[Debatte-Grundeinkommen] Willis Wertbestimmung

willi uebelherr wube at gmx.net
Sa Aug 23 18:51:54 CEST 2014


Lieber Bert,

sehr danke ich dir fuer deine Hand. Und auch ich will mich bei dir 
entschuldigen fuer den harten Wortwechsel. Aus diesem Text erkenne ich, 
wie sehr du dir die Fragen fuer eine Zukunft stellst. Und damit ist die 
wichtigste Vorraussetzung gegeben. "Fragend suchen wir unseren Weg" 
(Subcomandante Marcos, heute Galeano).

Ich verstehe sehr gut, dass urbane Zentren, Metropolen, niemals 
lebensfaehig werden. Sie sind kranke Konstrukte, die krank machen. Von 
daher beschaeftige ich mich nicht mit Theorien zu "Urbania". Auch nicht 
mit "urbanic garden".

Vielmehr geht es mir darum, den Druck zur Uebersiedlung in die Stadt 
aufzuloesen. Und das sind im wesentlichen 2 Dinge:
a) der Landraub und die damit verbundene Aufloesung existenzieller Basen
b) die kulturelle Entleerung laendlicher Regionen

Die Konzentration in Staedten, wie wir es in Latein Amerika sehen, ist 
Resultat gezielter Massnahmen und nicht zufaelliges 
Zivilisationsprodukt. Wir koennen natuerlich die Zivilisation selbst als 
Ursache begreifen, wenn sie als kulturelle Verklaerung von 
Sklavenhalterei begriffen wird und nicht als Emanzipationsprozess der 
Menschen. In dem Text zur "juedischen Frage" hat sich Karl Marx sehr 
intensiv damit beschaeftigt.

Alle Menschen sind fuer diesen Prozess der Emanzipation, der Entstehung 
von Souveraenitat, der Entwicklung zum "autonomen Subjekt" wichtig und 
hilfreich. Jeder Mensch kann sich mit der Wissenschaft der Natur 
beschaeftigen und eintauchen. Dazu brauchen wir keine Zertifikate. Nur 
unseren Willen. "Und wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg".

Auch aus diesem Grund bin ich begeisterter Anhaenger der Idee des bGE. 
Weil es die Entstehung von marktfreien Raeumen unterstuetzt und damit 
die Grundlagen der Entwicklung von lokaler Souveraenitaet und Autonomie 
staerkt. Und, indem wir uns von der Sphaere der "spekulativen 
Wertabstraktion" im Geldsystem entfernen, entstehen wieder reale Basen 
fuer unsere Lebensfuehrung. Ohne die internationale Sklaverei.

mit dank und lieben gruessen, willi
Popayan, Colombia


Am 22/08/2014 um 02:39 schrieb unversoehnt:
> Hallo lieber Willi,
>
> "reaktionärer Gedankenmüll/Sumpf" empfand ich als kränkend. Daher möchte
> ich mich bei dir entschuldigen, weil ich vermute, dass dich zuvor
> irgendetwas in meinen Zeilen gekränkt und so eine Reaktion nahegelegt
> hat. Das war nicht meine Absicht. Und das meine ich so schlicht und
> ehrlich, wie ich's schreibe. Ich kenne dich nicht und sehe den Sinn
> einer Debatte in erster Linie im Austausch von Sichtweisen, Argumenten,
> Meinungen, Vermutungen etc., um im gemeinsamen Austausch einen
> vielleicht etwas geschärfteren Blick auf das jeweilige Thema zu
> entwickeln. Und das, dachte ich zumindest, ist in dieser Mailingliste
> erstmal das bedingungslose Grundeinkommen ... in das dann aber freilich
> viele Themen mitreinspielen.
> Inhaltlich jedenfalls fand ich den Reaktions-Vorwurf nicht angemessen.
> Das Neandertal-Bild hatte ich selber als Polemik ausgewiesen, dann hatte
> ich ein wenig aus meiner persönlichen Perspektive über den Zug zu lokal
> unabhängigen Ökonomien nachgedacht und auch auf allgemeinere Gründe
> dafür verwiesen. Der Themenfokus aber war für mich die Wertsubstanz, und
> die erscheint mir aus genannten Gründen wesentlich besser als Fetisch
> bestimmt denn als Arbeitszeit.
>
> Dass du dich für "lokale, hoechst selbstaendige und unabhaengige
> Oekonmien auf der Basis lokaler technischer Infrastrukturen und der
> lokalen Unabhaengigkeit in der Technologie" einsetzt, finde ich
> sympathisch. Wie gesagt, bin ich durchaus am überlegen, ob eine solche
> Tätigkeit für mich nicht ebenfalls eine Option wäre. Nur bin ich als
> Metropolen-Stadtkind ohne allzu großes technisches KnowHow dafür
> biographisch erstmal nicht sehr gut vorbereitet, habe höchstens einen
> theoretischen, aber keinen sozialen Bezug dazu.
> Als gesamtgesellschaftliche Perspektive jedoch hätte eine
> dezentralisierte Ökonomie nicht nur fatale Konsequenzen für Europa und
> Nordamerika, sondern für alle urbanisierten Regionen überall in der
> Welt. Und in denen, wird gelegentlich in der Glotze gesagt, leben bald
> Dreiviertel aller Menschen. Daher bin ich grundsätzlich skeptisch, ob
> das Konzept lokaler Ökonomien eine gesamtgesellschaftliche Wirksamkeit
> entfalten kann, oder eher Eskapismus bleibt. Schwer vorzustellen, dass
> New York, Rio, Tokyo sich in solche Ökonomien verwandeln könnten. Noch
> schwerer vorzustellen, dass sich der Trend zur Urbanisierung umkehrt.
> Das heißt aber wie gesagt nicht, dass ich deinen Einsatz dafür nicht
> sympathisch fände und im Zweifelsfall vermutlich deutlich besser als so
> ziemlich alles, was ich im letzten Jahr so mit meinem Leben angefangen
> habe.
>
> Insbesondere dein Satz "Die Sklaverei wird beendet." hat mich zumindest
> nochmal grundsätzlicher zum Nachdenken übers bGE gebracht. Am
> Dilthey-Modell fand ich erstmal sympathisch, dass es die
> Import-Export-Beziehungen auf die Basis eines Sozialtransfers stellen
> möchte. Das hat ein gewisses Potential, auch wenn's quer zum von dir
> favorisierten Autarkie-Gedanken steht. Der politische Kontext der
> bGE-Debatte erschien mir ohnehin erstmal nur Deutschland und vielleicht
> noch die EU zu sein und nur vermittels des Dilthey-Modells vielleicht
> indirekt die Welt. Wenn man sich grundsätzlicher vergegenwärtigt, dass
> noch mein prekärer Anteil am gesellschaftlichen Reichtum Deutschlands
> auf Krieg, Hunger und Sklaverei überall in der Welt fußt, lässt sich
> wieder die gesamte bGE-Debatte als innerimperiales falsches Leben abtun,
> als reaktionär. Dem würde ich grundsätzlich nur entgegenhalten können,
> dass das bGE zumindest einen Entwicklungshorizont für gelebte
> Solidarität eröffnen würde und insofern vielleicht auch für eine
> Sensibilierung der metropolen Öffentlichkeit für den Zusammenhang von
> Reichtum hier und Armut, Gewalt, Verelendung dort. Eine solche
> Sensibilität kann ich sonst so in meinem Alltag fast gar nicht
> wahrnehmen. Ich lebe in einer Welt, in der man den Kindern in
> Schulbüchern beibringen muss, dass es keine Spaghetti-Bäume gibt,
> Plastikfleisch nicht in Kühltruhen heranwächst und App-Konsum zur
> Überschuldung noch vor der Volljährigkeit führen kann. Der Kapitalismus
> kennt viele Formen von Verelendung, in Deutschland vor allem
> psychosoziale. Grundsätzlich ist denke ich allen klar, dass ein bGE
> nicht der heilige Gral ist, der alle Probleme beseitigt. Als politisches
> Projekt könnte es meines Erachtens aber tatsächlich Nadelöhr sein, das,
> was den Unterschied ums Ganze machen könnte. Das kann ich beim
> Autarkie-Konzept zumindest für meine Lebensumgebung so nicht sehen.
>
> Liebe Grüße,
>
> Bert Grashoff



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