[Debatte-Grundeinkommen] Debatte: eine Illusion?

Debattenliste des Netzwerks Grundeinkommen debatte-grundeinkommen at listen.grundeinkommen.de
Di Jan 6 15:21:04 CET 2015


Hallo Bernd,

da ich es sehr begrüßen würde, wenn du hier weiter aktiv wärst, möchte 
ich mich zu deiner Enttäuschung äußern. Zudem fühle ich mich von dir 
missverstanden.

Als ich hier vergangenen August reingesprungen bin, hatte ich ziemlich 
schnell ziemlich ähnliche Gefühle von Enttäuschung. Mag auch vielleicht 
ein richtiges Feeling sein. Da ich niemandem im Verteiler persönlich 
kenne, mich nicht in den Gremien des Netzwerks herumtreibe und auch 
nicht so richtig absehen kann, dass es hier einen echten Fortschritt in 
der Debatte im Sinne pragmatischen Outputs gibt, bleibt das für mich 
vage. Allerdings sind die meisten EmpfängerInnen des Verteilers auch 
passiv. Wer weiß, was da ungesehen auf fruchtbaren Boden fällt? Und 
selbstkritisch kann ich bemerken, dass der Mangel an Stringenz in der 
Debatte selbstverständlich auch an mir liegt, da ich meine eigenen 
Steckenpferde und Mindestforderungen habe und mich deshalb 
beispielsweise nicht auf eine sich wirklich eingehend in 
steuerarithmetische Fragen versenkende Debatte mit Verena eingelassen 
habe. Hinsichtlich des Staatsbürgersteuermodells ist das für mich aber 
gerade anders gelagert. Da sehe ich größere Potentiale.
Meine Enttäuschung ging übrigens inhaltlich in eine andere Richtung als 
deine. Ich hatte aufgrund der vom Netzwerk verlinkten m. E. ziemlich 
guten Texte von Ronald Blaschke und den Essentials des Netzwerks 
eigentlich erwartet, dass bestimmte linke Grundpositionen hier Usus 
wären. Sind sie m. E. aber nicht. Ich glaube, dass du grundlegend falsch 
liegst, wenn du denkst, dass meine Statements hier für den Verteiler in 
seiner Gesamtheit in irgendeiner Weise repräsentativer wären als deine.

Dennoch: Erstens ist das hier keine Live-Debatte, sondern eine 
Mail-Debatte. Geduld ist deshab notwendig. Die Taktung ist einfach eine 
ganz andere als im Live-Kontakt. Insbesondere weil alle im Verteiler 
stets auch ganz andere Dinge am Hut haben. Zweitens war gerade 
zwischen-den-Jahren. Weiß nicht, wie du das hältst, für mich ist das so 
ein wenig Winterschlafphase. Ich hatte mir eigentlich eine knappe Woche 
vor Weihnachten vorgenommen, mich mindestens bis zum Ende dieser Woche 
komplett rauszuziehen, hatte dann aber doch auf dich reagiert, weil 
ich's wichtig fand und habe unterdessen in Reaktion vor allem auf dich 
einen ziemlich ausführlichen Text verfasst, der aber noch nicht ganz 
rund ist, wohl erst in ein paar Tagen von mir versandt wird. Der wird 
dir vielleicht auch nicht gefallen, weil er aufs 
Staatsbürgersteuermodell nur in einer Hinsicht näher eingeht (nicht mal 
das, sondern nur auf deine Diagramme in 2.8.) und sich eher mit deinen 
Bemerkungen hier im Verteiler auseinandersetzt. Aber zumindest dürfte er 
dir spiegeln, dass ich dich als Diskussionsteilnehmer ernst nehme. Trotz 
meines Vorsatzes, mich einen knappen Monat vom bGE zu verabschieden, 
hast vor allem du mich dazu gebracht, da doch weiter dran zu bleiben. 
Ich hoffe, dass das irgendwie deine Enttäuschung zumindest etwas mildern 
können wird.

Inhaltlich: Seit ich hier aktiv bin, bin ich hier glaube ich der 
einzige, der Marx stark macht. Du missverstehst mich, wenn du meinst, 
ich sei an ML und der LINKEN orientiert. Ich habe mich vor allem mit 
antiautoritären Positionen befasst. Da ist Marx nur eine Größe unter 
vielen, aber eine wichtige. Mit ML und dem Realsozialismus habe ich 
tatsächlich gar nichts am Hut, ich bin Westkind und war 13 zur Wende. 
Ich habe auch überhaupt kein Interesse daran, den Realsozialismus in 
irgendeiner Weise abzufeiern. Mich nervt nur, wenn umgekehrt der 
kapitalistische Westen als irgendwie besser abgefeiert wird. Ich sehe 
einfach nicht, dass dem so wäre. Entsprechend versuche ich zu 
argumentieren. Darüber können wir uns lange austauschen, wozu du aber 
wohl gar keinen Bock hast. Meine Frau war übrigens bis zu ihrem 17. 
Lebensjahr und der Wende Ostdeutsche und hat aus nicht annähernd im 
engeren Sinne politischen Gründen Opfererfahrungen mit der Stasi 
gesammelt, die skandalös zu nennen eine drastische Untertreibung wäre. 
Ich schimpfe hier durchaus auch über Partei-Bonzen etc. Mir geht es 
nicht um ein Zurück zum Realsozialismus, sondern um ein Voran zu etwas, 
das jenseits der Systemauseinandersetzung liegt. Insofern ist es mir 
auch wichtig, diesen ganzen Brei von kapitalistischer 
Leistungsträger-Ideologie anzugreifen. Das resultiert bei mir nicht aus 
ML-Überzeugungen, sondern aus Kapitalismuskritik, die für mich eher an 
Marx, im Zweifelsfall auch eher am frühen als am späten Marx, und an der 
alten Frankfurter Schule hängen. Mit Lenin habe ich mich nahezu gar 
nicht befasst. bGE scheint mir hinsichtlich eines echt neuen Wegs 
Potential zu haben, weshalb ich hier aktiv bin. Ansonsten wäre bGE 
zumindest auch innerkapitalistisch ein kleiner Fortschritt, der mich 
aber weit weniger interessiert als eine echte Transformationsperspektive.
Ich war auch nie Teil der LINKEN. Ehemalige Bekannte von mir haben 
gelegentlich mal Veranstaltungen über die Rosa-Luxemburg-Initiative 
querfinanziert, die ich auch besuchte. Das ist schon die größte 
Verstrickung, die ich zu dieser Partei habe. Ich glaube nicht einmal, 
dass ich irgendwen persönlich kenne, der da organisiert ist oder war. 
Ich bin überhaupt nicht parteipolitisch organisiert, weil ich meine 
Erfahrungen mit Parlamentarismus gesammelt habe und von der gesamten 
Organisationsstruktur nichts halte. Da finde ich, dass die PIRATEN noch 
am ehesten Potential haben. Wenn ich mich hier zur LINKEN äußere, dann 
aus zwei Motiven: Erstens scheint mir das bGE-Konzept des BAG bei/in der 
LINKEN bislang das pragmatisch am schnellsten umzusetzende, politisch 
akzeptabelste und durchdachteste. Ich bin zwar für eine 
Konsumsteuerstruktur, was ich hier auch immer wieder sage, und ich sehe 
im Staatsbürgersteuermodell für mich gerade auch echt Potentiale, das 
für mich klarer zu kriegen. Aber dennoch sehe ich bislang kein gutes 
bGE-Konsumsteuermodell. Mag sein, dass sich das ändert, wenn ich das 
Staatsbürgersteuermodell durch habe, aber ich vermute, dass ich auch 
damit so meine Probleme behalten werde. Solange da für mich kein 
schlüssiges Modell vorliegt, das auch politisch von irgendeinem 
Parteizusammenhang breit getragen wird (weil: wie soll's sonst Realität 
werden?), macht es m. E. Sinn, im bGE-Kontext für die LINKE zu votieren. 
Zweitens bin ich andauernd von der überheblichen Abgrenzungsmasche der 
westlichen Mainstreamparteien und der veröffentlichten Meinung gegenüber 
der LINKEN angepisst. Das ist ein so heuchlerisches Spiel, dass man m. 
E. auch immer mal wieder darauf hinweisen kann, dass da außer Heuchelei 
echt nichts dran ist. Das ist für mich wiederum gar kein Votum für die 
LINKE, die im Zweifelsfall diese heuchlerischen Spiele ja auch mitspielt 
oder eigene, sondern ein Votum gegen die restlichen Parteien. Der ganze 
Mechanismus von repräsentativer Demokratie ist in meinen Augen verrottet 
und mit dem Internet technologisch, wenn auch leider nicht politisch 
überholt.

Zur Leistungsträger-Frage haben wir sehr unterschiedliche Auffassungen. 
Du scheinst dir Leistung als etwas zu denken, das unabhängig von der 
kapitalistischen Formierung durch diese hindurch gratifiziert wird. Ich 
denke mir Leistung als etwas, das quer zu dieser Formierung steht und 
innerhalb dieser Formierung im Zweifelsfall eher von Übel als von 
gesamtgesellschaftlichem Nutzen ist. Was es mit sozialpsychologischer 
Verelendung auf sich hat, ist für mich ein gigantisches Feld, für dich 
offenbar eher Blabla. Da ich mich als Kosmopoliten begreife, denke ich 
Verelendung ohnehin eher im Weltmaßstab. Und da schneidet der 
Kapitalismus keineswegs so gut ab, wie man sich in Europa vorstellen 
mag. Sind alles große Themen, über die wir uns echt lange streiten 
können - und die tatsächlich im engeren Sinn nicht so viel mit dem bGE 
zu tun haben. Weil du das ja gar nicht möchtest, sondern inhaltlich die 
Staatsbürgersteuer voran bringen, sage ich dazu mal zwei Dinge: Erstens 
halten mich diesbezügliche Statements von dir davon ab, mich näher 
inhaltlich mit der Staatsbürgersteuer auseinander zu setzen. Einfach 
deshalb, weil ich diese Debatten interessanter finde als 
steuerarithmetische Betrachtungen. Zweitens sind wir nicht nur politisch 
weit auseinander, sondern auch altersmäßig. Ich glaube, dass wir gar 
nicht hinreichend klären können, inwieweit die Welt deiner Lebensspanne 
eine ganz andere ist als die Welt meiner Lebensspanne. Beides hält mich 
zumindest nicht davon ab, deinen Einstieg in die Debatte hier zu 
begrüßen. Staatsbürgersteuer scheint ziemlich gut durchdacht zu sein, 
gibt mir auf jeden Fall wichtige Impulse und ich mag mit Leuten 
diskutieren, die clever sind. Also sei mir bitte nicht böse, wenn ich 
andere Auffassungen habe als du. Und versuch mich bitte nicht in 
Schubladen zu stecken, die vielleicht vor 30 Jahren noch einen gewissen 
Sinn gemacht haben, heute aber sicherlich nicht mehr.

Mehr und Näheres dann demnächst.

Liebe Grüße,

Bert



Am 05.01.2015 um 14:12 schrieb Debattenliste des Netzwerks Grundeinkommen:
> Entäuschung ist positv, denn sie zeigt, dass man sich mich getäuscht 
> hat. Mit meiner Annahme, in 
> debatte-grundeinkommen at listen.grundeinkommen.de würde debattiert, habe 
> ich mich getäuscht. Alle Debatierer sind für ein - möglichst hohes - 
> BGE, am besten nach dem Motto: die Gesellschaft soll mir ein BGE 
> gewähren, damit ich nach eigenem Gurdünken etwas leisten kann, das ich 
> selbst oder vielleicht mein Freundeskreis als Leistung definiert.
> Die Gesellschaft sind wir alle. Also bedeutet diese Haltung: Die 
> anderen sollen schaffen und Geld verdienen, damit ich tun kann, was 
> ich will, z.B. was mir und/oder meien Freunden oder anderen Spass 
> macht/hift ... Die Anderen, das sind die Finanziers des BGE.
> Wie das BGE finanziert werden soll, darüber könnte man debatieren. 
> Aber da ist Sendepause. Wenn ich die Lenkungsabgabe in Frage stelle, 
> weil sie nichts anderes ist als eine Steuer, antwortet man: ok stimmt 
> aber sie heißt Lenkungsabgabe weil sie lenkt.
> In http://www.staatsbuergersteuer.de/Diskussion.htm versuche ich zu 
> zeigen, dass die Staatsbürgersteuer die einzig sinnvolle Finanzierung 
> eines BGE ist, bekomme dazu aber keine Debatte. Alles was bisher dazu 
> kam, war dass die als Demonstrationsbeispiel gedachten Eurobeträge des 
> Bürgergelds zu niedrig sind. Wenn ich dann argumentiere, dass diese 
> erst bei Einführung der Staatsbürgersteuer festgelegt werden, und 
> darauf hinweise, dass hierzu der Konsens auch mit den Finanziers nötig 
> ist, weil diese sonst ihre Leistung verweigern, ins Ausland abwandern 
> etc. bekomme ich als Antwort: Sollen sie doch, solange sie ihre 
> Produktionsmittel da lassen.
> Die Finanziers sind nicht deshalb leistungsfähig, weil sie 
> Produktionsmittel besitzen sondern weil sie in der Lage sind, innovatv 
> zu denken, Neues zu riskieren, intensiver zu arbeiten. Wenn sie für 
> diese Leistungen keine angemessene Belohnung erhalten, wandern sie ab 
> oder - wenn das nicht geht - resignieren und nutzen ihr kreatives 
> Potential für andere private Zwecke; z.B. ihren Garten, ihnre Datscha 
> usw. Dies ist in der DDR passiert: Die Abwanderung der 
> leistungsfähigen Intelligenz wurde durch eine Mauer weitgehend 
> verhindert. die Klasse der Arbeiter und Bauern hat zwar gesiegt. die 
> Sieger hatten aber davon nichts, sie konnten sich nicht wie im Westen 
> alles kaufen oder verreisen wohin sie wollten, der Staat war pleite 
> und hat sich nur mit Krediten und Verkäufen von konfiszierter Kunst 
> und von politischen Gefangenen an die BRD. gerade so über die Runden 
> gerettet.
> Wenn ich darauf hiweise, dass die von Marx vorausgesagte Verelendung 
> der Massen nicht eingetreten ist, schreibt Bert zurück "...Die 
> Verelendung ist weniger eine materielle als eine 
> sozialpsychologische..." Nicht nur dass die Sieger des Klassenkampfs 
> keine materiellen Vorteile hatten,  sie lebten auch in ständiger 
> Angst, sich zu irgendetwas zu äußern. da ja fast jedes Thema politisch 
> aufgeladen, also gefährlich war. Ich kann aus meinen Kontakten nicht 
> bestätigen, dass es diesen Siegern sozialpsyschologisch besser ging: 
> Im Gegenteil. es gab keine Meinungsfreiheit. Die SED bevormundete ihre 
> Büger nach Gutdünken und eigenen Maßstäben Nicht die Begabten wurden 
> gefördert sondern die Linientreuen, selbst im Sport wurden Siege nicht 
> mit ehrlichen Mitteln sondern nur mit massivem Doping gefördert, usw.
> Mein Eindruck ist, dass das BGE hier ähnlich wie die "überlegenheit 
> das Marxismus-Leneninismus" zu einer Floskel degeneriert, die man 
> immer und überall nachbetet, ohne dass man sich ernsthaft damit 
> auseienander setzt. Unter dem Deckmantel der Debatte des BGE läuft in 
> Wirklichkeit etwas anderes: Meinungsbildung eines Marxistisch 
> geprägten Flügels der LINKEN zu allen möglichen Weltthemen, um 
> unterschiedlich Sichten einzuebnen um dann als möglichst homogener 
> monolithischen Block/Unterfraktion die Position der LINKEN zu 
> beeinflussen.
> mfg Bernd

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