[Debatte-Grundeinkommen] Willis Wertbestimmung

unversoehnt unversoehnt at gmx.de
Fr Aug 22 09:39:33 CEST 2014


Hallo lieber Willi,

"reaktionärer Gedankenmüll/Sumpf" empfand ich als kränkend. Daher möchte 
ich mich bei dir entschuldigen, weil ich vermute, dass dich zuvor 
irgendetwas in meinen Zeilen gekränkt und so eine Reaktion nahegelegt 
hat. Das war nicht meine Absicht. Und das meine ich so schlicht und 
ehrlich, wie ich's schreibe. Ich kenne dich nicht und sehe den Sinn 
einer Debatte in erster Linie im Austausch von Sichtweisen, Argumenten, 
Meinungen, Vermutungen etc., um im gemeinsamen Austausch einen 
vielleicht etwas geschärfteren Blick auf das jeweilige Thema zu 
entwickeln. Und das, dachte ich zumindest, ist in dieser Mailingliste 
erstmal das bedingungslose Grundeinkommen ... in das dann aber freilich 
viele Themen mitreinspielen.
Inhaltlich jedenfalls fand ich den Reaktions-Vorwurf nicht angemessen. 
Das Neandertal-Bild hatte ich selber als Polemik ausgewiesen, dann hatte 
ich ein wenig aus meiner persönlichen Perspektive über den Zug zu lokal 
unabhängigen Ökonomien nachgedacht und auch auf allgemeinere Gründe 
dafür verwiesen. Der Themenfokus aber war für mich die Wertsubstanz, und 
die erscheint mir aus genannten Gründen wesentlich besser als Fetisch 
bestimmt denn als Arbeitszeit.

Dass du dich für "lokale, hoechst selbstaendige und unabhaengige 
Oekonmien auf der Basis lokaler technischer Infrastrukturen und der 
lokalen Unabhaengigkeit in der Technologie" einsetzt, finde ich 
sympathisch. Wie gesagt, bin ich durchaus am überlegen, ob eine solche 
Tätigkeit für mich nicht ebenfalls eine Option wäre. Nur bin ich als 
Metropolen-Stadtkind ohne allzu großes technisches KnowHow dafür 
biographisch erstmal nicht sehr gut vorbereitet, habe höchstens einen 
theoretischen, aber keinen sozialen Bezug dazu.
Als gesamtgesellschaftliche Perspektive jedoch hätte eine 
dezentralisierte Ökonomie nicht nur fatale Konsequenzen für Europa und 
Nordamerika, sondern für alle urbanisierten Regionen überall in der 
Welt. Und in denen, wird gelegentlich in der Glotze gesagt, leben bald 
Dreiviertel aller Menschen. Daher bin ich grundsätzlich skeptisch, ob 
das Konzept lokaler Ökonomien eine gesamtgesellschaftliche Wirksamkeit 
entfalten kann, oder eher Eskapismus bleibt. Schwer vorzustellen, dass 
New York, Rio, Tokyo sich in solche Ökonomien verwandeln könnten. Noch 
schwerer vorzustellen, dass sich der Trend zur Urbanisierung umkehrt. 
Das heißt aber wie gesagt nicht, dass ich deinen Einsatz dafür nicht 
sympathisch fände und im Zweifelsfall vermutlich deutlich besser als so 
ziemlich alles, was ich im letzten Jahr so mit meinem Leben angefangen habe.

Insbesondere dein Satz "Die Sklaverei wird beendet." hat mich zumindest 
nochmal grundsätzlicher zum Nachdenken übers bGE gebracht. Am 
Dilthey-Modell fand ich erstmal sympathisch, dass es die 
Import-Export-Beziehungen auf die Basis eines Sozialtransfers stellen 
möchte. Das hat ein gewisses Potential, auch wenn's quer zum von dir 
favorisierten Autarkie-Gedanken steht. Der politische Kontext der 
bGE-Debatte erschien mir ohnehin erstmal nur Deutschland und vielleicht 
noch die EU zu sein und nur vermittels des Dilthey-Modells vielleicht 
indirekt die Welt. Wenn man sich grundsätzlicher vergegenwärtigt, dass 
noch mein prekärer Anteil am gesellschaftlichen Reichtum Deutschlands 
auf Krieg, Hunger und Sklaverei überall in der Welt fußt, lässt sich 
wieder die gesamte bGE-Debatte als innerimperiales falsches Leben abtun, 
als reaktionär. Dem würde ich grundsätzlich nur entgegenhalten können, 
dass das bGE zumindest einen Entwicklungshorizont für gelebte 
Solidarität eröffnen würde und insofern vielleicht auch für eine 
Sensibilierung der metropolen Öffentlichkeit für den Zusammenhang von 
Reichtum hier und Armut, Gewalt, Verelendung dort. Eine solche 
Sensibilität kann ich sonst so in meinem Alltag fast gar nicht 
wahrnehmen. Ich lebe in einer Welt, in der man den Kindern in 
Schulbüchern beibringen muss, dass es keine Spaghetti-Bäume gibt, 
Plastikfleisch nicht in Kühltruhen heranwächst und App-Konsum zur 
Überschuldung noch vor der Volljährigkeit führen kann. Der Kapitalismus 
kennt viele Formen von Verelendung, in Deutschland vor allem 
psychosoziale. Grundsätzlich ist denke ich allen klar, dass ein bGE 
nicht der heilige Gral ist, der alle Probleme beseitigt. Als politisches 
Projekt könnte es meines Erachtens aber tatsächlich Nadelöhr sein, das, 
was den Unterschied ums Ganze machen könnte. Das kann ich beim 
Autarkie-Konzept zumindest für meine Lebensumgebung so nicht sehen.

Liebe Grüße,

Bert Grashoff



Am 20.08.2014 18:06, schrieb willi uebelherr:
>
> Liebe freunde,
>
> ich bin natuerlich etwas enttaeuscht darueber, was mir da an 
> reaktionaerem Gedankenmuell entgegen schlaegt. Aber in diesen 
> reaktionaeren Sumpf will ich nicht folgen. Deswegen nur noch mal kurz 
> das wesentliche.
>
>
> Hallo Bert,
>
> ich verwende jetzt deine Anrede. Vielleicht entspricht sie mehr den 
> realen Gegebenheiten.
>
> Ja, es gibt ein wichtiges Lied von Brecht, in dem es heisst:
> " ...,
> es macht uns ein Geschwaetz nicht satt
> und bringt kein Essen her".
>
> Auf meine Hinweise auf lokal unabhaengige Oekonomien mit "zurueck zu 
> den Neandertalern" zu antworten, ist mir wirklich zu primitiv. Ich 
> gestehe, ich habe mir deinen Text nicht vollstaendig durchgelesen. Der 
> Anfang genuegt.
>
>
> Liebe Freunde,
>
> bei dieser Gelegenheit will, oder sollte ich, einige meiner/unserer 
> Grundsaetze fuer eine neue Welt erlaeutern.
>
> Ich formuliere unsere Entwicklungsprinzipien so:
> a) massiv dezentral
> b) massiv parallel
> c) massiv redundant
>
> Das sind die Entwicklungsprinzipien der Natur. Sie haben sich bewaehrt 
> und als hoechst sinnvoll erwiesen.
>
> Deswegen arbeite ich fuer lokale, hoechst selbstaendige und 
> unabhaengige Oekonmien auf der Basis lokaler technischer 
> Infrastrukturen und der lokalen Unabhaengigkeit in der Technologie.
>
> Damit tritt die freie Technologie als wichtigstes Element in den 
> Vordergrund. Unser wichtigstes Instrument ist das globale Internet, 
> die "Inter-connection of local Net-works". Es wird frei und kostenlos 
> allen Menschen zur verfuegung stehen, weil die Menschen selbst dieses 
> Netzwerk in ihrer Region erstellen.
>
> Damit wird der Weg frei fuer: "global denken, lokal handeln". 
> Gemeinsam suchen wir die besten Loesungen. Angewendet werden sie immer 
> lokal.
>
> Das hat natuerlich fuer Europa und Nordamerika fatale Konsequenzen. 
> Die Sklaverei wird beendet. Die Menschen in diesen Regionen muessen 
> wieder selbst fuer sich sorgen.
>
> Unser Prinzip ist: wenn wir nicht importieren muessen, dann muessen 
> wir auch nicht exportieren. Weder Natur noch menschliche Lebenszeit.
>
> Auf diesem Weg werden alle militaerischen und polizeilichen 
> Einrichtungen und damit die staatlichen Gewaltsysteme aufgeloest. Und 
> damit existiert auch kein Staat mehr. Auch nicht in der Vorstellung, 
> weil real existiert kein Staat.
>
> So entsteht dann das, was wir "Planeta de Comunas" nennen. Der Planet 
> Erde, ein Gebiet autonomer Comunas (Kommunen im historischen Sinne). 
> Ohne Zentralismen, ohne Gewaltinstanzen, ohne Staaten. Basierend auf 
> der gegenseitigen Hilfe und Unterstuetzung, der globalen Kooperation.
>
> mit lieben gruessen, willi
> Popayan, Colombia
>
>
>
> Am 19/08/2014 um 14:45 schrieb unversoehnt:
>> Hallo Willi,
>>
>> vielen Dank für die Blumen. Freut mich wirklich, wenn du dich über meine
>> Zeilen freuen konntest. :o)
>>
>> Aber wenn ich dich richtig verstehe, hätten diese Zeilen niemals
>> Werthaltiges darstellen können, selbst wenn ich sie als Artikel in einem
>> Buch verkauft hätte. Du sagst es nicht wirklich glasklar, aber
>> angesichts dessen, dass du das Distributionssystem als repräsentative
>> Objektzuordnung der Ökonomie entgegenstellst und Flassbeck,
>> "Staatsbuerokratie, Militaer und Ruestungsproduktion,
>> nationale/foerderale Polizeien, Parlamente, Gefaengnisse, Gerichte und
>> dergleichen" als parasitäre Erscheinungen klassifizierst, die deiner
>> Meinung nach offenbar in keinerlei schöpferischem Zusammenhang zu "den
>> notwendigen arbeiten fuer unsere lebensgrundlagen" stehen, drängt sich
>> der Verdacht auf, dass du eine sehr stofflich gedachte
>> Arbeitswerttheorie vertrittst. Sehr frei an Brecht angeleht vielleicht
>> ungefähr so: Erst kommt das gemeinschaftliche Arbeiten fürs Fressen,
>> dann fallen die parasitären Moralisten darüber her. Oder vielleicht
>> vertrittst du auch eine anarchistische Position à la "Weg mit dem 
>> Staat".
>>
>> Polemisch ließe sich fragen: Meinst du mit "den notwendigen arbeiten
>> fuer unsere lebensgrundlagen" die im Neandertal oder die im Hier und
>> Jetzt? Im Hier und Jetzt sind offenbar auch alle von dir als parasitär
>> eingestuften Tätigkeiten gesellschaftlich notwendig, zumindest de fakto
>> als solche anerkannt.
>>
>> Aber ich möchte nicht polemisch sein. Ob ein Rückzug in kleine,
>> regionale Wirtschaftseinheiten z. B. aus ökologischen Gründen oder wegen
>> der Sehnsucht nach heimeligen und unmittelbar transparenten Beziehungen
>> zwischen den Menschen wünschenswert wäre, darüber streiten sich in
>> meiner Brust diverse Herzen. Bremen wird mir mit zunehmendem Alter
>> jedensfalls eher ein Hort von Stressoren als ein weltstädtisches
>> Kulturdorf mit Straßenbahn und Flughafen. Es ist meiner Ansicht nach
>> aber völlig unerheblich, wie man sich dazu als Individuum stellt. Ich
>> kann mir nicht vorstellen, dass die Weltgesellschaft in irgendeiner
>> relevanten Weise rollback in der Dichte ihres Beziehungsgestrüpps üben
>> wird. Eher wird die Entwicklung weiter auf ein global village zulaufen.
>> Und das Kosmopoliten-Herz in meiner Brust würde es auch gar nicht anders
>> wollen. Nur eine drastische Weltkatastrophe könnte das meines Erachtens
>> verhindern, und eine solche wünsche ich mir nicht.
>>
>> Das habe ich vor allem gesagt, um klar zu stellen, dass ich ein Zurück
>> bis zu Quesnay in der Arbeitswertlehre nicht als Option für die Zukunft
>> sehe und wahrscheinlich auch nicht wünschenswert fände. Von der Utopie
>> her gedacht bin ich auch weder ein Anhänger von "gleichem Lohn für
>> gleiche Arbeit" oder dem wenigstens etwas besseren "gleicher Lohn für
>> alle Arbeit und Schluß mit Privateigentum an Produktionsmitteln",
>> sondern ein Anhänger von Marx' "jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem
>> nach seinen Bedürfnissen". Mit anderen Worten: Von der Utopie aus
>> gedacht scheiß ich auf allen Wert, auf alle formellen
>> Vermittlungsfetische zwischen Produktion und Distribution.
>>
>> Die Wertbestimmtheit interessiert mich daher nur in Bezug auf die
>> Analyse des Faktischen. Und aus der lässt sich meines Erachtens nicht
>> sinnvoll das ausklammern, was du "repräsentative Objektzuordnung"
>> nennst. Wenn die Staatsquote bei knapp 50 % liegt, dann heißt das für
>> mich faktisch auch, dass etwa die Hälfte des gesellschaftlichen
>> Wertvolumens jenseits aller wertvermittelten Schwarzmärkte als
>> Staatskonsum bestimmt werden muss, der systemisch in die Marxsche
>> abstrakte Arbeit implementiert ist - wie auch immer man sich das konkret
>> über den Kategorienapparat des ja ohnehin von Marx nicht vollendeten und
>> von diversen Problemen belagerten Kapitals vermittelt vorstellen mag.
>> Wieso also nicht ein bedingungsloses Grundeinkommen in diese abstrakte
>> Arbeit implementieren?
>>
>> Falls du wirklich eine komplett stoffliche Wertvorstellung hast, also
>> der Meinung bist, dass nur Arbeit wertschaffend ist, die irgendetwas
>> herstellt, was man anfassen kann, dann sind wir in der Tat weit
>> auseinander. Wert ist substanziell ein gesellschaftliches
>> Vermittlungsverhältnis, das unter anderem an Dingen klebt, aber auch z.
>> B. an der Tätigkeit von Ärzten, Mathematikern und Popstars. Sind Googles
>> Algorithmen wertstiftend? Oder die Arbeit eines Statikers? Oder die
>> Schriftstellerei von Joanne K. Rowling? Falls nein: Warum fließt Wert
>> dann in monetärer Form ohne Goldbindungsstandard in die jeweiligen 
>> Taschen?
>>
>> Die stoffliche Wertvorstellung macht m. E. nur Sinn im Hinblick auf
>> Naturnotwendigkeiten nach dem Muster voneinander abhängiger Bedingungen
>> der Möglichkeit: Würde die Gesamtgesellschaft so unproduktiv sein, dass
>> alle am Hungern wären, dann würden sich die Individuen mit ihren
>> Wertgegenständen (Geld, Gold, Zigaretten oder gleich Knarre, Heugabel,
>> Faustring) um die letzten Krumen Brot streiten und keinerlei
>> werthaltiges Interesse an dem neuesten Hollywood-Streifen zeigen. Ist
>> das Fressen aber erledigt, zeigen sich bei den Menschen noch ganz andere
>> Bedürfnisse, die teilweise ins Verwertungsregime integriert sind,
>> teilweise aber auch nicht wie etwa die eigene romantische Liebe (obwohl:
>> die mit Parship und Konsorten ja auch zunehmend). Maslows
>> Bedürfnispyramide (vgl.
>> http://de.wikipedia.org/wiki/Maslowsche_Bedürfnispyramide ) ließe sich
>> zwar sicher im Detail kritisieren, gibt aber zumindest einen Eindruck
>> davon, wie sich solch ein Muster voneinander abhängiger Bedingungen der
>> Möglichkeit grundsätzlich denken ließe.
>>
>> Der notwendige Zusammenhang von Wertsetzung durch Arbeit einerseits,
>> Wertrealisierung durch gesellschaftliche Anerkennung der Arbeit im
>> vollzogenen Tausch andererseits, scheint mir übrigens auch glasklar.
>> "Ich weiss, die "oesterreichische Schule der Oekonomie" bestreitet dies
>> und postuliert in der extremform, dass der wert eines produktes erst auf
>> dem markt, also im tausch, entsteht." Er entsteht da nicht, sondern in
>> der abstrakten Arbeit, die aber im Zweifelsfall überhaupt gar nichts mit
>> konkreter Arbeit zu tun hat. Man denke dabei etwa an die Absurdität
>> einer ehemaligen Sprite-Werbung: "Image ist nichts. Dein Durst ist
>> alles." Image ist sehr wohl wertsetztend. Und dazu bedarf es nicht
>> unbedingt irgendwelcher konkreter Arbeit. Ohne Tausch bzw. Kauf und
>> Verkauf aber würde der Wert nicht existieren. Alle konkrete Arbeit, die
>> irgendetwas herstellt, was unverkäuflich bleibt, ist einfach keine
>> abstrakte Arbeit. Wert muss über den Markt realisiert werden. Freundlich
>> gesagt ist Wert so etwas wie ein gesellschaftliches
>> Anerkennungsverhältnis. Fetisch trifft die implizite Brutalität und
>> konstitutive Unbewusstheit der Sache aber besser.
>> Ich halte es übrigens zumindest für möglich, dass sich Marx'
>> "automatisches Subjekt" noch während meiner Lebensspanne tatsächlich
>> komplett stofflich realisiert. Ein paar Durchbrüche der KI-Forscher und
>> wir stehen vielleicht vor einer ganz neuen historischen Situation, in
>> der die Kapitalistenklasse vollkommen ohne Arbeiterklasse auskommen
>> kann. Nicht auszuschließen, dass Auschwitz nur eine Testreihe des
>> Weltgeists war und die eigentliche Wahrheit des Neoliberalismus nicht
>> Feudalismus, sondern Vernichtung von 98 % der Weltbevölkerung als
>> überflüssig ist. Diese Befürchtung ist glaube ich der Kern meines
>> manifesten Bauchgefühls, dass eine Konsumbesteuerung zur
>> Gegenfinanzierung eines bedingungslosen Grundeinkommens sinnvoller ist:
>> Was wäre, wenn es wegen echter Vollautomation überhaupt keine
>> Wertbestimmtheit der Arbeit mehr gäbe? Welche Einkommen außer denen der
>> Kapitalistenklasse sollten sich dann noch besteuern lassen? Würde eine
>> solche Einkommenssteuer nicht eine Massenvernichtung des arbeitslosen
>> Pöbels näher legen als eine Besteuerung des Konsums, die nicht ganz so
>> offensichtlich auf den Tatbestand einer reinen Transfergesellschaft von
>> Eigentümern an Nichteigentümer verweisen würde?
>>
>> In Bremen gehört übrigens die Erzählung von den sieben Faulen zum
>> touristisch ausgeschlachteten Kulturerbe (vgl.
>> http://de.wikipedia.org/wiki/Sieben_Faulen ). Die Pointe der Geschichte
>> besteht darin, dass die Nutzung von produktivkraftsteigernden
>> Produktionsmitteln von der Umgebung als Faulheit ausgelegt wird. Know
>> How ist produktiv und daher auch durchaus wertsetzend. Das ist ja die
>> ganze Message der Weberaufstände (vgl.
>> http://de.wikipedia.org/wiki/Weberaufstand ), die sich vermutlich in
>> abgewandelten Formen heute tagtäglich irgendwo vollziehen.
>>
>> Falls dein Parasiten-Begriff weniger auf einer stofflichen
>> Arbeitswerttheorie fußt, sondern eher auf einem anarchistischen Motiv,
>> dann kann ich auch nur wieder sagen, dass da viele Herzen in meiner
>> Brust schlagen. Einerseits schwitzt die Staatsbürokratie insbesondere
>> qua Gewaltmonopol drastische Widerwärtigkeiten aus. Andererseits sind
>> zumindest die paar bürgerlichen Staatsgebilde auf dem Globus aber am
>> ehesten noch als das zu interpretieren, was sich politisch
>> selbstbewusstes Gattungswesen nennen ließe. National verstümmelt, von
>> Wertverwertungssachzwängen inhaltlich beschnitten, insitutionell gegen
>> die eigene Bevölkerung verselbständigt. Aber doch noch am ehesten so
>> etwas wie selbstbewusstes Gattungswesen. Dass Hartz4 besser ist als
>> verhungern, hatte ich schon gesagt. Dem reinen Finanzvolumen nach ist
>> die Sozialstaatlichkeit Deutschlands ziemlich beachtlich. Ohne Staat
>> wären die Fortschritte des sozialdemokratischen Renegatenprojekts
>> überhaupt nicht realisierbar gewesen. Was ist mit Schulen und
>> öffentlichen Universitäten? Nur subjektformierende Kadettenanstalten?
>> Oder doch zumindest auch humanistisch, produktivkraftsteigernd,
>> aufklärend? Auch an der formellen Egalität bürgerlicher Staaten lässt
>> sich m. E. nicht nur Schlechtes finden, so sehr diese formelle Egalität
>> ohne materielle Egalität auch eklig bleibt.
>>
>> Da du dir ja Gedanken über mein biographisches Verhältnis zu konkreter
>> Arbeit und virtualisierender Werttheorie machst, kann ich das vielleicht
>> ein bisschen anekdotisch erden: Nach meinem Abi und einem Jahr
>> Mädchen-für-alles-Zivildienst bei einem Bildungs- und Freizeitträger für
>> geistig und körperlich Behinderte habe ich eineinhalb Jahrzehnte an der
>> Bremer Uni herumstudiert. Während meiner Abi-Zeit hatte ich aber bereits
>> eine ziemlich ätzende konkrete Buckel-Arbeit auf Minijob-Basis in einem
>> Speditionslager. Während des Studiums habe ich erst ein paar Jahre in
>> einem Baguette-Laden gejobbt und bin dann 13 Jahre lang auf
>> Teilzeitbasis in der von der Bremer AWO organisierten individuellen
>> Betreuung Schwerstbehinderter hängen geblieben. Ich kenne insofern
>> durchaus sowohl eine Menge virtueller Uni-Realität als auch eine Menge
>> körperlicher Arbeit. Gegen körperliche Arbeit habe ich grundsätzlich
>> auch nichts, sehne mich aber auch nicht unbedingt danach. Ich bin
>> durchaus technikaffin und begrüße Automatisierung, habe aber auch so
>> etwas wie einen Großschwager, dessen Handywellen-Paranoia mich mitunter
>> darüber grübeln lässt, wie tief der von Morpheus zitierte Hasenbau aus
>> Alice im Wunderland wohl tatsächlich ist. Während der Zeit bei der AWO
>> gab's so etwas wie Arbeitskämpfe, die mich ver.di-Mitglied haben werden
>> lassen. Wobei ich eher böse sagen würde, dass der Betriebsrat einem
>> Kindergarten ähnelt und die SPD-verfilzten Funktionseliten des
>> Wohlfahrtverbands, der sich am "freiheitlich-demokratischen Sozialismus"
>> (vgl. http://www.awo-bremen.de/ueber-uns/leitbild ) orientiert, bei mir
>> eher den Eindruck erweckt haben, den Verband als Gans zu betrachten, die
>> man für die eigenen Taschen ausschlachten kann. Von Arbeitskampf lässt
>> sich insofern nicht sprechen, eher wohl von Mediation der bitteren
>> Pillen, die das ausführende Personal zu schlucken hatte. Interessant
>> fand ich jedenfalls, dass meine Arbeit als persönliche Assistenz für
>> Schwerstbehinderte, übrigens ein recht deutlich weiblich konnotiertes
>> Arbeitsfeld, das Arbeitskampfmittel des Streiks ethisch völlig unmöglich
>> macht. Unmittelbar von Arbeitsniederlegung betroffen wären Leute, die
>> erstens täglich auf Hilfe angewiesen sind und zweitens überhaupt keinen
>> Anteil an der Finanzierung der Arbeit haben. Ein bisschen weiter
>> gedacht, war mein Lohn finanziert über Transferleistungen des
>> Sozialstaats und der gesetzlichen Krankenversicherungen. Mit anderen
>> Worten: Wenn man der Meinung ist, dass nur warenproduzierende Arbeit
>> wertsetzend sein kann, war diese Arbeit eindeutig parasitär: finanziert
>> über Steuern, Lohnnebenkosten und den Finanziers der Bremer
>> Staatsschulden. Insofern war es auch innerhalb des allgemeinen
>> sozialpolitischen Rollbacks kein großes Wunder, dass ich während der 13
>> Jahre keine einzige Tariferhöhung, dafür aber die mit Lohndrückerei
>> verbundene Auslagerung in eine Tochtergesellschaft des Verbandes
>> erlebte, im Effekt etwa 25 % Reallohnverlust in den 13 Jahren. Und null
>> Chance, da politisch oder gewerkschaftlich irgendwie im Ernst zu
>> intervenieren. Der Job im Speditionslager und der im Baguetteladen
>> dürften aber noch als warenproduzierende Tätigkeiten durchgehen. Während
>> der Speditionslager-Job insofern völlig entfremdet war, als er keinerlei
>> Bezug zu den Nutznießern der Warenverschiebung herstellte, ließ mich der
>> Job im Baguetteladen immer mit dem unbefriedigenden Gefühl zurück, dass
>> die Leute sich ihr Futter auch selber kredenzen könnten. Und das, obwohl
>> ich durchaus selber phasenweise passionierter Nutzer von
>> Futterbringdiensten gewesen bin. Der Job bei der AWO hingegen war
>> eindeutig unmittelbar nützlich für zumindest ein einziges
>> Gesellschaftsmitglied, nämlich die jeweilige Klientin bzw. den
>> jeweiligen Klienten. Drastisch nützlich, aber weder warenproduzierend
>> noch auf einem freien Markt verkäuflich, da meine KlientInnen einem
>> kleinbürgerlichen und proletarischen Milieu entstammten und sich so
>> etwas unmöglich aus eigener Tasche hätten leisten können. Mit der
>> Umstellung auf die Bachelor-Master-Struktur hat die Bremer Uni den
>> Magisterstudenten eine Deadline gesetzt. Also habe ich mich doch mal
>> dazu aufgerafft, meinen Abschluss zu machen. Fast zeitgleich verstarb
>> der Klient, den ich etwa 7 Jahre lang für die AWO betreut hatte. Guter
>> Zeitpunkt, um damit aufzuhören. Ist mir sozial und intellektuell einfach
>> zu tumb, körperlich in höherem Alter kaum zu leisten, monetär deutlich
>> unterdurchschnittlich gratifiziert. Und für irgendwas muss der
>> Akademikerstatus ja eigentlich auch nütze sein. Die Kündigungsschutzzeit
>> verbrachte ich dann auf einer sehr flexiblen Teilzeitstelle bei vier
>> unterschiedlichen KlientInnen. Das Zentrum-Peripherie-Modell macht sogar
>> bei der kleinen ISB der AWO Bremen einen spezifischen Sinn: Für mich
>> hat's einen erheblichen Unterschied gemacht, ob ich bei einem Klienten
>> in einem festen Rhythmus gearbeitet habe oder bei diversen KlientInnen
>> mit Springerflexibilität. Ach ja, dann habe ich vor fast einem Jahrzehnt
>> noch ein bisschen freiberuflich als Korrektor gearbeitet und war in dem
>> Zusammenhang sogar mal für ein Vierteljahr Projektmanager bei einer
>> Internet-Klitsche, die mit einem vielversprechenden Projekt binnen
>> kürzester Zeit Multimillionäre hätte produzieren können. Aber die
>> Finanzkrise zerschoss die Fremdkapitalakkreditierung und das Ganze ist
>> eher unschön den Bach runtergegangen. Wiederum eher ein virtuelles Feld:
>> Textpolizei und Management. Aber die Management-Phase hat mich für ein
>> Vierteljahr mal eine 80- bis 100-Stunden-Woche kennengelehrt.
>>
>> Insbesondere die Arbeit bei der AWO hielt meine Staatsfeindlichkeit in
>> engen Grenzen: Ohne Sozialstaat gäbe es so etwas gar nicht. Jedenfalls
>> nicht innerhalb der heutigen Rahmenbedingungen.
>>
>> Klärt das was?
>>
>> Liebe Grüße,
>>
>> Bert Grashoff
>>
>>
>>
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