amt italienischer
Bürgermeister.
Den anderen Pol in der italienischen Auseinandersetzung um die
Atomenergie markierte der Generaldirektor des italienischen
Elektrizitäts-Konzerns, Mario Corbellini. Nur wenige Monate nach der
Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl erklärte er: "Wir können die
nukleare Option nicht rückgängig machen, wir riskieren sonst von 1992
an totale Finsternis im Lande."
Die Monate vor dem Referendum im Jahr 1987
Das italienische Verfassungsgericht entscheidet im Januar 1987, daß
das mit ausreichender Zahl an Unterschriften geforderte Referendum
zwischen 15. April und 15. Juni 1987 durchgeführt werden solle. In
den Monaten zuvor hatte eine Unterschriftensammlung mit
Millionenbeteiligung die gesetzliche Hürde genommen.
Im Februar veranstaltet die italienische Regierung eine "nationale
Energiekonferenz" mit "Experten", die der Nuklearwirtschaft verbunden
sind. Bekannte AtomkraftgegnerInnen, die lediglich zu
Dekorationszwecken eingeladen wurden, sagen ihre Teilnahme ab und
begründen dies mit der einseitigen Auswahl der "Experten". Am
Eröffnungstag der Konferenz, die im römischen Sportpalast
stattfindet, demonstrieren rund 5000 AtomkraftgegnerInnen in Rom.
Die Koalitionsregierung unter dem "sozialistischen"
Ministerpräsidenten Bettino Craxi bricht auseinander.
Im März wird Giulio Andreotti (DC) mit der Bildung einer neuen
Regierung beauftragt.
Ebenfalls im März 1987 spricht sich Papst Johannes Paul II alias
Carol Woytila beim Besuch eines Elektrizitätswerks in Civitavecchia
verklausuliert gegen Atomenergie aus. Der Ort ist symbolträchtiger
als die Worte, da Civitavecchia nur wenige Kilometer von der
Baustelle des AKW Montalto di Castro entfernt ist.
Hier die Passagen der Papst-Rede, die als Ablehnung der Atomenergie
gedeutet wurden: "Die Frage der Sicherheit der Kraftwerke muß mit
ebenso großer Anstrengung behandelt werden wie bisher die Frage der
Energiegewinnung."
Aus dem Zusammenhang geht hervor, daß folgende Worte an diejenigen,
die in AKWs tätig sind, gerichtet waren:
"Die Opfer der Umweltgefährdung sind gerade die Arbeiter."
Im übrigen warnte der Papst vor einer "neue Sklaverei", die infolge
des technischen Fortschritts entstehe oder entstanden sei.
Im Juli 1987 ist Giulio Andreotti noch einer der maßgeblichen
Politiker Italiens. Der Niedergang seiner Partei, der DC, ist eng mit
dem in Italien erfolgreichen Atom-Ausstieg verknüpft. Die Democrazia
Cristiana war nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1993 die dominierende
Partei des Landes. Sie war in dieser Zeit an jeder Regierung
beteiligt und stellte fast alle Ministerpräsidenten. Die vier
häufigsten Koalitionspartner der DC waren die Italienische
Sozialistische Partei (PSI), die Italienische Sozialdemokratische
Partei (PSDI ), die Republikaner (PRI) und die Liberalen (PLI). Was
in Deutschland mit der Flick-Affaire und dem Parteispendenskandal nur
wenig politische Auswirkungen haben sollte, führte in Italien Mitte
der 1980er-Jahre wegen Korruptionsskandalen und Mafia-Kontakten zum
Zusammenbruch der DC. Giulio Andreotti - als eine der zentralen
Figuren der DC - war durchgehend von 1983 bis 1989 Außenminister in
verschiedenen Koalitionsregierungen. Unstrittig ist heute, daß
Andreotti in seiner Zeit als führender italienischer Politiker
Kontakte zur Mafia hatte. So traf er sich 1987 mit Salvatore Riina,
dem damals mächtigsten sizilianischen Mafioso, der seit eineinhalb
Jahrzehnten flüchtig war und für etwa 1000 Morde verantwortlich sein
soll. Im großen Mafia-Prozeß von 1986/87 in Palermo wurden Hunderte
von Mafiosi verurteilt.
Giovanni Goria (DC), erst 44 Jahre alt, wird im August 1987
Ministerpräsident. Er regiert mit Hilfe einer 5-Parteien-Koalition
bestehend aus DC, PCI ("Sozialisten"), Republikaner,
sozialdemokratische Partei (kleiner als die PCI) und Liberale.
Ciriaco de Mita ist zu jener Zeit Parteisekretär der DC - also
"Parteichef".
Das Referendum, das nach der Entscheidung des italienischen
Verfassungsgerichts zwischen 15. April und 15. Juni 1987 hätte
stattfinden sollen, wird wegen der vorgezogenen Parlamentswahlen
verschoben. Nach einem bestehenden Gesetz muß ein Referendum mit
einem zeitlichen Mindestabstand von einem Jahr zu Parlamentswahlen
abgehalten werden. Dies könnte allerdings bei den in Italien häufig
recht kurzlebigen Koalitionsregierungen zur Folge haben, daß ein
Referendum weiter und weiter bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag verzögert
werden kann.
Wegen der angekündigten Verschiebung des Referendums auf einen Termin
"frühestens im Sommer 1988" kommt es zu heftigen Protesten der Anti-
Atom-Bewegung. Auf Druck der Referendums-BefürworterInnen wird mit
einer Gesetzesänderung durch Regierung und Parlament der Termin des
Referendums auf den 8. November 1987 festgelegt.
In den Wochen vor dem Referendum versuchen die italienischen Medien
unisono, dessen Bedeutung herunterzuspielen. Der damalige Italien-
Korrespondent der 'Badischen Zeitung', Wolfgang Prosinger, stellt in
einem Artikel am 7.11.87 das Referendum als Groteske und Farce dar:
"...kaum mehr als eine Farce."
"Bei den fünf Fragen, die den Italienern vorgelegt werden, geht es um
sehr wenig."
"...zur Debatte steht keineswegs der Ausstieg aus der
Atomwirtschaft."
Doch die großen Parteien haben sich mit ihrer Taktik verkalkuliert.
Sie empfehlen - obwohl sie durch die Bank als Pro-Atom-Parteien
gelten - beim Referendum mit "Ja" zu stimmen. Begründet wird dies so:
Es gehe lediglich darum, drei Gesetze abzuschaffen, die
Genehmigungsverfahren bei AKWs und Beteiligungen an ausländischen
AKWs regelten. Damit hoffen sie, die Folgenlosigkeit des Referendums
vorherzubestimmen und damit zugleich das intendierte Ziel des
Referendums als Plebiszit gegen Atomenergie auszuhebeln.
Die Argumentation von DC und KPI steigert sich bis hin zu absurden
Behauptungen wie der, es gehe lediglich um die Abschaffung dreier
Gesetze, für deren Abschaffung im Parlament längst eine breite
Mehrheit gegeben sei. Bei zwei der Gesetze, die beim Referendum zur
Entscheidung stehen, handelt es sich tatsächlich um Gesetze, die
keinerlei bezug zur Atomenergie aufweisen und einfach ans Referendum
angehängt wurden. Zu berücksichtigen ist die italienische
Besonderheit, daß in Referenden nicht wie beispielsweise in der
Schweiz über - wie auch immer zustande gekommene - Fragestellungen
abgestimmt werden darf, sondern ausschließlich über die Abschaffung
bereits bestehender Gesetze.
Gleichzeitig ordnet die italienische Regierung im November 1987 die
Unterbrechung der Bauarbeiten am AKW Montalto di Castro an, um den
AtomkraftgegnerInnen Wind aus den Segeln zu nehmen.
Bei der Volksabstimmung am 8. November 1987 stimmen 86 Prozent der
Bevölkerung aus der Region um Montalto di Castro gegen Atomenergie -
italienweit: 72 Prozent. (Die Beteiligung beträgt 65,2 Prozent.) Laut
italienischer Verfassung muß das Ergebnis eines Volksentscheids
innerhalb von 120 Tagen umgesetzt werden.
Der Kampf um die Durchsetzung des Atom-Ausstiegs
Sofort nach dem Bekanntwerden des Ergebnisses des Referendums,
versuchen die Medien erneut Verwirrung zu stiften. Die Nachrichten-
Agentur dpa kommentiert:
"Es wird ein Moratorium geben, bei dem die Arbeit an vier noch nicht
fertiggestellten Atomkraftwerken auf längere Zeit ausgesetzt wird.
(...) Was mit den drei bereits bestehenden Atomkraftwerken geschehen
soll, ist noch unklar."
Einen Widerhall der italienischen Medien gibt folgender Presse-
Überblick:
Süddeutsche Zeitung v. 26.11.1987:
"Die überwiegende Volksmeinung zu ignorieren wäre schwierig in einem
Land mit schwachen Koalitionsregierungen."
Süddeutsche Zeitung v. 21.12.1987:
"... Energieplan geändert, der den Bau von 10 neuen Atomkraftwerken
bis Mitte der 90er Jahre vorsah."
"In Italien gibt es drei Atomkraftwerke, die 4,6 Prozent des
Energiebedarfs liefern."
Badische Zeitung v. 19.12.1987:
"Eines der vier bereits existierenden Atomkraftwerke, die nach dem
Schock von Tschernobyl aber alle abgeschaltet worden waren, soll
geschlossen, ein zweites auf Erdgas umgestellt werden."
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 18.11.1987:
Überschrift "Italien sucht Übergangslösung
Trotz Referendum kaum Ausstieg aus der Kernenergie"
Im Artikel heißt es aber, im Referendum habe "eine deutliche Mehrheit
gegen Kernenergie" votiert. Und: "...trotzdem gilt es als wenig
wahrscheinlich, daß sich Italien (...) völlig aus der Kernenergie
zurückzieht."
Weiter wird es so dargestellt, als hätten sich alle italienischen
Parteien für das Votum gegen Kernenergie ausgesprochen, doch
plädierten nun für eine "Übergangslösung". Nach der Interpretation
der 'FAZ' bedeute dies, den Weiterbetrieb des AKW Caorso sowie die
Fertigstellung des AKW Montalto di Castro. "Selbst der Bau des
geplanten Kernkraftwerks von Trino Vercellese ist nicht
auszuschließen." (gemeint ist Trino Vercellese II)
Viel wird auch darüber spekuliert, ob es purer Zufall war, daß die
drei AKWs Caorso, Trino Vercellese und Latina in den Monaten vor dem
Referendum abgeschaltet waren und die angegebenen Gründe sich als
Vorwände erwiesen.
Einige Jahre später wird der italienische Atom-Ausstieg mit dem
Argument heruntergespielt, daß es ja lediglich um drei Atomkraftwerke
gegangen sei. Von den vier im Bau befindlichen - insbesondere vom AKW
Montalto di Castro - ist nicht mehr die Rede. Doch meist bleibt in
den europäischen Medien der italienische Atom-Ausstieg überhaupt
ausgeblendet...
Im März 1988 (29.03.1988) hieß es noch in einem Artikel in der
'Badschen Zeitung' unter dem Titel "Die Stallwache ruht und kassiert"
(Autor: Klaus Arnsperger), endgültige Stillegung oder Weiterbau des
bereits zu 72 Prozent fertiggestellten AKW bei Montalto di Castro sei
eine "Kernfrage italienischer Innenpolitik". In diesem Artikel heißt
es weiter, es seien "Italiens Parteien bis heute noch immer uneins
über die Zukunft der Nuklearindustrie".
Pro Atomenergie sind mehrheitlich und an der Parteispitze: Liberale
(PLI) und Republikaner (PRI), zwei Mini-Parteien, die aber für De
Mita (DC) unverzichtbar waren, um die Regierungs-Koalition bilden zu
können.
Angeblich gespalten ist die DC - deren Parteispitze jedoch eindeutig
pro Atomenergie ausgerichtet ist und desgleichen die KPI, die sich in
der Opposition befindet. In der politischen Praxis eindeutige
Atomkraft-Befürworter und gelegentliche Atomenergie-Skeptiker waren
"Sozialisten" (PSI) und "Sozialdemokraten" (PSDI) - beides relativ
kleine Parteien.
Als Atomenergiegegner gelten Verdi (Grüne). Die Partito Radicale ist
nicht im Parlament vertreten und engagiert sich in BIs gegen
Atomenergie.
In der DC-Führung wird die Position vertreten, daß nach dem
Referendum maximal drei AKWs politisch durchsetzbar seien - dies
hätte beispielsweise praktisch mit dem Abschalten des kleinsten, des
AKW Latina und der Fertigstellung des AKW Montalto di Castro
umgesetzt werden können. Die italienische Energiewirtschaft fordert
dagegen als Minimum die Durchsetzung von fünf AKWs.
Die "Sozialisten" um Bettini Craxi lavieren und sprechen sich für den
Weiterbetrieb des AKW Caorso und die Fertigstellung des AKW Montalto
di Castro aus. Noch im Sommer 1987 hatten sie sich unter dem noch
frischen Eindruck der Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl öffentlich
für den Atom-Ausstieg ausgesprochen und angeblich deshalb die
Koalition mit der DC platzen lassen. Doch bereits im März 1988
unterzeichnet die PCI-Führung als Teil der Regierungskoalition unter
Giovanni Goria (DC) einen Beschluß zur Wiederaufnahme der Bauarbeiten
am AKW Montalto di Castro. Die PCI gilt weiter als politisch
zuverlässig: Während die Führung am Pro-Atom-Kurs festhält, hat sich
lediglich die Parteibasis mehrheitlich für den Atom-Ausstieg
engagiert.
Die Democrazia Cristiana (DC) ist in Folge der Korruptionsskandale
noch nicht völlig zerfallen und deren aktueller Parteisekretär,
Ciriaco De Mita gilt im Frühjahr 88 als aussichtsreichster Anwärter
auf das Amt des italienischen Ministerpräsidenten (dh. Regierungs-
Chefs). Der noch pro forma amtierende Regierungs-Chef Goria (DC) -
die Koalition aus fünf Parteien war zerbrochen - , setzt am 10. März
88, zwei Tage vor seinem feststehenden Rücktritt, den Beschluß durch,
das Kraftwerk Montalto di Castro "als ein Nuklearkraftwerk zu bauen".
Alle anderen Alternativen, etwa der Betrieb mit Gas, Kohle oder Öl,
werden verworfen.
Angeblich zwingen Grüne, Sozialisten und Sozialdemokraten DC-
Parteichef de Mita, den unter Goria durchgesetzten Beschluß vom 10.
März rückgängig zu machen - und verhelfen ihm so zum
Ministerpräsidentenamt.
Ob die Ursache des Regierungs-Kurswechsels in Koalitionsgeschachere
zu suchen ist, erscheint fraglich. Naheliegender ist es, einen
Zusammenhang zu der Tatsache herzustellen, daß im März 10.000
Menschen bei Montalto di Castro auf der Straße 'Via Aurelia'
protestieren und zugleich die Schienen der nach Norden verlaufenden
Eisenbahnlinie blockieren. Die 'Via Aurelia' ist die
Hauptverbindungsachse im Straßenverkehr zwischen Nord- und
Süditalien.
Als die italienische Polizei die Via Aurelia zu räumen versucht,
werden Tränengasgranaten in die Menge geschossen. Laut 'Frankfurter
Rundschau' (2. April 1988) handelt es sich um eine Demonstration für
den Weiterbau des AKW Montalto di Castro.
Mit den Protesten sind Streiks der Baustellenarbeiter verbunden.
Diese können eine Sonderregelung durchsetzen: Die Regierung
beschließt, die streikenden Arbeiter voll weiterzubezahlen, bis eine
politische Einigung über Weiterbau oder Stilllegung getroffen sei.
Der Volksentscheid wird also nicht als Entscheidung akzeptiert. Es
wird auf Zeit gespielt.
Den Arbeitern werden entsprechend Regierungsbeschluß mehr als 1
Milliarde Lire ( entspr. 1,4 Millionen DM) pro Tag ausbezahlt - und
zwar nicht aus Mitteln der Arbeitslosenversicherung, sondern aus
Steuermitteln.
Am AKW Montalto di Castro wird bereits seit 1979 - also über 8 Jahre
hin - gebaut. Es sollte größer als das AKW Fessenheim werden: 2
Reaktorblöcke à 1000 MW.
Am 17. April erscheint die 'Zeit' (Nr. 17, 17. - 22. April 1988) mit
der Schlagzeile:
"Rom steigt aus"
Hier ist zu lesen, daß die heftigen Auseinandersetzungen an der Via
Aurelia zwischen "Polizei und Umweltschützern" ausgetragen worden
seien. Des weiteren ist zu lesen, daß Bettino Craxi (PSI-Chef) in
seiner kurzen Zeit als Ministerpräsident eine Entscheidung vermieden
habe. Zugleich wird in diesem Artikel die Interpretation vertreten,
das Referendum sei bewußt so angelegt worden, daß "keine eindeutige
Aussage für oder gegen Atomenergie" möglich gewesen sei.
Zur Rolle der PSI, die mit der deutschen SPD als Schwesterpartei
verbunden war:
Uli Maurer reiste als damaliger baden-württembergischer SPD-
Landesvorsitzender zu einem gemeinsamen Treffen mit der PSI ins
Forschungszentrum ISPRA am Lago Maggiore. Die PSI war hochkarätig
vertreten mit Walter Maroni, dem Vorsitzenden der Lombardischen PSI,
und Luigi Vertemati, dem lombardischen Umweltminister. Die baden-
württembergischen SPD-Mitglieder, bei denen es sich um ausgesprochene
Atomkraftgegner handelte, waren heftig überrascht, als sich
herausstellte, daß die PSI-Spitzenleute für neue "absolut sichere"
AKWs eintraten.
Im Dezember 1988 wird das AKW Latina endgültig geschlossen. Ebenfalls
Ende 1988 fällt die Entscheidung, das AKW Montalto di Castro als
kombiniertes Öl-Gas-Kraftwerk fertigzustellen. Das AKW Trino
Vercellese und das AKW Caorso waren bereits vor 1987 angeblich wegen
betriebsbedingter Störungen außer Betrieb. Letzteres war 1986 nach
der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl abgeschaltet worden.
Am 8. Juli 1988 titelte die 'FAZ':
"Italien verzichtet auf Kernkraft"
In der Stuttgarter Zeitung heißt es am 13. Juli 1988 unter der
Überschrift "Rom will energisch Energie sparen", der italienische
Atom-Ausstieg koste bis zur Jahrtausendwende zwischen 17 und 21
Milliarden Mark. Dies bedeute, daß der Strompreis in Italien jedes
Jahr "um 10 Prozent" erhöht werden müsse.
Noch bis 1990 gab es ein heftiges Hin- und Her, das durch folgende
Taktik gekennzeichnet war: Dieselben Medien, die den italienischen
Volksentscheid 1987 herunterzuspielen versuchten, verkündeten 1988
vorzeitig den Atom-Ausstieg, um das Publikum in Sicherheit zu wiegen.
Der italienische Atom-Ausstieg sollte jedoch alsbald gekippt werden.
Neben der Besetzung der Via Aureli, den Großdemonstrationen am AKW
Montalto di Castro und dem Zusammenbruch der staatstragenden DC unter
den Korruptionsskandalen, spielte beim italienischen Atom-Ausstieg
sicherlich auch Fiat eine nicht unbedeutende Rolle. Fiat hatte sich
bereits 1984 aus dem Atomgeschäft ausgeklinkt und die eigenen
Produktions- und Entwicklungskapazitäten für den Reaktorbau an eine
Staatsholding verkauft. Hierdurch fiel ein bedeutender Machtfaktor
gegen einen Atom-Ausstieg vorzeitig aus.
Entschieden war der Kampf war erst 1990, als die italienische
Regierung beschloß, die letzten AKWs abzureißen. Die letzten beiden
waren das AKW Trino Vercellese und das AKW Caorso. Deren Entsorgung
kostete umgerechnet 1,4 Milliarden Mark.
Daß auch dies keine endgültige Entscheidung bedeutete und die
italienische Bevölkerung weiterhin wachsam bleiben mußte, bewies die
Regierung Berlusconi im Jahr 2003. In der abgelegenen Region
Basilicata sollte ein Endlager für radioaktiven Müll eingerichtet
werden.
NETZWERK REGENBOGEN
Die übrigen Folgen der Info-Serie:
1 Grundlagenwissen
2 Der deutsche "Atom-Ausstieg"
3 Die Subventionierung der Atomenergie
4 Der siamesische Zwilling: Atombombe
5 Umweltverbrechen Uran-Abbau
6 Uran-Ressourcen und die Zukunft der Atomenergie
7 Die Geschichte der Atom-Unfälle
8 Die stille Katastrophe
10 Schwedens "Atom-Ausstieg"
11 Atomenergie in Frankreich
12 Das ungelöste Problem der Endlagerung
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