[Debatte-Grundeinkommen] Grundeinkommen und Rente mit 67

Manfred Bartl sozial at gmail.com
Do Jan 5 16:06:22 CET 2012


Hallo, Wolfgang!

Vielen Dank für Deine Gedanken zum Zusammenhang der Diskurse über das
bedingungslose Grundeinkommen und die Rente ab 67.

Ich glaube nicht, dass beides - unter den damit verknüpften
Bedeutungen! - zusammengehört, und dafür gibt es mehrere Gründe.

Auf die Bedeutung möchte ich zuerst eingehen, da Du ja inhaltlich zum
Teil durchaus Recht hast. Mit dem bedingungslosen Grundeinkommen hat
man in der Tat die Möglichkeit, über die Altersruhestandsgrenze von 65
Jahren hinaus (quasi bis Ultimo) flexibel (!) am Erwerbsleben
teilzuhaben, weil es dann nicht mehr nur um Existenzsicherung (ggf.
plus Lebensstandard), sondern nur noch um die
Lebensstandardabsicherung und natürlich um die Selbstverwirklichung,
die Teilhabe in diesem engeren Sinne geht. Das hat mit der "Rente ab
67" aber überhaupt nichts zu tun, denn die Rente ab 67 ist in ihrer
heutigen Bedeutung nichts als ein absurdes Rentenkürzungsprogramm,
weil der Faktor Massenarbeitslosigkeit viel stärker auf das
Rentenniveau drückt als steigende Lebenserwartung und sinkende
Nachkommenzahl kombiniert!

Damit zu den Gründen, warum ich nicht glaube, dass man die beiden
Diskussionen in den diesen Begriffen zugeordneten Bedeutungen nicht
nur nicht zusammenbringen kann, sondern sie nicht einmal
zusammenbringen darf:

1. Die Machtfrage

Zwar ändert des BGE auch einiges am Machtgefüge, aber nicht so
prinzipiell, dass man die Machtfaktoren, die zur Einführung der Rente
ab 67 geführt haben, unterschätzen dürfte. Auch nach der (leider
ohnehin ziemlich hypothetischen) Einführung eines BGE würden diese
Faktoren nicht einfach verschwinden. Es läge nach wie vor im Interesse
der kapitalistischen Unternehmen, irgendein Rentenniveau niedrig zu
halten und die Lebensarbeitszeit über JEDE existierende
Altersruhestandsgrenze hinaus auszudehnen.

2. Der Gegensatz Lebenserwartung und Lebensalter, Gesundheitskondition

Ich wundere mich immer, wie viele Leute auf dieses neoliberale Dogma
hereinfallen, dass mit einer steigender Lebenserwartung eine
Qualitätssteigerung jedes konkreten Lebensalters bei jedem Menschen
einherginge!! Wer irgendwann einmal in einem Knochenjob mit 65 am Ende
war, der wird doch auch bei prinzipiell gestiegener Lebenserwartung
und natürlich auch trotz BGE mit 65 am Ende sein! An diesem Fakt
ändert sich meiner Meinung nach überhaupt nichts bzw. zumindest nichts
Wesentliches!! Die Regelaltersgrenze sollte also auf jeden Fall bei 65
Jahren bestehen bleiben, solange sich an der gesundheitlichen
Kondition der Menschen im Alter nichts Wesentliches ändert.

3. Der Mythos der Lebensstandardabsicherung im Alter

Meines Erachtens ist die Lebensstandardabsicherung im Alter im
Wesentlichen ein Mythos der kapitalgedeckten privaten Altersvorsorge.
Da wird eine Sicherungslücke prognostiziert, die mit den realen
Lebensumständen des Altersruhestands, der für die meisten Menschen
eben ein bewusstes Kürzertreten bedeutet, gar nichts zu tun hat.
Klar wollen viel Rentner ihren Altersruhestand so gut es geht
ausnutzen, aber muss man wirklich mit einer mallorcinischen Finka UND
einer Hurtigruten-Tour zum Nordkap UND einer Oldtimer-Sammlung im
Privatmuseum UND massiven Enkelbeschenkungen kalkulieren?? Teilweise
ist nicht einmal das verkehrt, aber dann fällt trotzdem der Aufwand
für das zuvor geführte Karrieristenleben weg! Die meisten Rentner
wären mit dem, was ein BGE bietet, meines Erachtens vollauf zufrieden,
zumal das BGE ja auch für Kinder und Enkel komplett (vor)sorgt, sodass
da kein zusätzlicher Aufwand entsteht (wie heute, wo mir meine Eltern
dankenswerterweise die neue Brille praktisch gespendet haben)!

4. Die Untergrabung der Freiheit zur Nicht-Erwerbstätigkeit

Meines Erachtens bringst Du diesen Grund selbst: "Ziel eines
Grundeinkommens ist die Ermöglichung von selbstbestimmter
gesellschaftlicher Teilhabe. Für die meisten Menschen gehört zur
Teilhabe an der Gesellschaft eine sinnvolle Arbeit, die nicht
unbedingt eine Erwerbsarbeit sein muss." Würde eine Umlagerente auf
Erwerbsarbeit (und, Du erwähntest es, anderen Einkommen) beruhen,
würde auf das Individuum ein Druck zur Aufnahme einer Erwerbsarbeit
(oder zum Erzielen anderer zusätzlicher Enkommen) wirken. Das halte
ich im Lichte des BGE-Diskurses für falsch.

Eine andere Frage wäre (und die gilt auch heute schon, z.B für die
Arbeitszeit, die ich seit 2003 in Diskussionen wie diese und brotlose
Wahlkampfaktivitäten investiere), wie aus anerkannter ehrenamtlicher,
gesellschaftlicher Arbeit ein Druck auf die Gesellschaft erzeugt
werden kann, durch den diese Tätigkeit ggf. in Erwerbsarbeit
verwandelt werden kann. Allerdings bin ich auch diesbezüglich eher
skeptisch, weil dann auch so etwas wie ein Erziehungsgehalt (etwa nach
Christa Müller) ins Blickfeld rückt, was ich als Medizin gegen die
heutige gängige Exklusion von gesellschaftlich offenbar nicht
wertgeschätzter Arbeit durchaus reizvoll, prinzipiell aber für falsch
halte, weil es kapitalistischem Leistungsdenken Zutritt zu Familien
und anderen (vor dem Kapitalismus schützenswerten) Umgebungen
ermöglicht. Wie wir beim Studientag von attac Mainz et al. gelernt
haben, kann die Verwandlung von freiwilligem Engagement in einen
bezahlten Job aber auch ein Element der Fremdbestimmung (durch den
Träger) hineinbringen, das die Tätigkeit entfremdet und verfälscht und
damit letztlich entwertet. Diese Erfahrung habe ich (nicht ganz so
heftig) durchaus auch schon gemacht, weswegen mich Gedanken über das
BGE hinaus stets unvermeidlich zum Sozialismus führen ;-)

Mit solidarischen Grüßen
Manfred


Sprecher der Mainzer Initiative gegen HARTZ IV
ver.di Bezirkserwerbslosenausschuss Rhein - Nahe - Hunsrück
ver.di Landesbezirkserwerbslosenausschuss Rheinland-Pfalz/Saar
stellvertretendes Mitglied im ver.di Bundeserwerbslosenausschuss
parteiloser Kandidat bei der Direktwahl des Mainzer Oberbürgermeisters März 2012




2012/1/5 Wolfgang Strengmann-Kuhn <wolfgang at strengmann-kuhn.de>:
> Liebe Freundinnen und Freunde,
>
> vielleicht interessiert Euch ja mein neuester Beitrag im WSK-Blog:
>
> Ist das Grundeinkommen eine Alternative zur Rente mit 67?
>
> In der letzten Zeit höre ich immer wieder die These „Das Grundeinkommen ist
> die Alternative zur Rente mit 67“. Ich teile diese These nicht – im
> Gegenteil: zusammen wird ein Schuh draus.
>
> weiter unter:
> http://www.strengmann-kuhn.de/2012/01/05/ist-das-grundeinkommen-eine-
> alternative-zur-rente-mit-67/
>
> Schöne Grüße
> Wolfgang
>




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