[Debatte-Grundeinkommen] galoppierende Inflation, Geldmenge, Zweifel am Paradigma ökonomischer Kontrolle

unversoehnt unversoehnt at gmx.de
So Aug 24 23:47:35 CEST 2014


Hallo Manfred,

deine Beiträge finde ich gut. Von Geldmengentheorie habe ich einfach 
echt keinen Plan, letztlich auch nicht vom aktuellen Stand der 
gesellschaftlichen Gesamtreproduktion. Wäre perspektivisch eine 
Hausaufgabe, wenn ich denn am Ball bleibe. Wenn denn eine wirklich 
ökonomische Beurteilung der politischen Forderung nach einem bGE von 
mindestens 1.000 Euro heutiger Kaufkraft versucht werden soll, ginge es 
wohl grundsätzlich darum, auf einer wertstofflichen Ebene zu verstehen, 
was eine Verschiebung der Wertmenge von oben nach unten und von der 
fordistischen Produktionssphäre fort in die soziale und kulturelle 
Produktionssphäre innerhalb der dynamischen Systemzusammenhänge für 
Folgen hätte. Wie groß sind z. B. die gesellschaftlichen 
Überproduktionskapazitäten, die heute einfach deshalb nicht genutzt 
werden, weil es keine werthaltige Nachfrage gibt? Welche 
Automatisierungspotentiale bleiben nur deshalb ungenutzt, weil Arbeit 
halt billiger ist oder weil Arbeit systemisch ja auch zur Absicherung 
des sozialen Friedens bis zu einem gewissen Grad einfach integriert 
werden muss? Wieviele Arbeitsplätze würden in der Sozialbürokratie und 
bei einem einfach-transparenten Steuermodell auch in den Buchhaltungen 
und bei den Steuerberatern einfach überflüssig werden? Gibt's denn nicht 
irgendwelche marxistischen Volkswirtschaftler, die sich dieser Aufgabe 
stellen? Ansonsten hast du freilich recht: Prognosen sind schwierig, 
insbesondere wenn sie sich auf eine grundlegend veränderte Zukunft 
beziehen. Die Auswirkungen auf das Verhältnis von Kapital und Arbeit 
lassen sich meines Erachtens realistisch überhaupt nicht beurteilen. Die 
Idee von der Initiative um Götz Werner, alle Löhne zur Stunde Null 
einfach um die Höhe des bGE zu kürzen, halte ich für eine Schapsidee, 
die sich gar nicht darüber bewusst ist, dass es auch Klassenkampf von 
unten gibt und auf der Grundlage eines bGE zu völlig anderen 
Konditionen. Ist irgendwie lustig: Dass die organisierte Arbeiterschaft 
auf Grundlage des bGE mal ernsthaft die Arme verschränkt und monetäre 
Forderungen stellt, ist schon gar keine Denkmöglichkeit mehr. Götz 
Werner scheint sich das einfach humanistisch umzudenken: Geht ja eher um 
die Art und Weise des Miteinanders füreinander. Wen juckt Geld? Das 
finde ich voll sympathisch, aber ökonomisch dann ja leider auch wieder 
gaga. Ich glaube auch nicht, dass man sich bloß von der Steuerarithmetik 
an die Sache herantasten kann. Letztlich geht's um eine 
Kulturrevolution, um eine Revitalisierung der Idee des dritten Wegs, der 
sozialen Marktwirtschaft und im besseren Fall um die Transformation 
kapitalistischen Wirtschaftens zu einem Wohlfahrtswirtschaften, weshalb 
es fragwürdig ist, das überhaupt rein ökonomisch betrachten zu wollen. 
Gut, ich bin noch nicht sehr tief in die ganze Materie eingestiegen, 
aber ich würde jetzt erstmal als Arbeitsthese für mich festhalten, dass 
letztlich jeder Designvorschlag für ein bGE eher agitatorischen als 
ökonomisch vernünftig begründbaren Charakter hat.
Meine Überlegungen waren zugegebenermaßen völlig laienhaft und sollten 
eigentlich nur ein gewisses Problembewusstsein schärfen, insbesondere 
für die Möglichkeit, dass ein bGE unter Klassenkampfbedingungen auch 
voll nach hinten losgehen könnte, da es ja mit einer tendenziellen 
Abschaffung der bestehenden Sozialsysteme einhergehen würde. Im 
Dilthey-Modell wird ja nicht ganz zu Unrecht gefordert, das bGE der Höhe 
nach an das wertmäßige gesellschaftliche Gesamtproduktionsvolumen zu 
koppeln, weil abgesehen von den immensen stofflich aufgehäuften 
Reichtümern halt wertmäßig nur verteilt werden kann, was auch wertmäßig 
produziert wird. Das erscheint mir ökonomisch vernünftig und politisch 
unvernünftig.

Was mich z. B. sozialpsychologisch auch ernsthaft wundert: Nur mal so 
nebenbei habe ich hier und da Bemerkungen über Auswirkungen auf die 
Familienführung gelesen. Scheint kaum ein Thema in der Debatte zu sein. 
Dabei finde ich es relativ offensichtlich, dass ein bGE eine echte 
Antwort auf das ja immer mal wieder ziemlich heftig in den 
Mainstream-Debatten problematisierte Phänomen der 'aussterbenden 
Deutschen' zumindest sein könnte, also sich die Angst vorm Kinderkriegen 
mehr oder weniger in Luft auflösen würde. Bei einem bGE in relevanter 
Höhe auch für Kinder hätte man ja einen krassen Anreizeffekt. Allein 
dieser Anreizeffekt ist ökonomisch schon wieder überhaupt nicht 
beurteilbar. Wieviele Schulen, Lehrer, Kinderärzte etc. brauchen wir 
denn dann demnächst?

Ansonsten bleibe ich wohl bei meinem Bauchgefühl, zu dem sich hier 
bislang niemand geäußert hat: Eine nach Grund-/Normal-/Luxusbedarf 
gestaffelte Konsumsteuer plus Kapitalisierungssteuer scheint mir 
zumindest erstmal die klarste Formulierung für das, was ich mir 
verteilungstheoretisch zur Gegenfinanzierung von Staat, Sozialsystemen 
und bGE wünschen würde. Verena Nedden behauptet aber fachlich fundiert, 
dass die Steuerprogression heute eigentlich eine Chimäre ist, bloß ein 
paar Prozentpünktelchen. Im Gegenteil gibt es aus 
Hartz4-Kombilohn-Perspektive eine drastische Steuerdegression, voll absurd.

Ich habe ja ohnehin keinen Hehl daraus gemacht, dass ich das ganze 
Konzept von Wert und Privateigentum fürn Arsch und für geschichtlich ein 
bisschen überfällig lange durch- und ausagiert halte. Insbesondere wenn 
man klar hat, dass mindestens international die Frage des 
Privateigentums eine um Leben, Tod, Sklaverei, Krieg und Ökokatastrophe 
ist. Da muss doch auch noch mal was ganz anderes gehen.

Liebe Grüße,

Bert Grashoff


Am 24.08.2014 00:00, schrieb Manfred Bartl:
> Hallo, Bert!
>
> Es war wohl richtig, global auf Deine Ausführungen zur Inflation
> einzugehen, die ich irgendwann nicht mehr lesen wollte, weil es eben
> noch lange keine Inflation (also Geldentwertung) gibt, bloß weil sich
> die Preisspirale dreht. Steigende Preise sind keine Inflation, solange
> die Kaufkraft gleich schnell steigt!
>
> Beim zweiten Überfliegen finde ich auf einmal, dass Du mit Deinen
> Forderungen teilweise schon weiter bist als bei Deinen Prämissen ;-)
>
> Punkt 1 ist absolut richtig! Dasselbe Argument hatte ich gebracht ;-)
> Wenn man heute den Vorschlag macht, "das BGE soll 1000/1500 Euro
> betragen", dann meint man damit AUSCHLIESSLICH die HEUTIGE Kaufkraft
> von 1000/1500 Euro - nicht etwa 1000/1500 Euro im Wirtschaftssystem
> "Bedingungsloses Grundeinkommen"! Die lässt sich m.E. beim besten
> Willen nicht berechnen. Darum sind für mich alle "durchgerechneten
> BGE-Modelle" in dieser Hinsicht wertlos, weil sie etwas vorgaukeln,
> nämlich die Berechenbarkeit, die Kontrollierbarkeit im Sinne eines
> Zauberlehrlings, der die Geister wieder loswerden könnte, die er
> gerufen hatte. Die meisten dieser Modelle können durchaus etwas
> aufzeigen, aber genau DAS ist ihr Wert, nicht das Durchrechnen
> insgesamt!
>
> Punkt 2 ist insofern richtig, als es in der Tat keinen Sinn macht,
> sich über die "Gegenfinanzierung" des bedingungslosen Grundeinkommen
> irgendeinen Kopf zu machen. Das BGE ist ein bloßes Verteilungsmodell
> für den essenziellen Teil des Nationaleinkommens - nämlich dem für die
> Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aller in
> Deutschland am Wirtschaften beteiligten Menschen dienenden, etwa die
> Hälfte des Nationaleinkommens umfassenden Anteil - und zwar ein
> gerechtes Modell! Der Vorteil des BGE ist ja nicht in erster Linie der
> eines effizienteren Wirtschaftssystems (auch wenn es das tatsächlich
> ist), sondern der eines GERECHTEREN Wirtschaftssystems! Wenn man sich
> also vergegenwärtigt, dass der zur Finanzierung des BGE benötigte
> monetäre Einsatz per "Maschinensteuer" aus der Wertschöpfung der
> Unternehmen generiert wird und praktisch unmittelbar in die Wirtschaft
> zurückfließt, dann erkennt man sehr schnell, dass man sich darüber
> keinen Kopf machen muss ;-)
>
> Nur die Begründung über eine Inflation ist halt - meiner Meinung nach
> - grundlos bzw. falsch.
>
> Übrigens: Ich habe Karl-Heinz Brodbeck nach seiner Vorstellung des BGE
> befragt und sein Tenor war sehr interessant: BGE überhaupt nicht als
> Geld auszuzahlen oder auch nur als geldwerte Ware auszugeben, sondern
> die Produkte des täglichen Lebens marktfern zu produzieren und geldlos
> abzugeben ;-)
>
> Mit solidarischen Grüßen
>
> Manfred
>
>
>
> On 8/20/14, unversoehnt <unversoehnt at gmx.de> wrote:
>> Vom Grundprinzip her dürfte das Gespenst einer galoppierenden Inflation
>> aber vermutlich durchaus plausibel sein. Als Konsequenz ergibt sich
>> daraus für Verfechter eines bedingungslosen Grundeinkommens m. E.:
>>
>> 1. Es macht keinen Sinn, die Höhe eines bedingungslosen Grundeinkommens
>> monetär zu bestimmen. Sinnvoller ist eine Bestimmung über repräsentative
>> Warenkörbe, deren Preise gesetzlich am besten mit der
>> Aktualisierungsgeschwindigkeit der Frankfurter Börse automatisch die
>> monetäre Ausschüttungshöhe des bedingungslosen Grundeinkommens
>> bestimmen. Das wäre eine Geste des Souveräns an die Finanzmärkte nach
>> dem Motto: Wir meinen das schon ernst und lassen uns da nicht von euch
>> verarschen.
>>
>> 2. Wenn die Inflation mit der Einführung eines bedingungslosen
>> Grundeinkommens tatsächlich ohnehin befürchtet werden muss, macht es
>> eigentlich gar keinen Sinn, sich über eine Gegenfinanzierung des
>> bedingungslosen Grundeinkommens einen großen Kopf zu machen. Warum dann
>> nicht gleich dazu übergehen, das bedingungslose Grundeinkommen über eine
>> Geldmengenerhöhung durch die EZB zu finanzieren? Klar, weil sich das in
>> Deutschland nicht verkaufen lässt und die EZB formell eigenständig
>> agiert. Aber solange die Debatten ohnehin theoretisch bleiben, scheint
>> mir das zumindest eine berechtigte Frage zu sein. Soll heißen: Es würde
>> mich interessieren, ob irgendjemand dazu etwas Profundes sagen kann.




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