[Debatte-Grundeinkommen] Lebensstildebatte: "Konsumkritik blendet Produzenten-Seite aus"

willi übelherr wube at gmx.net
Fr Feb 8 19:35:46 CET 2013


liebe freunde,

diese antwort auf einen artikel in der SZ, eine weiterleitung von Greenhouse 
Infopool (greenhouse at jpberlin.de), bekam ich ueber die Attac-de EKU-Disk 
<eku-disk at listen.attac.de> mailliste. weil sie das thema so grandios 
behandelt, sende ich ihn weiter.

der text von Harald Welzer aus der SZ
www.streifzuege.org/blind-in-die-apokalypse

die antwort, auch hier in der mail enthalten, von Bernd Suffert
www.streifzuege.org/2013/blind-in-die-apokalypse

mit lieben gruessen, willi



-------- Original-Nachricht --------
Betreff: [EKU-disk] [St] Lebensstildebatte: "Konsumkritik blendet 
Produzenten-Seite aus"
Datum: Thu, 7 Feb 2013 00:01:44 +0100
Von: Greenhouse Infopool <greenhouse at jpberlin.de>
An: ##Autofrei <announce at autofrei.de>, ##EKU-Disk <eku-disk at listen.attac.de>

05. Feb. 2013

Blind in die Apokalypse. Ein Leserbrief

von Bernd Suffert

Sehr geehrter Herr Professor Welzer,

Ihr Artikel [1], der heute, am Silvestertag, in der SZ erschienen ist, hat 
mir sehr gut gefallen. Wenn ich Sie gleichwohl auf eine Schwachstelle darin 
aufmerksam mache, dann verstehen Sie das bitte als Versuch, ihre Position zu 
unterstützen und zu stärken.

Die Schwachstelle besteht meines Erachtens darin, dass Sie die Frage des 
„zerstörerischen Lebensstils“ rein von der Seite des Konsums aus betrachten. 
Die Rolle der Produzenten dagegen, deren Leben nicht nur mittelbar, qua 
„dramatischer Zuspitzung der Ressourcenlage auf dem Planeten“, bedroht ist, 
sondern ganz unmittelbar zerstört wird, indem sie unter erbärmlichen 
Arbeitsbedingungen diesen ganzen Schrott produzieren, blenden Sie komplett 
aus. Sie müssen gar nicht nach Bangladesch oder China schauen, um zu 
verstehen, was ich meine. Auch in den westlichen Ländern gibt es genug 
Elendsexistenzen, die bei dem Zerstörungswerk mitmachen - nicht weil sie 
einen luxuriösen, verschwenderischen Lebensstil pflegen wollen, sondern weil 
sie es müssen, um die allerdringendsten Lebensbedürfnisse wie Essen, 
Kleidung und Wohnung befriedigen zu können. Die Arbeiter bei Foxconn 
produzieren garantiert nicht deshalb wie verrückt Handys und Computer, weil 
sie davon nicht genug bekommen können, sondern weil sie Geld benötigen, um 
ihre Existenz zu fristen. Dasselbe kann man von jedem Arbeiter oder 
Angestellten in jedem Betrieb sagen. Die Vorgabe von 25 Prozent Rendite, die 
der Deutsche Bank-Chef Ackermann seinerzeit gemacht hat, drückt nicht die 
Leidenschaft der Zigtausend Bankangestellten aus, die jedes Jahr mehr 
leisten und verdienen wollen. Sie ist die vom Kapitalmarkt gesetzte 
Bedingung, bei deren Erfüllung sie hoffen können, dass ihnen ihr 
Arbeitsplatz, dieses Heiligtum des kapitalistisch dressierten Menschen, noch 
für einige Jahre erhalten bleibt.

Mit anderen Worten: wenn Sie von dem katastrophalen Ressourcenverbrauch 
reden, kommen Sie an der Frage des Kapitalismus und seines 
Wachstumsimperativs nicht vorbei. Und dessen Grundlage ist nicht 
materieller, sondern ideeller Art: der mysteriöse „Trieb“ des als Kapital 
fungierenden Geldes, immerzu „mehr“ werden zu müssen. Für eine Abstraktion, 
um die es sich bei der grundlegenden Kategorie des Kapitalismus handelt, ist 
das kein Problem. Es gibt keine Geldsumme, die nicht von einer größeren 
Geldsumme übertroffen werden könnte. Aber wehe, es hängen an dieser 
Verwertungslogik, die als reine Rechnung die Ewigkeit auf ihrer Seite hat, 
reale menschliche Bedürfnisse im stofflichen Sinne des Wortes.

Ich zitiere aus einem vor Jahren entstandenen Artikel: „Im Kapitalismus 
herrscht der Glaube, dass es auf jeden Fall Sinn macht, Geld zu verdienen - 
egal mit welcher Art von Tätigkeit. Ob man sein Geld als Pornodarsteller/in 
verdient oder mit dem Anbau von Weizen, ob man in der Waffen- oder in der 
Lebkuchenproduktion beschäftigt ist: unter dem Aspekt des Geldverdienens ist 
das eine so gut wie das andere. Diese erhabene Toleranz oder 
Gleichgültigkeit, die der Geldstandpunkt gegenüber den qualitativen 
Unterschieden der materiellen Welt besitzt, kann man durchaus als esoterisch 
bezeichnen. Der Kapitalanleger, der auf die Verzinsung seines Geldes und auf 
sonst nichts achtet, verkörpert sie wohl am besten, letztlich zollt aber 
jeder Geldverdiener dem Geist dieser Esoterik seinen mehr oder weniger 
großen Tribut. Solange wir in einer Gesellschaft leben, in der die für sich 
genommen blinde Logik des Geldverdienens einen eigenen, das Handeln von 
Millionen Menschen bestimmenden Standpunkt konstituiert, dessen Forderungen 
weise gegen die Güter dieser Welt wie etwa sauberes Wasser, atembare Luft 
und ausreichend Ackerboden abgewogen werden müssen, dürfen wir uns alle zu 
den praktizierenden Esoterikern, nämlich des Geldes, zählen.“

Es ist Ihr hoch zu schätzendes Verdienst und das der anderen Warner und 
Rufer aus der „Besorgnisindustrie“, dass Sie uns „Normalmenschen“ reichlich 
empirisches Material zur Verfügung stellen, mit dem Sie unserem 
Vorstellungsvermögen in Sachen „Apokalypse“ auf die Sprünge helfen. 
Letztlich bleibt es aber doch bei allgemeinen Appellen und Vorhaltungen, die 
sich an die „Gesellschaft“ als ganze oder an das abstrakte „Wir“ unseres 
„Lebensstils“ richten. Was ich vermisse: dass Sie dieses pauschale 
Anprangern und Händeringen, das man zur Not eine „strategische Orientierung“ 
nennen könnte (wenn man den Satz: „so kann`s nicht weitergehen“ als 
strategischen gelten lassen will), unterfüttern mit einer Taktik, die dazu 
imstande wäre, das Anliegen der „Rettung des Planeten“ mit den ganz 
konkreten, stofflichen Bedürfnissen der heute lebenden Menschen zu 
vermitteln. Denken Sie an die 41 Prozent der Frühverrentungen, denen 
psychische Ursachen wie das Burnout-Syndrom zugrunde liegen, denken Sie an 
die Selbstmordrate, an die Vielzahl von Suchterkrankungen und Allergien, an 
die kaputten Wochenend-Beziehungen - den meisten dieser Menschen könnte mit 
einem Weniger, Langsamer, Ruhiger, Besinnlicher sofort geholfen werden, bei 
den wenigsten handelt es sich um fanatische Porschefahrer.

Wenn die Produktivität des Kapitalismus umgeschlagen ist in die Destruktion 
dessen, was das Leben auf der Erde möglich und lebenswert macht, dann gilt 
es, das, was landläufig Produktivität genannt wird, frontal anzugreifen. 
Nichts ist dafür besser geeignet als die radikale Reduzierung der 
Arbeitszeit und die Verminderung der Arbeitsintensität - mit einem Wort: die 
drastische Verbesserung der Lebensqualität der unmittelbaren Produzenten. 
Bei der heute erreichten Produktivität würde ein Bruchteil der bisher 
üblichen Arbeitszeit, gleichmäßig verteilt unter den Menschen, ausreichen, 
um uns (unter Einschluss der Chinesen etc.) ein angenehmes (schon allein 
darin angenehmes) Leben zu ermöglichen. Ganze Industrien könnte man mit 
einer entsprechend motivierten Bevölkerung zum Erliegen bringen.

Da Sie aber die Welt nur von der Konsumentenseite aus sehen, fürchten Sie, 
dass die bessergestellten Produzenten auch wieder nur Handys und 
Flachbildschirme und massenhaft Autos nachfragen werden. Weil ja die ganze 
Ressourcenverschleuderung angeblich nur deshalb stattfindet, weil der 
„Markt“ es so will, weil die Konsumtrottel Lebensqualität immer nur mit dem 
„allerneuesten Produkt“, das zu „haben“ ist, gleichsetzen. In dieser 
Hinsicht, scheint mir, sind Sie ein Markt-Opportunist, und das Verdikt, die 
Leute stellten sich die Zukunft so vor, wie sie jetzt sei, in diesem Fall 
als „Marktgesellschaft“, fällt auf Sie selbst zurück. Sie vergessen, dass 
das, was „gekauft“ wird, erst einmal produziert worden sein muss. Und dass 
es Zwang, nicht Freude ist, was die Menschen zur Produktion von Dingen 
treibt, über deren Nutzen und Notwendigkeit sie zuvor nicht beratschlagt 
haben. Und Sie vergessen, dass „weniger Arbeit“ auch „mehr Zeit zum 
Nachdenken“ bedeutet und die Gelegenheit, anspruchsvollere Bedürfnisse zu 
entwickeln. Weniger Arbeit und weniger Hetze haben zu wollen, ist in dieser 
Welt der Workoholics und Zwangsneurotiker ja an sich schon zum 
anspruchsvollen Bedürfnis geworden. Verschaffen Sie den Menschen ein von 
Existenzängsten freies Leben (versprechen oder propagieren Sie es, machen 
Sie Reklame dafür, etwa in der Art des bedingungslosen Grundeinkommens), und 
Sie werden Erfolg bei der Absenkung der Produktivität haben. Rudolf Bahro 
hat das Konsumverhalten in der kapitalistischen Massengesellschaft 
seinerzeit auf „kompensatorische Bedürfnisse“ zurückgeführt, die man 
entwickelt, wenn man die Entbehrungen eines entfremdeten Lebens ertragen 
muss. Greifen Sie diese Entbehrungen an, prangern Sie den unmenschlichen 
Leistungsdruck an, der die Menschen dazu bringt, sich mit hohem Fieber in 
den Betrieb zu schleppen, um nur ja nicht den Arbeitsplatz zu gefährden, und 
Sie werden massenhaft Verbündete finden, wenn Sie öffentlich Zweifel 
anmelden, ob die Produktion von 79 Millionen Autos im Jahr das Leben auf der 
Erde verbessert. Verbündete, die diesem Zweifel vielleicht auch einmal durch 
die Tat, durch einen Streik oder sonst einen Sabotageakt, Nachdruck 
verleihen können. Vor allem aber treten Sie dem Märchen entgegen, dass eine 
hochgradig neurotische Single-Gesellschaft wie die unsere, in der die 
Menschen mit griesgrämigen Gesichtern herumlaufen und menschliche Kontakte 
bloß noch per Internet zustande kommen, eine „Wohlstandsgesellschaft“ sei!

Es ist schön, dass Sie die Möglichkeit andeuten, dass die Absenkung der 
Produktivität gleichbedeutend sein kann mit der Verbesserung der 
Lebensqualität. Aber dieser Aspekt kommt mir zu kurz, wird nur so nebenbei 
und halbherzig vorgetragen. Vielleicht liegt das daran, dass Sie im 
vorliegenden Artikel unsere Aufmerksamkeit vornehmlich auf das Phänomen der 
„Besorgnisindustrie“ lenken wollten (und dass ich Ihre anderen Publikationen 
noch nicht kenne). Luhmann hätte hier wieder mal ein „Subsystem“ entstehen 
sehen, das zwecks Stabilisierung des Gesamtsystems aus diesem sich 
ausdifferenziert. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass Sie sich nicht 
klar genug darüber sind, dass Ihre Position, ob Sie wollen oder nicht, 
nirgendwo anders hinführt als zur radikalen Kritik des Kapitalismus. Als 
Kapitalismuskritiker, der auch vom Mechanismus der Kapitalverwertung selbst 
etwas versteht, hätten Sie die Genugtuung zu sehen, dass die unübersehbare 
Krise des Systems auch eine im engeren Sinn ökonomische Seite hat, die dabei 
ist, das Wachstumsgerede sozusagen an der Realität zerschellen zu lassen. 
Sie würden sich dann vielleicht denjenigen zugesellen, die angesichts der 
Depression, die jetzt auch über die „reichen Länder“ hereinzubrechen 
„droht“, vor übertriebenem Alarmismus warnen. Sie würden verkünden, dass das 
Ende des Kapitalismus eben gerade keine Apokalypse, sondern sogar umgekehrt 
als ein Segen aufzufassen ist - sofern wir es lernen, bewusst damit umzugehen.

Einen wichtigen Beitrag zu diesem bewussten Umgang mit der kapitalistischen 
Krise haben Sie natürlich so oder so längst geleistet. Dieses Verdienst kann 
Ihnen niemand streitig machen. Sogar ich, der von der Umwelt- und 
Klimaschutz-Szene wenig Ahnung hat, habe Ihren Namen schon mehrmals in der 
Zeitung gelesen - mit dem entsprechenden Wiedererkennungseffekt. In diesem 
Sinne will ich Sie mit meinem Brief nur dazu ermuntern und ermutigen, auf 
dem schon beschrittenen Weg weiterzugehen: vielleicht mit etwas mehr 
antikapitalistischem Bewusstsein, das heißt für mich: mit mehr Vertrauen in 
die Selbstzerstörungskräfte des Kapitalismus. Sehr hilfreich für die 
Entwicklung dieses Vertrauens ist das Buch „Die große Entwertung“ von zwei 
Verfassern, Norbert Trenkle und Ernst Lohoff, die ich als meine Mitstreiter 
betrachte. Erschienen 2012 im Unrast-Verlag.

Nochmals herzlichen Dank für Ihren schönen Artikel und alles Gute zum Neuen Jahr

[1] www.streifzuege.org/blind-in-die-apokalypse





Mehr Informationen über die Mailingliste Debatte-Grundeinkommen