[Debatte-Grundeinkommen] Wie hoch muss ein Grundeinkommen sein? Oder: Das Regelsatzdesaster
Bert Grashoff
unversoehnt at gmx.de
Mo Jan 30 07:56:42 CET 2017
Hallo Ronald,
du hältst dich hier ja vornehm zurück, hast aber vermutlich mitbekommen,
dass ich Ausarbeitungen von dir wiederholt gelobt und als Lektüre
empfohlen habe. Ich finde wirklich, du hast da Lob verdient.
Ohne mir jetzt alle in deinem Netzwerk-Artikel vom 27.01. verlinkten
Referenzen vergegenwärtigt zu haben, möchte ich zumindest grundsätzliche
skeptische Fragen dazu aufwerfen, die ich hier ebenfalls schon
wiederholt angeschnitten habe.
Du schreibst in Punkt 2: "Deutlich wird, dass – trotz unterschiedlicher
Begründungen dieser Höhen – die Angaben nicht sehr stark differieren.
Sie bewegen sich in einem Korridor zwischen 1.076 Euro und 1.145 Euro
netto monatlich". Damit suggerierst du, dass derzeit etwa 1.100 Euro als
bGE-Höhe bei uns im Hinterkopf sein sollten.
Ich finde die implizite These sehr fragwürdig, dass es im gesamten
Bundesgebiet ein einheitliches Durchschnitts-Preisniveau gibt. Ohne dass
ich das ausgewertet hätte, habe ich z. B. den Eindruck, dass die
Discounter-Preise hier auf dem Land in McPom spürbar niedriger sind als
in meiner Heimatstadt Bremen. Weil es ohnehin der höchste Einzelposten
ist und dazu sehr einfach zu recherchierende Daten im Netz verfügbar
sind, will ich mich exemplarisch aber lieber bloß auf die Kosten für
Unterkünfte konzentrieren. Dein Artikel verweist diesbezüglich auf die
Durchschnittsmiete gemäß
http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/103/1810337.pdf , für einen
Singlehaushalt auf 342 Euro. Suchmaschine gibt mir das hier als ersten
Treffer zu Durchschnittsmieten nach Kommunen:
http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/mietpreise-in-deutschland-wohnen-in-muenchen-ist-am-teuersten-a-951431.html
. Demnach lag die Durchschnittsmiete in München 2013 gut 65 % höher als
die Durchschnittsmiete im Bundesgebiet. Und ich vermute mal, dass
München nicht einmal die allerteuerste Wohngegend im Bundesgebiet ist.
Aus 342 Euro Single-Miete im Bundesschnitt werden also 564 Euro
Single-Miete im Münchner Schnitt, aus 1.076 Euro Existenz- und
Teilhabeminimum bei Hausstein im Bundesschnitt also 1.298 Euro im
Münchner Schnitt. Und das nur wegen des einen Postens "Unterkunft".
Allein daraus würde ich schließen, dass deine Suggestion, es gäbe bei
etwa 1.100 Euro so etwas wie eine 'magische Zahl', zu der
Armutsrisikogrenzen, Warenkorbmodelle, Pfändungsgrenze und
BAFÖG-Rückzahlungsgrenze streben, nicht haltbar ist.
M. E. folgt aus den vier Kriterien unseres Netzwerks klar, dass auch der
Posten "Unterkunft" keiner Bedarfsprüfung unterworfen werden darf, weil
wir eine Unterkunft ja alle selbstverständlich als soziokulturell
existenzsichernd ansehen. Was nutzt uns ein bGE, das zwar im
Bundesdurchschnitt existenzsichernd sein mag, für Leute in München aber
nicht? Zudem: Wegen der in Art. 11 GG und Art. 13
UN-Menschenrechtscharta gewährten Freizügigkeit folgt m. E. zwingend,
dass ein bGE sich nicht an irgendwelchen Bundesdurchschnittswerten
abarbeiten kann, sondern ausschließlich an den Durchschnittswerten der
Kommune, in der die soziokulturelle Existenzsicherung am teuersten ist
(wegen z. B. hoher Mieten, hoher Discounter-Preise, hoher Preise im
öffentlichen Nahverkehr etc. pp.). Die dem Gesetzgeber in Art. 72 GG
angetragene "Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im
Bundesgebiet" ist hierfür ein zusätzliches Argument: Orientiert sich ein
bGE am Durchschnitt der teuersten Kommune, fließt zusätzliche Kaufkraft
in billigere Kommunen, die ja in aller Regel billiger sind, weil sie
irgendwie unattraktiver sind. Zusätzliche Kaufkraft kann diese
Unattratkivität perspektivisch ausgleichen. Politökonomisch wäre ein
solches an der teuersten Kommune orientiertes bGE (gerade im
europäischen Maßstab) zudem ein effektiver surplus recycling mechanism,
wie ihn Yanis' aus keynsianischer Perspektive stark zu machen versucht
(vgl. nur z. B.
https://yanisvaroufakis.eu/2011/02/09/what-is-a-surplus-recycling-mechanism-an-idea-going-back-to-bretton-woods/
und den dortigen Link auf das dritte Kapitel seines Minotaurus-Buchs).
Ist es also nicht unbezweifelbar, dass wir uns zur Ermittlung einer
angemessenen bGE-Höhe darauf konzentrieren sollten: Wie hoch ist das
soziokulturelle Existenzminimum in der teuersten Kommune im Bundesgebiet
(bzw. innerhalb der EU)?
Liebe Grüße,
Bert
Am 29.01.2017 um 18:21 schrieb rblaschke at aol.com:
> https://www.grundeinkommen.de/27/01/2017/wie-hoch-muss-ein-grundeinkommen-sein-oder-das-regelsatzdesaster.html
>
>
> Wie hoch muss ein Grundeinkommen sein? Oder: Das Regelsatzdesaster
> <https://www.grundeinkommen.de/27/01/2017/wie-hoch-muss-ein-grundeinkommen-sein-oder-das-regelsatzdesaster.html>
>
> 27.01.17 | von Ronald Blaschke | 0 votes, average: 0,00 out of 50
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> *
> *Der Streit um die Höhe des Regelsatzes bei den Grundsicherungen
> verdeckt, dass deren Berechnungsmethode grundsätzlich fragwürdig ist.*
> *
> *
> *Alternative Möglichkeiten, das Existenz- und Teilhabeminimum in
> Deutschland zu bestimmen, werden aufgezählt und Höhen benannt:
> Armutsrisikogrenze, Warenkorb, Pfändungsfreigrenze und
> BAföG-Rückzahlungsbefreiung. *
> *
> *
> *Sie bewegen sich um die 1.110 Euro. Mehr ...
> <https://www.grundeinkommen.de/27/01/2017/wie-hoch-muss-ein-grundeinkommen-sein-oder-das-regelsatzdesaster.html>*
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