[Debatte-Grundeinkommen] Jochen Tittel: weitere Bemerkungen zu Staatsbürgersteuer, Grundeinkommen und andere menschliche Angelegenheiten

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So Feb 8 11:49:09 CET 2015


Lieber Bernd,

Du hast natürlich Recht, daß das Argument "keine Zeit" immer auf eine 
Entscheidung gründet, womit man seine Zeit ausfüllen will, aber Du wirst 
mir sicher nicht bestreiten, daß es Anforderungen gibt, die man nicht 
beiseiteschieben kann, ohne daß damit die eigene Existenz zumindest in 
der gegenwärtigen Form bedroht würde. Ich setze also Prioritäten, und 
die Diskussion über die Staatsbürgersteuer steht für mich nicht an 
erster Stelle (aber immerhin weit oben auf meiner Liste). Was dieses 
Argument im Beispiel mit den Studenten betrifft, halte ich es auch für 
falsch und kurzsichtig, wenn Du etwa mit Deiner Entgegnung sagen willst, 
es läge nur an der Faulheit der Studenten. Für mich stellt sich hier die 
Frage, wieso sind denn die Studenten so geworden (es ist ja keine 
Einzelerscheinung). Und das läuft für mich wieder darauf hinaus, daß sie 
eben das Produkt unseres Bildungswesens sind.

Zu Staatsbürgersteuer 4.6 Wettbewerb und Wirtschaftswachstum

Hinweis auf einen Schusselfehler: Du schreibst, das Proterozoikum 
begänne vor 600 Milliarden Jahren. Der uns zugängliche Kosmos wird nach 
der gängigen Urknalltheorie auf ca. 15 bis 17 Milliarden Jahre 
geschätzt, die Erde auf 4,5 Milliarden. Beim Proterozoikum handelt es 
sich also um Millionen.

Darüberhinaus halte ich Analogieschlüsse zwischen natürlicher Evolution 
und Wirtschaftswachstum für sehr zwiespältig. Schon mit Darwin und dem 
Darwinismus verhält es sich ähnlich wie mit Marx und dem Marxismus; der 
Streit um die "richtige" Interpretation zieht sich endlos hin. Allgemein 
sind Vergleiche zwischen natürlichen und gesellschaftlichen 
Entwicklungen nicht geeignet, irgendetwas zu beweisen, bestenfalls sind 
das mehr oder weniger schöne Illustrationen, da man je nach Standpunkt 
für jede Ansicht ein geeignetes Beispiel in der Natur finden kann. Die 
Natur ist eine Offenheit, in die wir hineininterpretieren, was wir 
gerade für richtig halten.

Du sagst, Du meinst nicht nur quantitatives Wachstum und ich glaube dir 
auch, daß Du das so meinst, aber das Maß für das Wirtschaftswachstum ist 
nach wie vor das BIP, und das ist eine abstrakte Größe, die keinerlei 
andere Qualitäten kennt, als ihre eigene Quantität.

Meinen Bezug auf Adam Smith hast Du offensichtlich völlig mißverstanden; 
ich habe nicht versucht, ihm die Probleme unserer Zeit anzulasten; ich 
habe lediglich festgestellt, daß er als einer der ersten einen Gedanken 
formuliert hat, der bis heute das Denken der bürgerlichen 
Wirtschaftswissenschaft bestimmt, obwohl er immer schon falsch ist. Und 
die gewalttätige Vergangenheit unserer Zivilisation (wie auch die 
Gegenwart), hat nach meiner Ansicht durchaus mit diesem Menschenbild zu 
tun. Daß DDR und Sowjetunion räuberisch mit der Natur und den Menschen 
umgegangen sind, ist keine Frage, aber wenn wir die globalen Schäden 
menschlichen Wirtschaftens aufrechnen wollten, kommen die 
kapitalistischen Wirtschaften sicher nicht besser weg. Daß zwischen 
sogenanntem Sozialismus und Kapitalismus hier kein grundsätzlicher 
Unterschied besteht, liegt für mich daran, daß sie beide 
Herrschaftsgebilde sind. Darin liegt letztlich auch der Grund für die 
zwanghafte Wachstumspropaganda: Herrschaftsstrukturen können nur wachsen 
oder untergehn.

Für Deinen Literaturtip (Weltmacht USA: Ein Nachruf) danke ich Dir. Daß 
die USA da ihren Höhepunkt überschritten haben, ist auch meine 
Überzeugung; ich bin mir nicht sicher, ob ich früher schon von diesem 
Buch gehört habe. Soweit ich aus dem Wikipedia-Text entnehmen kann, 
hätte ich dazu aber einige kritische Anmerkungen. Einmal hat der Autor 
wohl die Rolle Chinas ganz übersehen, zum Anderen denke ich aber, daß 
ein anderer Aspekt noch wichtiger ist. Mit der Globalisierung, die im 
Grunde so alt ist, wie der Kapitalismus, verliert die nationalstaatlich 
organisierte Politik immer mehr an Bedeutung und die USA sind nur ein 
Instrument des globalisierten Finanzkapitalismus das notfalls auch 
geopfert wird, so wie jedes andere nationalstaatliche Gebilde.

Was die geschichtlichen Wurzeln unserer Zivilisation angeht, habe ich 
meine Sicht vor kurzem hier auf der Debattenliste veröffentlicht mit der 
"Geschichte eines Irrtums", womit ich die Errichtung patriarchalischer 
Herrschaftsverhältnisse meine. All das, was Du hier schreibst 
(Normannen, Drake ...) ist ein kleiner Teil davon. Daß das alles nichts 
mit Adam Smith zu tun hätte, halte ich für falsch, weil eben das 
zugrunde liegende Menschenbild ein Ergebnis dieser Räuber-Mentalität ist.

"Marktwirtschaft braucht Frieden." Das ist die eine Seite der Wahrheit; 
Marktwirtschaft nutzt auch den Krieg, wenn er ein profitables Geschäft 
verspricht. Damit das verhindert wird, braucht sie einen genau 
definierten politischen Rahmen, der verhindert, daß die negativen 
Auswüchse, die potentiell in der Marktwirtschaft enthalten sind, 
Realität werden. Ich wundere mich ein bisschen, daß Du doch die meisten 
negativen Auswirkungen der "Marktwirtschaft" siehst, aber dennoch 
glaubst, das wären nicht zwangsläufige Folgen einer "freien" (d.h. 
unregulierten) Marktwirtschaft.

Ich betone noch einmal, was ich schon vorher gesagt habe: Ich sehe in 
der Staatsbürgersteuer durchaus eine Verbesserung gegenüber dem jetzigen 
Zustand; ich sehe auch, daß sie die Vermögenskonzentration bremst. Aber 
ich möchte mich nicht darauf allein verlassen, deshalb halte ich eine 
Geldreform außerdem für unumgänglich.

Du berufst dich öfter auf die Anpassungsfähigkeit der Marktwirtschaft an 
Veränderungen. Ich halte eine blinde Anpassung an irgendwelche 
Veränderungen nicht für erstrebenswert und denke, wir sollten erstmal 
schauen, was das für Veränderungen sind, worauf sie zurückzuführen sind 
und worauf sie hinauslaufen. Die meisten Veränderungen, an die sich die 
Marktwirtschaft anpasst, sind selbsterzeugt, laufen auf 
Profitmaximierungen hinaus und die sind nicht immer (ganz vorsichtig 
formuliert) im Interesse der Verbesserung der Lebensqualität. Damit 
bestreite ich natürlich nicht Deine Aussagen über die Unbeweglichkeit 
bürokratischer Herrschaftsapparate und deren Beharren auf 
Eigeninteressen. Das finde ich wie Du schädlich für die Gesamtheit. Ich 
sehe als einziges Mittel gegen solche bürokratischen Verkrustungen die 
Schaffung von mehr aktiven basisdemokratischen Strukturen; die sind 
nicht unbedingt schneller (müssen sie auch nicht sein) aber sie 
garantieren, daß Entscheidungen, wenn sie einmal gefällt sind (am 
liebsten im Konsens, aber wenigstens mit qualifizierten Mehrheiten), 
dann auch mit großer Kraft umgesetzt werden können.

Noch einige Bemerkungen zu den Diskussionen um die Höhe eines 
bedingungslosen Grundeinkommens. Ich komme persönlich mit weit weniger 
aus, als allgemein als Mindestbetrag für ein wirkliches BGE betrachtet 
wird, aber meine persönliche Situation ist nicht verallgemeinerungsfähig 
und genau genommen auch nicht individuell nachhaltig. Das heißt, ich 
lebe von der Substanz und hinterlasse vielleicht nur einen 
Trümmerhaufen. Das kommt daher, daß es mir immer wichtiger war, das zu 
tun, was ich für richtig und wichtig halte und nicht das, wofür ich 
bezahlt werden könnte. Für die Abschätzung der richtigen Höhe eines 
bedingungslosen Grundeinkommens ist aber entscheidend, mit welchen 
Mitteln ein durchschnittlich lebender Mensch angemessen an der 
Gesellschaft teilhaben kann; natürlich ist auch die wirtschaftliche 
"Leistungsfähigkeit" dieser Gesellschaft dabei von Bedeutung. Um einen 
Betrag in Euro für das Grundeinkommen zu erhalten, gehe ich 
beispielsweise vom BIP der BRD von 2014 aus. Das wird mit 2903,2 
Milliarden € angegeben. dabei ist noch zu berücksichtigen, daß viele der 
multinationalen oder globalen Konzerne durch vielfältige Tricks ihre in 
Deutschland erwirtschafteten Gewinne nicht in Deutschland versteuern. 
Würde man derartige Steuervermeidungen bzw. Gewinnverlagerungen 
verhindern, wüchse das BIP noch um nicht wenige Milliarden. Ich nehme 
aber jetzt trotzdem die angegebenen Zahlen als Grundlage meiner 
Abschätzung. Bei 82 Millionen Deutschen ergibt sich ein 
Pro-Kopf-Einkommen von rund 35405€ im Jahr, also 2950€ im Monat. 
Angenommen, wir würden uns entschließen, davon 950€ an die Menschen als 
Grundeinkommen auszuzahlen, weitere 1000€ dem Staat für alle seine 
Aufgaben zur Verfügung stellen, dann blieben immer noch 1000€, die an 
die "Leistungsträger" "leistungsgerecht" verteilt werden könnten. Ich 
sehe da überhaupt keine ökonomischen Probleme; es brauchte lediglich den 
politischen Willen. Die Behauptung, daß das einigen Leuten nicht genug 
sein könnte und sie deshalb nicht mehr mitspielen werden, finde ich 
nicht bedrohlich. Ich glaube, daß es uns nicht schadet, wenn wir denen 
dann erlauben, auf die Kaiman-Inseln auszuwandern, oder wohin sie sonst 
wollen. Die Mitnahme ihres Vermögens, das sie ja nicht allein 
erwirtschaftet haben, sollte allerdings beschränkt werden. Ich bin mir 
ziemlich sicher, daß es uns ohne diese "Leistungsträger" besser gehen 
würde. Das ist natürlich noch keine Lösung für die Menschheit; ich habe 
ja schon anderweitig klar gemacht, daß Deutschland nicht als eine Insel 
der Glückseligen existieren kann, wenn im Rest der Welt weiterhin Not 
und Elend herrscht.

Man kann die selbe Überlegung auch für die Welt als Ganzes anstellen. 
Einzig die Frage, wohin dann die "Leistungsträger" auswandern wollen, 
wird dabei schwieriger.

Ich werde mich nach und nach durch die umfangreichen Texte zur 
Staatsbürgersteuer weiter durcharbeiten in der Hoffnung, daß ich mit den 
dabei gewonnenen Erkenntnissen irgendwas zu einer praktikablen Lösung 
unserer gegenwärtigen Probleme beitragen kann.

Herzlichen Gruß

Jochen

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