[Debatte-Grundeinkommen] zum Beitrag von Bert Grashoff
Jochen Tittel
jochentittel at web.de
Mo Sep 8 12:40:46 CEST 2014
Liebe MitstreiterInnen
Ich hatte meine Antwort auf die Diskussionen zu Berts Äußerungen am
27.8. schonmal abgeschickt, aber wohl die falsche Adresse erwischt;
deshalb hier nochmal der Text, ohne aufdringlich sein zu wollen.
Lieber Bert und liebe Mitdebattierer,
ich gehöre mal wieder zu den - hoffentlich zahlreichen - stillen
Mitlesern Eurer Auseinandersetzung und ich freue mich über den frischen
Wind, den Berts Beitrag hat aufkommen lassen. Von den vielen Aspekten,
die im Zusammenhang mit dem bedingungslosen Grundeinkommen innerhalb der
BGE-Bewegung noch weiterer Klärung bedürfen, hat Bert die meisten und
wichtigsten angesprochen, denke ich. Bevor ich auf einige dieser Aspekte
eingehe will ich aber zunächst (wieder) etwas zur Form der Debatte sagen.
Wie mir scheint, ist Willi ein Heißsporn; er hat bei jeder Debatte
Kritik und Urteile und absolute Wahrheiten bereit, mit denen er uns
traktiert. Jedesmal ist meine Befürchtung, daß jetzt ein verbales
Gemetzel losgehen könnte. Aber erfreulicherweise reagieren die
Angegriffenen sehr friedlich und freundlich und das führt in der Regel
dazu, daß auch Willi erkennt, daß dieser Austausch hier nur zu etwas
positivem führt, wenn wir uns gegenseitig zunächst mal anerkennen, so
wie wir hier auftreten und niemandem Böswilligkeit oder Dummheit
unterstellen.
Ich denke, ich verstehe, woher Willis heftige Reaktionen kommen. Aus den
Orten, die er als Absender angibt, schließe ich, daß er sich in
Südamerika herumtreibt und aus seinen Äußerungen, daß er nicht bei der
reichen Oberschicht zu Besuch ist. Was die einheimische Bevölkerung in
den letzten Jahrzehnten - nein: in den letzten Jahrhunderten - an
Demütigungen und Leid und Not ertragen mußte, das macht für mich
verständlich, wie es zu einer Radikalisierung kommen kann, in der dann
auch bewußt und unbewußt Gewalt als Mittel der Veränderung eine Rolle
spielt. Ich bin aber der Meinung - natürlich nicht ich alleine - , daß
Gewalt nur in einem einzigen Fall nützlich und zu rechtfertigen ist:
wenn es darum geht andere Gewalt durch Gegengewalt zu stoppen. Für alles
andere, was darüber hinaus geht, ist Gewalt ein untaugliches Mittel.
Ich lebe in Deutschland auf dem in mancher Hinsicht ziemlich idyllischen
Land und meine Kenntnis von den politischen Entwicklungen in Südamerika
ist sicher sehr lückenhaft, aber ich habe den Eindruck, daß zumindest
große Teile der "Befreiungsbewegungen" (ich habe das jetzt in
Anführungszeichen gesetzt, weil es eine sehr pauschale Bezeichnung ist),
die Untauglichkeit der Gewalt für eine andere Vergesellschaftung erkannt
haben.
Das also wollte ich voranschicken, um zu sagen: ich habe Verständnis für
Willis impulsive Äußerungen.
Da ich gerade bei Südamerika bin, will ich Bert auch gleich darauf
hinweisen, daß die BGE-Debatte in Deutschland und Europa durchaus nicht
blind für die Verhältnisse im großen Rest der Welt ist. Es gibt
Überlegungen darüber, daß die Einführung eines Grundeinkommens auf
keinen Fall auf das relativ wohlhabende Deutschland oder Europa
beschränkt werden kann, daß es eher sinnvoll wäre, damit in den ärmsten
Regionen der Welt zu beginnen. Als einen prominenten Vertreter dieser
Haltung nenne ich Werner Rätz; er ist aber nicht alleine. Welche
Auswirkungen ein BGE nur für Europa für die Migrationsbewegungen auf
unserem Globus nach sich ziehen würde, kann sich jeder ausmalen.
Zur Berechnung von BGE-Finanzierungsmodellen
Ich bin wie viele andere auch der Meinung, daß solche Modelle keine
Prognosen liefern können, wie die Wirtschaft mit einem BGE künftig
laufen wird, deshalb schenke ich diesen Modellen keine große
Aufmerksamkeit. Dennoch sind sie wohl unter den gegenwärtigen Umständen
unverzichtbar, denn solange wir in bürgerlich-kapitalistischen
Gesellschaften leben, ist ohne berechnete Modelle eine politische
Durchsetzung im parlamentarischen Verfahren aussichtslos. Ich bin nicht
der Meinung, daß der Grundgedanke des BGE an die Geldform gebunden ist,
im Gegenteil läßt er sich geldlos sehr einfach erklären. Aber solange
wir uns zentral über das Geld vergesellschafteten, müssen auch
BGE-Verfechter sich die Mühe machen, über Geld nachzudenken. Was ist
eigentlich Geld? Wie entsteht es? Was kann es und was nicht? Oder
besser: Was können wir über das Geld erreichen und was nicht? Diese
Fragen treiben mich schon länger um, als die BGE-Frage und sie scheinen
mir noch sehr unterbelichtet in den BGE-Kreisen. Da in dieser Debatte
hier schon der Name Brodbeck gefallen ist, möchte ich darauf hinweisen,
daß Karl-Heinz Brodbeck ein äußerst aufklärendes Buch mit dem Titel "Die
Herrschaft des Geldes ..." geschrieben hat, das für mein Verständnis an
Bedeutung dem Marxschen "Kapital" gleichkommt und mit dem er zentrale
Fragen, die bei Marx offen geblieben sind beantwortet.
Unter anderem kann man nach der Lektüre dieses Buches auch verstehen,
warum es mit der Abschaffung des Geldes bisher immer gründlich schief
gegangen ist. Geld ist eine unserer Vergesellschaftungsformen (neben der
Sprache u.a.) und die Abschaffung des Geldes würde die Abschaffung
unserer Vergesellschaftung bedeuten, wenn wir nicht andere Formen
finden, welche die Aufgaben übernehmen (und besser machen), die wir bis
jetzt über das Geld lösen.
Willi ist der Meinung, daß es ganz einfach ist, wenn wir alles lokal und
vielleicht noch regional Organisieren und ich bin auch ein Anhänger und
Mittäter in dieser Sache. Aber wie Bert bin ich auch überzeugt, daß der
Zustand der Menschheit gegenwärtig nicht einfach umgestellt werden kann.
Wenn wir nicht mit den gleichen totalitären Wahnvorstellungen wie die
großen Diktatoren des letzten Jahrhunderts über Leichen gehen wollen,
müssen wir uns überlegen, wie eine Umkehr menschlich machbar ist. Ob und
wie dann die Menschen in der Zukunft ihre Existenz lokal, regional oder
auch global (wahrscheinlich auf allen drei Ebenen) organisieren, darüber
müssen wir uns nicht den Kopf zerbrechen; das ist nicht unsere Aufgabe.
Unsere Aufgabe ist, einen verträglichen Übergang in eine gerechtere und
friedlichere Form der Vergesellschaftung zu ermöglichen.
Untrennbar mit dem Verständnis des Geldes ist der Wertbegriff. Was Bert
dazu schreibt kann ich unterstützen. Zu Willis Wertbegriff will ich nur
etwas relativierendes anmerken. Der Gedanke, daß meine Arbeitstätigkeit
an der Zeit gemessen und entsprechend vergolten wird, ist doch gebunden
an die Vorstellung, daß Arbeit nur als Mühe, als Quälerei betrachtet
wird, die ich nur mache, weil ich dazu irgendwie gezwungen bin. Unter
Herrschaftsverhältnissen ist das die Regel, deshalb scheint diese
Denkweise so selbstverständlich. Wenn ich eine Tätigkeit aber ausführe,
weil ich daran Freude habe und/oder einsehe, daß es irgendwie wichtig
und sinnvoll ist, denke ich gar nicht oder jedenfalls viel weniger
darüber nach, ob mir das jemand bezahlt oder sonstwie mich entschädigt;
weil es keinen Schaden gibt. Also ist "Wert" in diesem Falle
überflüssig, zumindest als berechenbare Größe. Wertschätzung meiner
(nützlichen) Tätigkeit durch andere Menschen wird zwar mit dem
abstrakten Wert in der Geldform in Zusammenhang gebracht, ist aber eine
ganz andere Sache.
Aus dieser Perspektive könnte Geld also in einer herrschaftsfreien
Gesellschaft schon verschwinden. Aber Geld hat eben noch andere
Funktionen in den Massengesellschaften, in denen wir leben: die
Vermittlung der Vielzahl verschiedener Bedürfnisse der Individuen mit
der Vielzahl der produktiven Fähigkeiten. In kleinen Gemeinschaften kann
diese Vermittlung durch direkte Kommunikation erfolgen. Aber wir leben
heute größtenteils nicht mehr in kleinen Gemeinschaften und es ist auch
nicht möglich, daran so schnell etwas zu ändern (sofern das auch gewollt
wäre), daß nicht zwischendurch die meisten verhungern oder sonstwie
zugrundegehen müssten. Das Mittel zur Abwendung einer Katastrophe bei
Abschaffung des Geldes ist noch nicht gefunden. Auch Berts geäußerter
Wunsch nach einer Planwirtschaft 2.0 ist da nicht ohne weiteres
erfüllbar, denn bisher basiert jeder Wirtschaftsplan genauso auf dem
zweifelhaften Wertbegriff wie eine Geldwirtschaft und droht daher mit
unberechenbaren Risiken und Nebenwirkungen für die es eben noch keinen
Arzt oder Apotheker gibt. Trotzdem bin ich aber auch der Meinung, daß
Wirtschaften irgendwie ein planvolles Handeln sein sollte und (mit Sicht
auf die "Realsozialismen") nicht identisch mit Kommandowirtschaft sein muß.
So, wie ich ein bedingungsloses Grundeinkommen für einen genial
einfachen Schritt in diese Richtung halte, sehe ich auch den Gesellschen
Geldreformgedanken als eine geniale Übergangslösung an, beides sind
Möglichkeiten, die uns Freiraum verschaffen können, um dann gründlich
über alles Weitere nachzudenken. Ich weiß, daß die Vorstellungen zu
einer Geldreform umstritten sind und beobachte seit Jahren, wie durch
gegenseitige Ignoranz und Unterstellungen Fronten aufgebaut bzw.
zementiert werden. Eine vorurteilsfreie Auseinandersetzung würde manche
geistige Verkrampfung lösen können und Wege eröffnen zu freundlicheren
Entwicklungen.
Was das BGE betrifft, entscheidet sich das "für" oder "gegen" letztlich
an dem Bild, das ein Mensch von sich und von den anderen Menschen hat.
Deshalb ist für mich eine der entscheidendsten Fragen, zu klären, woher
das (nach meiner Überzeugung) falsche Menschenbild der BGE-Gegner kommt.
Für mich ist nach langem und gründlichem (?) Nachforschen klar geworden,
daß dieses Menschenbild zusammen mit der Herrschaftsgesellschaft
entstanden ist. In meinen Augen ist das eine Fehlentwicklung (ein Bruch
in der vorherigen Entwicklung) der Menschheit, der vor ca. 7000 bis 8000
Jahren begonnen hat und seitdem ins Verderben führt. Inzwischen ist es
höchste Zeit diesen falschen Weg zu verlassen, also zu einer Umkehr.
Deshalb lese ich solche Äußerungen wie: "Wir wollen doch nicht zurück in
die Steinzeit" immer mit gemischten Gefühlen. Das Bild, welches wir uns
von vergangenen Gesellschaften machen, ist in der Regel verzerrt von
ideologischen Absichten. Genau wie der "real existiert habende
Sozialismus" versucht auch der "real existierende Kapitalismus" seine
Existenz durch eine entsprechende Umfärbung der Geschichte zu
rechtfertigen. Sowohl vergangene wie auch zukünftige gesellschaftliche
Zustände sind nur Konstruktionen in unserem Bewußtsein, im Grunde hat es
nie eine Vergangenheit gegeben und wird es nie eine Zukunft geben, da
alles was geschieht hier und jetzt geschieht, in der Gegenwart. Alle
Gedankenkonstruktionen über Zukünftiges und Vergangenes haben nur Sinn
als Hilfsmittel zur Gestaltung unserer Gegenwart. (Ich bin versucht,
noch anzufügen: in Ewigkeit amen.)
Vielleicht habe ich mich jetzt etwas vergaloppiert, aber ich lasse das
trotzdem stehen.
Zur Auseinandersetzung mit keynesianischen BGE-Gegnern (also Flassbeck usw.)
Keynesianische oder neokeynesianische Literatur zur jüngsten
Wirtschaftsgeschichte kann sehr Aufschlussreich sein, was die
Mechanismen der verrückt gewordenen Finanzmärkte betrifft. Allerdings
scheint ihre Perspektive für die Zukunft (!?) einzig darin zu bestehen
die Beute (den Profit) etwas "gerechter" zu verteilen (Vollbeschäftigung
bei hohen Löhnen) und ansonsten so weiter zu machen,wie bisher: ewiges
Wachstum. Die Plünderung des Planeten und (unausgesprochen) der "Dritten
Welt" bzw. der kapitalistischen Peripherie wird verdrängt.
Und mir scheint, daß sich bei den Keynesianern bestätigt, was ich gerade
über das Menschenbild gesagt habe: Keynesianer können sich
offensichtlich nicht vorstellen, daß Menschen menschlich vernünftig
Handeln, ohne unter Druck gesetzt zu werden. Sachzwänge sind da immer
schnell gefunden.
Ich habe mich bisschen von Berts flottem Stil anstecken lassen, wenn
diese Debatte ganz öffentlich wäre, würde ich das alles (in den letzten
Sätzen) moderater formulieren.
Keynes selbst hatte ja durchaus auch das Ende des Kapitalismus in seinem
Horizont; er erhoffte sich dieses Ende, wenn der Kapitalismus so viel
Reichtum geschaffen hat, daß "der Rentier in einem Meer von Kapital
ersäuft", also in etwa das, was Marx mit dem tendenziellen Fall der
Profitrate zu beschreiben versuchte. Mit der Einführung seines Begriffs
der Erwartungen hatte Keynes den Schlüssel zur Erkenntnis in der Hand,
daß menschliches Wirtschaften kein mechanischer Automatismus ist, der
quasi Naturgesetzlich abläuft. Er hat diesen Schritt nicht getan, genau
so wie Marx aufgrund seiner materialistischen Überzeugung nicht von
dieser Vorstellung eines gesetzmäßigen Verlaufs der Wirtschaft und der
ganzen Geschichte loskommen konnte (und wollte). Aber Wirtschaft wie
auch menschliche Geschichte sind von Menschen gemacht, also nicht
naturgesetzlich; die neueste Hinterhältigkeit menschlicher Kreativität
im Dienste der Herrschaftsverhältnisse ist die Erfindung des "green new
deal", womit die notwendige Reparatur der ökologischen Schäden
profitabel umgelenkt wurde. Auf diesem Wege eröffnet sich eine wahrhaft
unendliche Möglichkeit der Vollbeschäftigung. Kein Naturgesetz hilft uns
aus dieser Misere heraus; es hängt wirklich alles nur an unserer
Entscheidung, endlich damit aufzuhören.
Manfred Bartl macht einige Bemerkungen über den Zusammenhang von BGE und
Inflation. Im großen ganzen kann ich ihm beistimmen, allerdings nicht
bei der Behauptung, steigende Preise seien keine Inflation, solange die
Kaufkraft gleich schnell steigt. Das kann sie ja nur, indem die für
Konsumtion verausgabte Geldmenge im selben Tempo steigt. Würde das
wirklich gleichzeitig mit der Preissteigerung geschehen, würden zwar die
Folgen der Preissteigerung kompensiert, aber Inflation bleibt es
trotzdem. Und in der Regel hinkt die Lohnsteigerung hinter der
Preissteigerung hinterher und folglich entstehen auf der Lohnseite immer
Verluste.
Auch den Gedanken, das BGE einfach durch Gelddrucken zu finanzieren
halte ich für keine gute Idee. Was das für Entwicklungen auslöst sollte
vielleicht mal detaillierter ausgemalt werden, ich fürchte das ist dann
nicht mehr steuerbar.
Schließlich will ich noch ein paar Worte zu der Debatte über den Staat
sagen.
Genau wie die Rolle des Geldes ist die Rolle des Staates eine
zwiespältige. Einmal ist er Herrschaftsinstrument oder Machtinstrument
der herrschenden Klasse (so haben wir es in der DDR in der Schule
gelernt und das ist nicht falsch), andererseits erfüllt er aber eine
Vielzahl von Aufgaben, die wir nicht einfach liegenlassen können (obwohl
ich durchaus auch sehe, daß es zahlreiche Aufgaben bzw. Funktionen gibt,
die erst durch die Existenz eines Herrschaftsstaats erzeugt werden). Aus
unserer gegenwärtigen Wirklichkeit heraus können wir also "den Staat"
genauso wenig abschaffen, wie das Geld. Aber in der Gestaltung eines
anderen Staatsgebildes sind der menschlichen Kreativität keine grenzen
gesetzt; und natürlich können wir das auch anders nennen.
Herzlichen Gruß an alle Beteiligten.
Jochen Tittel
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