[Debatte-Grundeinkommen] Nachtrag zu Jens und zu meinen Eso-Exkursen

unversoehnt unversoehnt at gmx.de
Mi Okt 1 21:09:57 CEST 2014


Hallo,

nach meiner letzten Mail fühle ich mich in der Pflicht zu zwei Dingen: 
1. Doch nochmal deine bislang nur halb gelesene Mail zur Kenntnis zu 
nehmen, lieber Jens. 2. Ein paar Reflexionen zum Status meines 
Verhältnisses zu Durchlässigkeiten zu formulieren.

Zu 1:
Seltsam, das Schmerzhafte, das ich am 22.09. empfand, begegnete mir 
jetzt fast gar nicht mehr. Lag vielleicht doch eher bloß an meinem bad 
trip und den körperlichen Beschwerden. Ich habe ein paar Kommentare und 
Fragen:

"Ein ausgetrockneter Geldfluss, vor dem ein bedingungsloses Grundeinkommen
niemanden retten kann, wird vielleicht noch jedem 100. Erdenbürger eine
Überlebenschance auf dem niedrigsten nur denkbaren Niveau bieten.
Die Welt wird nicht untergehen. Aber die Zivilisation, so wie wir sie 
kennen."
Kannst du das näher begründen? Inwiefern wird der Geldfluss austrocknen? 
Inwiefern ist das bGE in dem Kontext völlig egal, obwohl es ja prima 
vista definitiv eine große Welle im Geldfluss darstellen würde?

"Vor Namen sollte niemand sonderlich viel Respekt haben."
Voll d'accord. Aber Marx ist nicht als Name spannend, sondern weil er 
eine sehr wirkmächtige und vieldiskutierte Kritik am Kapitalismus 
formuliert hat, die, selbst wenn sie inhaltlich hier und da und dort 
spekulativ bleibt, einige wirklich interessante Aspekte enthält. 
Insbesondere den Fetischbegriff der Ware finde ich ein Glanzstück der 
Marxschen Kritik der politischen Ökonomie, das mir in 
nicht-marxistischen Kontexten noch nirgends im Ernst begegnet ist. Oder 
höchstens mit Achselzucken.

"3000 Seiten brauchte Marx um eine in sich ungeschlossene Theorie vom
Kapital abzuliefern. Eine, die noch immer die Grundlage für die Definition
in Wikipedia liefert.
1200 Seiten zum Wesen von Geld kann ich auch keinem vermitteln.
Wenn ich meine, dass das Thema zwischen 350 Seiten passt, dann mag
die Puste nicht für mehr reichen. Doch für wie viele reicht sie überhaupt
bis dahin?"
Das Kapital hat eine wie lange Geschichte? Hat wieviele Menschen 
integriert und desintegriert? Schließt heute wieviele Menschen zusammen? 
Die Geschichte des Kapitals in eine Theorie zu packen, die ein paar 
tausend Seiten umfasst, ist eine krasse Verknappung dessen, worum es 
wirklich geht. Was auch das größte Problem an diesen ganzen 
Kapital-Theorien ist: Sie abstrahieren von so vielen Wirklichkeiten, 
dass unklar bleibt, inwiefern sie diese Wirklichkeiten dennoch treffen. 
Klar, ein Satz fürs Kapital wäre netter, à la: Ist 'nen 
gesellschaftliches Verhältnis, das die Reproduktion der Gattung in der 
Zerrissenheit des Privateigentums als Wertverwertung organisiert, 
ziemlich ätzende Kiste. Aber reicht dir das dann als 
Gegenstandsbestimmung wirklich aus?

"Sollten andere Faktoren vermehrt dafür sprechen, dass man sich gern
in dieser Gegend niederlässt, nur bisher die geeignete Technik für die 
Statik
in einer immer wieder mal von Stürmen oder Erdstößen heimgesuchten
aber dennoch sehr fruchtbaren und landschaftlich reizvollen Umgebung
gefehlt hat, dann könnte anfangs die Nachfrage nach dieser Entdeckung
ihre Realsierungsmöglichkeiten übertreffen.
Das bleibt dann solange, bis das Angebot die Nachfrage eingeholt hat.
Dann wäre diese Idee und die in der Folge dieser Idee entstandenen
Produktionsmittel kein Kapital mehr.
Das ist die Theorie bei der Verwendung von Freigeld und Freiland."
Das finde ich komplett unverständlich. Keine Ahnung wieso, aber ich raff 
einfach nicht im Ansatz, was du sagen willst.

"Privateigentum an Produktionsmitteln ist eben nur dann und nur solange
Kapital, solange die Nachfrage das Angebot übersteigt".

Wieso? Sehe ich nicht. Wieso sollen Produktionsmittel ihren 
Kapital-Status verlieren, nur weil sie mehr Output als Abnehmer haben? 
Wird der Output plötzlich nicht mehr verkauft? Lassen sich mit dem 
Output keinerlei Gewinne mehr machen? Falls ja, würde das doch zu 
Insolvenzen und damit Marktbereinigung führen und der Output wieder auf 
ein Level sinken, der Rendite ermöglicht.

"Geldbesitz ermächtigt - solange es so lausig gemanagt wird wie wir es
gewohnt sind - eine Sonderabgabe für seine Überlassung an andere
zu erzwingen. Das ist keine Frage der Moral.
Die Erarbeitung dieser Sonderabgabe für deren Begleichung tendiert zu
Impulsen, andere Beteiligte beim damit verbundenen  Wettlauf zu
behindern. Das liegt in der Natur dieses Verlaufes."

Unzweifelhaft wahr. Das ist aber mit Fabriken genauso. Oder mit 
Handelsketten. Die Marktteilnehmer hacken halt alle aufeinander rum. Und 
je nach Machtposition kann sich der eine Marktteilnehmer mehr, der 
andere weniger vom Gesamtkuchen der Ausbeutung sichern. Gesamtkuchen der 
Ausbeutung bestimmt als das Überflussprodukt der Gesamtgesellschaft, das 
durch das Gesamtsystem der produktiv Tätigen geschaffen wird. So what?

"Würden sich die Unternehmer wie in der Tauschwirtschaft ohne Zins
pressen könnendes Geld gegenüberstehen, würden die Einnahmen und
die Ausgaben in der Summe ausgeglichen sein.
Jeder kann nur einnehmen, was der andere auszugeben bereit ist."

Woher kommt dieser seltsame Aberglaube an ein absolutes Gleichgewicht? 
Grundsätzlich nochmal: An allen Kreislaufvorstellungen scheint mir immer 
wieder folgendes Problem zu hängen. Der langlebige stoffliche und 
nichtstoffliche Reichtum wird aus dem Kreislauf beständig als 
Privateigentum herausgeschwitzt, einerseits als Konsumreichtum, 
anderseits als Produktiveigentum. Deine Unternehmer bauen sich nicht 
ihre Villa, leisten sich keine Luxuskarossen und gönnen sich und ihren 
Geschäftsfreunden nicht dann und wann einen Abend im Edelbordell? Und 
ihren Arbeitern die Butter auf dem Brot nicht? Geben ihnen stattdessen 
gerne Anteile an ihrer Unternehmung ab?

"Arbeitsteilung bedingt den Tausch. Tausch bedingt eine Produktivität
welche Warenproduktion ermöglicht."
Weder das eine noch das andere ist notwendig. Arbeitsteilung kann auch 
ohne Tausch funktionieren, z. B. die Arbeitsteilung in kleinen Kommunen, 
die alles Produzierte in einen gemeinsamen Topf werfen (aus dem sich 
dann in der Regel leider der Oberguru zuerst bedienen darf ...) Tausch 
setzt zwar eine gewisse Überschussproduktion voraus, aber deshalb nicht 
notwendig Warenproduktion. Marx sagt, dass der Tausch in den Anfängen 
höchst willkürlich und eher als Völkerverständigung funktionierte. 
Sachen, die man so hatte und wertschätzte, gab man den Fremden. Erst die 
Aufdauerstellung dieser Verhältnisse führt tatsächlich zur gezielten 
Warenproduktion mit dem klaren Ziel, das Zeugs an andere zu verticken. 
Das scheint mir intuitiv plausibel, auch wenn ich's historisch nicht 
sicher weiß.

"ich behaupte dass ein Leben ohne Geld ziemlich abartig sein wird."
Hast du Gründe für diese Behauptung?


Vielleicht können wir unser Problem ja mal ein wenig grundlegender 
eingrenzen: Warum bist du der Meinung, dass ausschließlich Bodenbesitz 
und verzinsbares Geld zu Kapitalismus führt? Warum denkst du, dass 
Produktionsmittel einfach neutral wären, wenn die beiden anderen Dinge 
nicht mehr gegeben wären? Wie stellst du dir das vor? Nochmal ein 
bisschen grundsätzlicher: Wenn es kein Privateigentum an Boden geben 
soll - wie soll dann überhaupt Privateigenum noch funktionieren? Alles 
Privateigentum steht ja auf irgendwelchem Boden herum, zumindest das 
stoffliche. Wie sieht denn in deiner Vorstellung das Verhältnis von 
Boden und Fabriken beispielsweise aus?


Zu 2:
Insofern ich mit sehr persönlichen Erfahrungen rausrückte, sie 
gleichzeitig aber als spirituell gewichtig deutlich überindividuell 
überhöhte, fühle ich mich in der Pflicht, ein paar Dinge darüber zu 
sagen, wie ich mir das grundsätzlich vorstelle. Sozusagen ein bisschen 
hinein in den abstrakten Rahmen von Gretchenantworten.
Spätestens mit Beginn meiner Konfirmationszeit um 1990 herum habe ich 
mich als selbstbewusster Atheist aufgefasst. Konfirmieren lassen habe 
ich mich, weil ich bei meinem ältern Bruder mitbekommen hatte, dass die 
Verwandtschaft eine Menge Kohle bei diesem Initiationsritus springen 
lässt. Ich wollte programmieren lernen und daher einen PC. Das kam 
monetär ziemlich präzise hin und ich war in meiner Schulklasse der erste 
mit PC, während die anderen noch ein kleines Weilchen in der C64- und 
Amiga-Ära festhingen. Mit dem Programmieren ist's allerdings nicht so 
weit gekommen. Ist höchstens dann und wann ein kleines Hobby fern von 
aller echten Professionalität.
Die Jesus-Figur mochte ich immer, aber den Rest des Christentums fand 
ich von so viel Heuchelei umstellt, dass ich da nur einen sehr 
gespaltenen Zugang fand. Insbesondere diese ekligen C-Parteien der 
Kohl-Ära haben mir jeglichen Glauben an eine gute Christenheit im Ansatz 
versalzen. Hinzu kam, dass ich die Riten meiner evangelischen Kirche nur 
als unendlich schuldbeladen und langweilig empfand. Von froher Botschaft 
war da echt gar nichts zu spüren. Bis zum erwähnten Trip in Nerja zum 
Neujahr 2010 habe ich mich als Atheist bestimmt. Inhaltlich substanziell 
vor allem über die 4. Feuerbachthese von Marx und über bestimmte 
Bemerkungen in der Dialektik der Aufklärung zum Verhältnis von 
Mythologie und Aufklärung. Gekratzt hat in diesen zwei Jahrzehnten an 
meinem Atheisten-Status nur eine einzige Frage: Warum ist überhaupt 
irgendetwas und nicht vielmehr bloß nur Nichts? Mir war die Frage 
spannend, auch wenn mir klar war, dass sich da aus atheistischer 
Position schlichtweg keine Antwort zu geben lässt. Nur unendlicher 
Regress oder willkürliche Setzung wie die des Urknalls.
Mit Nerja 2010 änderte sich meine Einstellung grundlegend, weil ich 
emotionale Dimensionen erlebte, die ich nicht bloß auf meine 
Selbstbezüglichkeit beziehen konnte. Wenngleich deshalb meine 
atheistischen Persönlichkeitsanteile freilich nicht einfach abstarben. 
Ich interpretiere das für mich eher als produktiven Wachstumsprozess. 
Auch wenn ich seitdem einige spirituelle Grundintuitionen habe, vor 
allem einen klaren Zug zum AllEinen und eine sehr spirituelle Deutung 
von Heraklits "panta rhei", bleibt mir Sokrates' "Ich weiß, dass ich 
nichts weiß.", sowie meine allgemeinen Vorlieben für Fetisch- und 
Ideologiekritik zu substanziell, als dass ich mich da wirklich als 
positiver Ideologe betätigen möchte. Was andere Persönlichkeitsanteile 
in mir allerdings sehr wohl möchten. Dennoch verorte ich mich auf einer 
allgemeinen Ebene erstmal bloß als pantheistischer Agnostiker mit 
gelegentlichem Zug zum Panentheismus. Den Spinozismusstreit muss ich mir 
bei Gelegenheit mal wirklich detailliert vorlegen. Substanziell bleiben 
so oder so bestimmte konkrete Erfahrungen von Durchlässigkeit, die 
ziemlich vielschichtig sind und noch vielschichtiger zu interpretieren. 
An religionsgeschichtlichen Zusammenhängen hatte ich schon immer ein 
gewisses Interesse, seit Nerja denke ich darüber immer mal wieder recht 
intensiv nach. Grundsätzlich bin ich dabei für so ziemlich alles offen, 
finde aber etwa den mich hier und da und dort umzingelnden Manichäismus 
höchstens in einem sehr relativen Sinn für richtig. Und jede 
Religionsvorstellung, die sich an Jesus, Marx oder Adorno wirklich 
bricht, hat einen schweren Stand. Eine meiner Cousinen hat mich auf 
Julia Roberts Seth gestoßen, dessen spiritueller Vorstellungsrahmen mir 
tatsächlich ziemlich sympathisch ist. Insbesondere die Idee, dass die 
karmische Reinkarnationsverstrickung bloß eine aus freiem Willen zur 
Erfahrung ist, gefällt mir wirklich. Aber auch die abstrakte 
Tiefschichtigkeit des Konzepts multidimensionaler Persönlichkeiten. 
Grundlegend finde ich jeden ausformulierten Religions- oder Esokontext 
ungefähr so passend für meine spirituellen Empfindungen wie den Versuch, 
mit einem Hammer ein Atom zu spalten. Die Metaphoriken mögen dieses und 
jenes mal tatsächlich ganz gut treffen, aber der Gesamtzusammenhang 
erscheint mir so vielschichtig und filigran, dass an eine echte 
Erkenntnis dieser Dinge halt bloß als Geschenk zu denken ist, nicht als 
etwas, das aus der eigenen Kraft zum Denken oder zur Erfahrung 
resultieren könnte. Um's naturalistisch auszudrücken: Die 
Spintheoretiker sind in Größenmaßen von so etwa 10 hoch -90 oder -100, 
weiß gerade nicht genau, unterwegs. Die Ausdehnung des Alls wird erstmal 
vage auf glaube ich 10 hoch 80 verortet. Mikrokosmos scheint jetzt schon 
weiter erforscht als der Makrokosmos. Aber ob's da in die eine oder 
andere Richtung je ein echtes Ende geben wird? Selbst wenn, was sind 
dagegen menschliche Erzählungen?
Soviel zum Allgemeinen. Zum Konkreten von Visionen: Einer der 
abgründigsten Clous sehr vieler Erzählungen zum altgriechischen Orakel 
zu Delphi ist der, dass gerade der Versuch, jenem "Erkenne dich selbst" 
des Orakels zu entfliehen, genau dahin führt, dass sich der Orakelspruch 
erfüllt. Das dürfte wegen Freud am bekanntesten für Ödipus sein: Wäre er 
nicht als Kind wegen des furchtbaren Spruchs, er würde Mama später 
vögeln und Papa killen, von der Familie abgeschoben worden, dann hätte 
er vielleicht niemals getan, was der Spruch ihm aufbürdete. Das Orakel 
in der Matrix wiederholt diese Konstellation: Hätte Neo die Vase (oder 
was war das gleich?) auch dann kaputtgeschlagen, wenn das Orakel es ihm 
nicht prophezeit und deshalb zu der ungeschickten Bewegung animiert 
hätte? Und treibt es weiter: Morpheus steht auf dem Standpunkt, dass des 
Orakels Message an Neo nur für Neo bestimmt ist und für niemanden sonst. 
Die Prophezeiung, entweder Morpheus oder Neo werde sterben, erfüllt 
sich. Allerdings ersteht Neo im Gehaltensein von Trinitys Liebe wieder 
auf, halb so schlimm, im Gegenteil: Danach haben die Agenten nichts mehr 
zu lachen. Auch wenn ich's spannend fände, will ich mal nicht weiter in 
diese Richtung denken, etwa nach über das Verhältnis von Orakel und 
Architekt. Festhalten aber will ich, dass jeder Durchlässigkeit schon 
aus dieser Konstellation heraus eine massive Menge Unverlässlichkeit 
innewohnt: Vielleicht sind die Durchlässigkeiten kein Hinweis auf die 
Wirklichkeit der Dinge, sondern nur ein Stubser, der in die richtige 
Richtung leiten soll, die eine ganz andere ist als die offensichtliche 
der Message.
Mal davon abgesehen, dass meine rational-atheistischen 
Persönlichkeitsfragmente ganz grundsätzlich skeptisch bleiben und 
schlicht so etwas sagen könnten wie: Ach, Bert, dir ist halt so 
unendlich langweilig in der Immergleichheit des scheußlichen 
kapitalistisch-metropolitanen-deutschen Lebens, dass du mit den Sternen 
von allen Gedanken halt bloß noch die interessanten schätzt und sie dir 
in immer tiefere und tiefere Abgründe hineintauchend einfach so 
zurechtspinnst, dass sie interessant bleiben. Andere 
Persönlichkeitsfragmente sind zumindest hier und da bereit, an die 
durchlässigen Messages im Wortsinn zu glauben. Hin und wieder ist die 
emotionale Intensität so groß, dass das gar nicht anders geht. Und hin 
und wieder zeigt die Wirklichkeit auch, dass das nicht falsch, sondern 
richtig war. Etwa wenn ich daran denke, wie ich meine Frau kennenlernte. 
Aber auch in anderen Kontexten. Schwieriger sind die Unschärfen: Die 
Dialektik der Aufklärung hat mich gelehrt, dass Aufklärung und Mythos so 
innnig ineinander verschlungen sind, dass es ohnehin keinen Ausweg aus 
der prekären Konstellation gibt. Die List der Vernunft mag daher auch 
als eine der Unvernunft erscheinen ... und umgekehrt.
Adorno schreibt: "Erst einmal jedoch wäre die Gesellschaft als 
universaler Block, um die Menschen und in ihnen, zu erkennen. Hinweise 
zur Änderung vorher helfen nur dem Block, entweder als Verwaltung des 
Unverwaltbaren, oder indem sie sogleich die Widerlegung durchs monströse 
Ganze herausfordern. Begriff und Theorie der Gesellschaft sind nur dann 
legitim, wenn sie zu beidem nicht sich verlocken lassen, sondern die 
Möglichkeit, die sie beseelt, negativ festhalten: aussprechen, daß die 
Möglichkeit erstickt zu werden droht. Solche Erkenntnis, ohne 
Vorwegnahme dessen, was darüber hinausführte, wäre die erste Bedingung 
dafür, daß der Bann der Gesellschaft einmal doch sich löse." 
(Gesellschaft, GS 8, S. 19)
Vielleicht ist mein Sprechen über ein nukleares Zerblubbern des Bremer 
Bodens nur ein radikalisiertes Aussprechen der Möglichkeit, erstickt zu 
werden. Vielleicht das Aussprechen in den weiteren Konsequenzen des 
flügelschlagenden Schmetterlings Bert genau so etwas, das dieses 
Ersticken aufhalten könnte. Vielleicht aber auch nicht. Ich will nicht 
positiver werden als ich es empfinde. Es gibt aber auch andere 
Empfindungswelten, die auf diesen Schein von universeller 
Menschheitszerstörung nicht mehr geben als auf den Schein des 
Wertfetischs: Ach so real und ach so irreal zugleich. An Reinkarnation 
glaube ich weit mehr in dem abstrakten Sinn, in dem die Physiker an 
Energieerhaltung glauben, als in all den konkreteren Sinnen, die ich aus 
asiatisch inspirierten Esoteriken kenne.
Konvergieren tut jedenfalls mein rationales und mein irrationales Denken 
in einer Kategorie, der des Leidens. Sie bleibt die realste Kategorie 
dieses Weltzusammenhangs. Hin und wieder aber ist sie mir schon in 
tiefstem Glück entschwunden. Und diese Momente füttern das irrationale 
Moment. Denn wo Rationalität bloß als ihre abstrakteste Bestleistung auf 
schwerlich planbaren Lustgewinn und übereifrig alles Mögliche 
verbietende Unlustvermeidung, auf einen schwachen Inhalt der schlechten 
Unendlichkeit von Selbsterhaltung verweist, führen die irrationalen 
Momente bis in emotionalste Untiefen vor, was das im Kern alles bedeuten 
und in was für bessere Welten es ausufern kann.
Naja, keine Ahnung, ob das irgendwas klarer macht. Schien mir dennoch 
nötig, es hinterherzuschicken.

Zur immanenten Kritik am Ideologie- und Psychosebegriff habe ich gerade 
noch immer nicht die Muße. Aber ich kopiere zumindest mal einen Absatz 
aus Adornos Negativer Dialektik rein, der vielleicht klar machen könnte, 
wie das Argument grundsätzlich funktionieren wird:
"Indem Denken sich versenkt in das zunächst ihm Gegenüberstehende, den 
Begriff, und seines immanent antinomischen Charakters gewahr wird, hängt 
es der Idee von etwas nach, was jenseits des Widerspruchs wäre. Der 
Gegensatz des Denkens zu seinem Heterogenen reproduziert sich im Denken 
selbst als dessen immanenter Widerpruch. Reziproke Kritik von 
Allgemeinem und Besonderem, identifizierende Akte, die darüber urteilen, 
ob der Begriff dem Befaßten Gerechtigkeit widerfahren läßt, und ob das 
Besondere seinen Begriff auch erfüllt, sind das Medium des Denkens der 
Nichtidentität von Besonderem und Begriff. Und nicht das von Denken 
allein. Soll die Menschheit des Zwangs sich entledigen, der in Gestalt 
von Identifikation real ihr angetan wird, so muß sie zugleich die 
Identität mit ihrem Begriff erlangen. Daran haben alle relevanten 
Kategorien teil. Das Tauschprinzip, die Reduktion menschlicher Arbeit 
auf den abstrakten Allgemeinbegriff der durchschnittlichen Arbeitszeit, 
ist urverwandt mit dem Identifikationsprinzip. Am Tausch hat es sein 
gesellschaftliches Modell, und er wäre nicht ohne es; durch ihn werden 
nichtidentische Einzelwesen und Leistungen kommensurabel, identisch. Die 
Ausbreitung des Prinzips verhält die ganze Welt zum Identischen, zur 
Totalität. Würde indessen das Prinzip abstrakt negiert; würde als Ideal 
verkündet, es solle, zur höheren Ehre des irreduzibel Qualitativen, 
nicht mehr nach gleich und gleich zugehen, so schüfe das Ausreden für 
den Rückfall ins alte Unrecht. Denn der Äquivalententausch bestand von 
alters her gerade darin, daß in seinem Namen Ungleiches getauscht, der 
Mehrwert der Arbeit appropriiert wurde. Annullierte man simpel die 
Maßkategorie der Vergleichbarkeit, so träten anstelle der Rationalität, 
die ideologisch zwar, doch auch als Versprechen dem Tauschprinzip 
innewohnt, unmittelbare Aneignung, Gewalt, heutzutage: nacktes Privileg 
von Monopolen und Cliquen. Kritik am Tauschprinzip als dem 
identifizierenden des Denkens will, daß das Ideal freien und gerechten 
Tauschs, bis heute bloß Vorwand, verwirklicht werde. Das allein 
transzendierte den Tausch. Hat ihn die kritische Theorie als den von 
Gleichem und doch Ungleichem enthüllt, so zielt die Kritik der 
Ungleichheit in der Gleichheit auch auf Gleichheit, bei aller Skepsis 
gegen die Rancune im bürgerlichen Egalitätsideal, das nichts qualitativ 
Verschiedenes toleriert. Würde keinem Menschen mehr ein Teil seiner 
lebendigen Arbeit vorenthalten, so wäre rationale Identität erreicht, 
und die Gesellschaft wäre über das identifizierende Denken hinaus. Das 
rückt nahe genug an Hegel. Die Demarkationslinie zu ihm wird schwerlich 
von einzelnen Distinktionen gezogen; vielmehr von der Absicht: ob 
Bewußtsein, theoretisch und in praktischer Konsequenz, Identität als 
Letztes, Absolutes behauptet und verstärken möchte, oder als den 
universalen Zwangsapparat erfährt, dessen es schließlich auch bedarf, um 
dem universalen Zwang sich zu entwinden, so wie Freiheit nur durch den 
zivilisatorischen Zwang hindurch, nicht als retour à la nature real 
werden kann. Der Totalität ist zu opponieren, indem sie der 
Nichtidentität mit sich selbst überführt wird, die sie dem eigenen 
Begriff nach verleugnet. Dadurch ist die negative Dialektik, als an 
ihrem Ausgang, gebunden an die obersten Kategorien von 
Identitätsphilosophie. Insofern bleibt auch sie falsch, 
identitätslogisch, selber das, wogegen sie gedacht wird. Berichtigen muß 
sie sich in ihrem kritischen Fortgang, der jene Begriffe affiziert, die 
sie der Form nach behandelt, als wären es auch für sie noch die ersten. 
Zweierlei ist, ob ein Denken, durch die Not der einem jeglichen 
unentrinnbaren Form, geschlossen, prinzipiell sich fügt, um den Anspruch 
der traditionellen Philosophie auf geschlossenes Gefüge immanent zu 
verneinen -- oder ob es jene Form der Geschlossenheit von sich aus 
urgiert, der Intention nach sich selbst zum Ersten macht. Im Idealismus 
hatte das höchst formale Prinzip der Identität, vermöge seiner eigenen 
Formalisierung, Affirmation zum Inhalt. Unschuldig bringt das die 
Terminologie zutage; die simplen prädikativen Sätze werden affirmativ 
genannt. Die Copula sagt: Es ist so, nicht anders; die Tathandlung der 
Synthese, für welche sie einsteht, bekundet, daß es nicht anders sein 
soll: sonst würde sie nicht vollbracht. In jeglicher Synthesis arbeitet 
der Wille zur Identität; als apriorische, ihm immanente Aufgabe des 
Denkens erscheint sie positiv und wünschbar: das Substrat der Synthesis 
sei durch diese mit dem Ich versöhnt und darum gut. Das erlaubt dann 
prompt das moralische Desiderat, das Subjekt möge seinem Heterogenen 
sich beugen kraft der Einsicht, wie sehr die Sache die seine ist. 
Identität ist die Urform von Ideologie. Sie wird als Adäquanz an die 
darin unterdrückte Sache genossen; Adäquanz war stets auch Unterjochung 
unter Beherrschungsziele, insofern ihr eigener Widerspruch. Nach der 
unsäglichen Anstrengung, die es der Gattung Mensch bereitet haben muß, 
den Primat der Identität auch gegen sich selbst herzustellen, frohlockt 
sie und kostet ihren Sieg aus, indem sie ihn zur Bestimmung der 
besiegten Sache macht: was dieser widerfuhr, muß sie als ihr An sich 
präsentieren. Ideologie dankt ihre Resistenzkraft gegen Aufklärung der 
Komplizität mit identifizierendem Denken: mit Denken überhaupt. Es 
erweist daran seine ideologische Seite, daß es die Beteuerung, das 
Nichtich sei am Ende das Ich, nie einlöst; je mehr das Ich es ergreift, 
desto vollkommener findet das Ich zum Objekt sich herabgesetzt. 
Identität wird zur Instanz einer Anpassungslehre, in welcher das Objekt, 
nach dem das Subjekt sich zu richten habe, diesem zurückzahlt, was das 
Subjekt ihm zugefügt hat. Es soll Vernunft annehmen wider seine 
Vernunft. Darum ist Ideologiekritik kein Peripheres und 
Innerwissenschaftliches, auf den objektiven Geist und die Produkte des 
subjektiven Beschränktes, sondern philosophisch zentral: Kritik des 
konstitutiven Bewußtseins selbst." (Adorno, Negative Dialektik, GS6, S. 
149ff)

Ich bin übrigens einige Tage komplett off vom Digitalen.

Liebe Grüße,

Bert









-------------- nächster Teil --------------
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