[Debatte-Grundeinkommen] über bedingungslose Freiheit und anderes

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Di Dez 2 17:53:28 CET 2014


Lieber Bert,

das Verständnis und Unverständnis des ökonomischen Wertbegriffs, und da 
speziell die Frage, wie hat Marx diesen Begriff definiert, treibt mich 
mittlerweile seit mehr als 15 Jahren um (im weiteren Sinne sind es eher 
30 Jahre). In der Regel bin ich bei meinen Versuchen, Antworten zu 
finden auf immer mehr und immer neue Fragen gestoßen, weshalb ich mich 
auch in laufenden Diskussionen lange zurückgehalten habe. Ich habe da 
zwar oft den Eindruck gehabt, daß viel Falsches oder nur halb Richtiges 
gesagt wurde, konnte aber nicht deutlich genug sagen, warum. Bei jedem 
Ansatz, eine Erklärung zu formulieren, bin ich immer wieder auf Fragen 
gestoßen, die ich nicht wirklich beantworten konnte. In den letzten 
Jahren hat es nach meinem Eindruck und meinen leider immer noch 
beschränkten Kenntnissen in der Auseinandersetzung über die Themen 
Wirtschaft, Wert und Geld aber wesentliche Bewegungen gegeben und ich 
bemühe mich, meine Ansichten dazu in eine vor allem zunächst mir selbst 
verständliche Form zu bringen. Erst dann kann man ja sinnvoll mit 
anderen darüber sprechen. Im Augenblick bin ich gerade dabei, mir 
nochmal einen Überblick über die Marxschen Schriften zu verschaffen und 
ich hoffe, daß ich das in absehbarer Zeit bewältigen kann. Dann werde 
ich mich auch auf dieser Plattform hier ausführlicher dazu äußern.

Was die Erstellung von Rechenmodellen zum BGE betrifft, so bin ich 
überzeugt, daß sie für die Debatte in politischen Institutionen 
notwendig sind, weil Politik heute ganz und gar der Ökonomie 
hinterherläuft. Wir müssen also zeigen, daß selbst unter diesen 
verdrehten Verhältnissen, die allgemein als Normalität gelten, ein 
Grundeinkommen möglich und sinnvoll ist. Darüberhinaus haben diese 
Modelle aber keine Bedeutung. Dich muß ich deshalb sicher nicht beknien, 
aber es gibt auch innerhalb der Grundeinkommensbefürworter noch viele 
Leute, die sich für Realisten halten, bloß weil sie die Paradigmen der 
kapitalistischen Epoche für ausgemachte Wahrheiten halten.

Zum Thema: Sintflut, Erdbeben von Lissabon und Leibniz? Theodizee:

Welche Vorstellung haben wir von der, und welches Verhältnis zur Natur? 
Und welches Verhältnis hat "die Natur" zu uns, der Menschheit?

Obwohl die meisten Katastrophen, die uns zum Nachdenken über diese 
Fragen bewegen und die wir als Naturkatastrophen bezeichnen, auch 
Kulturkatastrophen sind - damit meine ich, daß sie ihre Ursachen 
wenigstens zu einem Teil im kulturellen Bereich haben - ist nach 
heutigem Wissen nicht auszuschließen, daß durch irgendeine für uns 
unglückliche Fügung das Leben auf der Erde oder zumindest menschliches 
Leben ausgelöscht werden könnte. Das könnte durch kosmische Ereignisse, 
wie einen Kometeneinschlag, aber auch durch irdisch-geologische 
Prozesse, wie dem Ausbruch eines Supervulkans geschehen (andere 
Möglichkeiten liegen noch ganz außerhalb unseres Horizonts). Es gibt 
also keine Existenzgarantie. Dennoch hat sich auf der Erde Leben 
entwickelt und bisher alle Katastrophen nicht nur überstanden, sondern 
sich immer höher entwickelt. Höher bedeutet, immer neue 
Komplexitätsebenen erreicht.

Das Erdbeben, welches 1755 Lissabon zerstörte, hat zwar das Weltbild 
einiger Philosophen erschüttert und auch in der Gesellschaft seiner Zeit 
zu Diskussionen Anlaß gegeben, aber soweit ich weiß hat damals niemand 
darüber nachgedacht, daß wir Menschen unsere Art zu siedeln den 
natürlichen Bedingungen besser anpassen sollten. Das mag damit 
zusammenhängen, daß es damals noch zu wenig Kenntnisse über die 
natürlichen Ursachen gab und man zuviel über göttlichen Zorn 
spekulierte. Aber bis heute bauen Menschen Städte in Risikozonen oder 
produzieren selbst Risikozonen mit dem Bau von Atomkraftwerken, 
Staudämmen und anderem. Der Grund ist die Abwägung von "Nutzen" und 
Risiko zugunsten von Profitinteressen. Das ist es, was ich mit 
Kulturkatastrophe meine. Die Wahnvorstellung, wir seien Herren über die 
Natur, die mit der Errichtung der patriarchalen 
Herrschaftsgesellschaften in die Welt gekommen ist, wird ja noch heute 
von vielen für wahr gehalten. Es ist ein feiner, aber bedeutender 
Unterschied, ob wir uns für die Krone der Schöpfung oder das 
höchstentwickelte Produkt der Evolution halten, oder ob wir uns der 
Natur als vermeintliche Herren entgegenstellen.

Der Umstand etwa, daß die Wahrscheinlichkeit größerer kosmischer Treffer 
in unserem Sonnensystem nach seiner Entstehung so weit abgenommen hat, 
daß wir gegenwärtig mit einem Einschlag pro einiger zehn- oder 
hunderttausend Jahre rechnen müssen, also relativ gute Chancen haben, 
diesen Umstand kann man als einfach ganz natürlich interpretieren oder 
aber dahinter einen wohlmeinenden Gott bzw. eine Göttin vermuten. Ich 
bin der Meinung, mit kenntnisreichem Realismus tun wir am besten, wenn 
wir uns um ein friedliches und harmonisches Verhältnis zu der uns 
umgebenden und durchdringenden Natur bemühen. Dazu gehört wohl auch, 
sich zu überlegen, wie wir eventuellen katastrophalen Ereignissen 
begegnen können.

Mein Versuch einer Antwort auf die Grundfragen unserer Existenz aus 
einer Perspektive, die man vielleicht als spirituell bezeichnen könnte: 
Die AllEinheit, das Vollkommene, kann nur wirklich vollkommen sein, wenn 
es sein Gegenteil auch enthält. Das ist eigentlich nur logisch, wenn es 
auch die Logik in die Verzweiflung treiben kann. Und Erscheinungswelt 
kann es nur geben, wenn es Unterscheidung gibt; im Ununterschiedenen 
erscheint nichts. In diesem Sinne ist also auch das Andere, welches 
manche für das Böse halten, Gottes Wille. Wenn man aber daraus den 
Schluß ziehen wollte, daß alles was geschieht, also auch alle 
Katastrophen, mit Notwendigkeit geschehen muß, ist man auf dem Holzweg. 
Was den Determinismus zu Fall bringt, ist die unerklärliche Tatsache 
unserer Entscheidungsfreiheit. Natürlich gibt es unendlich viele 
Situationen, in denen die Freiheit unserer Entscheidung nur eine 
Illusion ist, weil wir die Bedingtheiten einfach nicht erkennen; aber 
das bedeutet eben nicht, daß wir diese Freiheit nicht hätten. Und diese 
Freiheit ist noch bedingungsloser als das bedingungslose Grundeinkommen 
(damit ist wieder der Nachweis erbracht, daß wir hier über diese Themen 
diskutieren dürfen). Mit der Inanspruchnahme dieser Freiheit kommt auch 
die Moral wieder ins Spiel, denn für diese unsere Entscheidungen sind 
wir verantwortlich; vor uns selbst in erster Linie und vielleicht noch 
sonst wem.

Deinen pragmatischen Überlegungen zur Strukturierung der 
Debatten-Plattform möchte ich zustimmen. Es geschieht schon jetzt, daß 
auf Grund der Unübersichtlichkeit bisher geführter Debatten bestimmte 
Ansätze immer wieder von vorn angefangen werden. Zwar kann man das nicht 
grundsätzlich vermeiden, aber eine überschaubare Strukturierung der 
bisherigen Debatten könnte doch helfen, den einen oder anderen Umweg 
nicht immer wieder gehen zu müssen.

Herzlichen Gruß an alle Mitleser/innen

Jochen

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