[Debatte-Grundeinkommen] Geht uns die Arbeit aus - ist das die richtige Frage?

Werner Popken Werner at Stuerenburg.com
Di Okt 11 16:59:14 CEST 2011


Hallo!

Die Frage, ob uns die Arbeit ausgeht oder nicht, hat ja eine
fruchtbare Diskussion ausgelöst, ist aber für die Debatte des
Grundeinkommens oder des Bandbreitenmodells meines Erachtens völlig
unerheblich. Es geht um etwas völlig anderes, und ich hoffe, ich kann
das deutlich machen.

Das Grundeinkommens ist für mich eine Frage der Menschenrechte, oder
anders ausgedrückt, eine Frage nach der Art der Gesellschaft, in der
wir leben möchten. Die Idee des Grundeinkommens ist schon Jahrhunderte
alt, wenn man nicht gar auf die Bibel zurückgreifen will - im Paradies
gab es bekanntlich keine Arbeit, und die Vertreibung aus dem Paradies
war mit dem Fluch der Arbeit belegt. Wie ist es denn zu verstehen,
dass dieser Fluch seinen Charakter so vollständig verwandelt und nun
als Segen daherkommt? Warum wollen alle unbedingt arbeiten?

Dass Arbeit erstrebenswert ist, womöglich geradezu glückseligmachend,
dass es als Fortschritt gilt, wenn Frauen sich nicht mehr um die
Kinder kümmern, sondern arbeiten gehen, muss doch sehr verwundern.
Sollten da nicht auch die Kinder und die Alten in den Genuss dieses
Segens kommen? Arbeit für alle, für Jung und Alt, von der Wiege bis
zur Bahre, müsste doch die Parole heißen!

Ich finde es wichtig, dass wir von der abstrakten Ebene herunterkommen
und werde deshalb jetzt persönlich. Es gibt nämlich nicht um
Prinzipien, sondern um das persönliche Leben eines jeden von uns.

Meine Mutter hat nach dem Zweiten Weltkrieg schon gearbeitet, zu
Hause, als Schneiderin; sie hatte infolgedessen keine Zeit für mich,
obwohl sie da war. Eines meiner frühesten Erlebnisse ist ein
Schuldgefühl - ich hatte Kummer und ging nach Hause, aber als ich
ankam, war der Kummer schon verflogen. Da habe ich ihr etwas
vorgespielt, weil ich nur unter dieser Bedingung Zuwendung bekommen
konnte. Das war Unrecht, das habe ich sehr deutlich gespürt, ich habe
sie betrogen und mir etwas erschlichen, was sie mir sonst nicht geben
wollte, was mir aber eigentlich zugestanden hätte. Wer hat nun wen
betrogen? Diese Frage konnte ich mir als Kind nicht stellen. Erst
jetzt wird mir deutlich, dass sie mich ebenfalls betrogen hat. Und das
war bedingt durch die Verhältnisse.

Ob sich nun ein Mann oder eine Frau um die kleinen Kinder kümmert - um
entsprechende Anwürfe gleich im Vorfeld zu entkräften - ist vermutlich
nicht wichtig, und ich selber habe mich eine Zeit lang sehr um meine
eigenen Kinder gekümmert, weil ich meine Zeit frei einteilen konnte,
während meine Frau fremdbestimmt arbeiten musste. Irgendwann ging auch
das nicht mehr, aber glücklicherweise hatten wir eine Oma.

Die Verherrlichung der Arbeit liegt möglicherweise auch an der
ideologischen Verbrämung der Arbeit durch den Kommunismus, wo ja die
Arbeit nicht abgeschafft wurde, sondern praktischerweise per
Definition nicht mehr entfremdet sein sollte, da die Produktionsmittel
im Besitz des Volkes seien. Für diejenigen, die arbeiten mussten, war
der Unterschied vermutlich nicht so leicht erkennbar. Auf jeden Fall
war Arbeit nun positiv belegt, man konnte ein Held der Arbeit werden.

Es gibt sicher viele Leute, die gerne arbeiten (ich gehöre dazu), aber
erstens will mir die Verknüpfung von Einkommen und Arbeit nicht
einleuchten - ich arbeite auch, wenn ich nichts dafür bekomme, und
umgekehrt ist die Vergütung nicht nur bei Topmanagern obszön, sondern
bei allen, die in irgendeiner Weise ein Monopol errichten können,
beispielsweise Künstler - und zweitens fällt es schwer, zu definieren,
was Arbeit eigentlich ist. Wann wird eine beliebige Tätigkeit zu
Arbeit? Ist die Fremdbestimmung ausschlaggebend? Dann würde jeder
Selbstständige ja gar nicht arbeiten, genauso wenig wie Hausfrauen und
Mütter (oder Väter) angeblich nicht arbeiten, Kindergärtnerinnen und
Lehrer aber wohl.

Wenn jeder die Freiheit hätte, in diesem Sinne nicht zu arbeiten, also
absolut selbstbestimmt zu leben - was würde dann passieren?
Bekanntlich ist nichts schlechter auszuhalten als Langeweile.
Irgendwie braucht der Mensch auch einen Sinn in seinem Leben. Zur Not
erfindet er sich den, aber oft gelingt das nicht oder nur schlecht;
manche reich geborenen oder überraschend reich gewordenen Menschen
können davon ein Lied singen. Aber in unserer Zeit, wo die meisten
Menschen das Rentenalter erleben und sogar viele Jahre als Rentner
verbringen, muss auf diese Frage spätestens dann eine Antwort gefunden
werden, wenn die Erwerbslosigkeit aus Altersgründen kommt. Rentner
könnten, ja sie müssen sogar selbstbestimmt leben.

Einige Menschen bauen dann ab, andere drehen erst richtig auf und
entwickeln vielfältige Interessen. Ich finde es interessant, dass
Künstler, Wissenschaftler und Unternehmer, also Menschen, die
(idealerweise) eben nicht fremdbestimmt arbeiten, häufig bis ins hohe
Alter und mit Energie und Freude weitermachen, solange Geist und
Körper dies eben erlauben. Die Arbeit hält diese Leute lebendig und
fit, sie wollen arbeiten, auch wenn sie genügend Einkommen haben und
aus diesem Grund nicht arbeiten müssten. Und für diese Leute wird es
immer genug Arbeit geben, sie erfinden sich die Arbeit selbst - für
die ist Arbeit Selbstzweck und hat mit dem Einkommen tatsächlich
überhaupt nichts zu tun.

Das Grundeinkommen nach dem Muster von Götz Werner oder nach dem
Bandbreitenmodell (beide setzen übrigens den Verlust der Arbeitsplätze
nicht voraus, sondern bieten lediglich eine Lösung auch für diesen
Fall) würde eine neue Gesellschaft ermöglichen - jeder könnte
gewissermaßen jederzeit Rentner sein. Ob dieser Wandel positiv wäre
oder negativ, ist schwer zu beurteilen. Wer an den Menschen glaubt wie
Götz Werner, wird sich einen solchen Wandel positiv denken - ob es so
werden wird, wird man erst wissen, wenn das Experiment läuft. Es gibt
ja viele Leute, die den Menschen für grundsätzlich schlecht halten und
immer davon ausgehen, dass jeglicher Umstand missbraucht wird. Wer hat
recht? Für beide Sichtweisen gibt es gute Argumente und vor allem
viele Beispiele.

Eines ist aber klar: Ein solches Experiment wäre historisch neu und
einmalig. Sklaven- und Ausbeutergesellschaften hat es in der
Geschichte immer gegeben, soweit wir das überblicken können, aber
irgendwie kann uns keine davon überzeugen, vielleicht gerade weil wir
selbst ebenfalls in einer Ausbeutergesellschaft leben.

Wie überzeugt man die Ausbeuter? Vermutlich gar nicht, und deshalb ist
diese ganze Diskussion höchstwahrscheinlich fruchtlos. Der Gang der
Geschichte wird dadurch nicht beeinflusst; nach Marx hätte der
Kapitalismus schon längst an inneren Widersprüchen zugrunde gehen
müssen. Aber bisher haben die Mächtigen es immer verstanden, oben zu
bleiben, solange man sie nicht einen Kopf kürzer gemacht hat. Und so
etwas will ja heute, insbesondere nach den Erfahrungen des Dritten
Reichs und der Stalinschen Säuberungen, niemand wiederholen, zumal
solche Barbareien nie etwas gebracht haben, sondern im Gegenteil
Hypotheken für die Zukunft waren. Wie sollte sich da etwas ändern?
Zumal diejenigen, die meinen, dass sich etwas ändern müsste (also
unter anderem wir), untereinander heillos zerstritten sind.

Die Frage, ob die Arbeit ausgeht, ist daher wirklich nebensächlich.
Viel wichtiger finde ich die Frage, wie man einen solchen Wandel, wenn
überhaupt, einleiten könnte. Revolutionen, das können wir aus der
Geschichte entnehmen, verbessern in der Regel nichts, im Gegenteil
wird meist hinterher alles noch viel schlimmer. Permanente Reformen,
so haben wir gelernt, verschlimmern die Verhältnisse in der Regel
ebenfalls. Wie können wir da hoffen, dass eine Wendung zum Guten
überhaupt möglich ist?

Das Bandbreitenmodell hat mich fasziniert, weil es eine einfache
Lösung für diese Frage bietet. Durch eine simple Steuerreform, die in
kürzester Zeit durchgeführt werden kann und niemanden beunruhigen
muss, wird die gesamte Dynamik der Gesellschaft umgedreht. Dabei
handelt es sich um eine wirkliche Revolution, eine so durchgreifende,
wie es sie in den letzten tausenden von Jahren nicht gegeben hat, aber
um eine, die kein Blutvergießen erfordert, bei der niemand leidet,
sondern alle profitieren. Es klingt zu gut, um wahr zu sein, man reibt
sich die Augen und glaubt zu träumen, man sucht den wunden Punkt, die
faulende Schwachstelle, den dummen Denkfehler, aber man findet ihn
nicht. Das System hält der Kritik stand. Langsam hält man es für
möglich, dass es sich dabei um eine geniale Idee handeln könnte,
gewissermaßen den Stein der Weisen, den Archimedischen Punkt. An einer
einzigen Stelle kurz und behutsam ansetzen und mit minimalem Aufwand
den Stein ins Rollen bringen, die rollende Kugel mit einem sanften
Stoß wie beim Billard in die richtige Richtung lenken - das ist das
passende Bild.

Demgegenüber erscheinen alle anderen Pläne schwierig bis verworren,
also nicht durchsetzungsfähig. Das Bandbreitenmodell hingegen ist
einfach zu verstehen und einfach durchzusetzen. Es leuchtet ein und
löst alle Probleme. Ich habe deshalb nicht verstanden, warum sich alle
Leute so schrecklich wehren, wenn ich ihnen vom Bandbreitenmodell
erzählt habe. Sind wir alle schon so enttäuscht von falschen
Versprechungen, dass wir Hoffnungsbotschaften aus Selbstschutz
grundsätzlich abwehren müssen?

Auch dafür ist vielleicht der Kommunismus verantwortlich, auf den
Generationen alle Hoffnungen gesetzt haben. Die Intellektuellen des
letzten Jahrhunderts mussten links sein, und die Erschütterung, wenn
sie zur Kenntnis nehmen mussten, dass der real existierende
Kommunismus schrecklicher war als alles, was sie für möglich gehalten
hatten, insbesondere das, wogegen sie kämpften, dass Kommunisten
Kommunisten vernichteten, dass sich die Kommunisten schlimmer
aufführten als die, die sie beseitigt hatten, war gewaltig, und manche
waren nicht in der Lage, das zur Kenntnis zu nehmen, ohne sich selbst
aufzugeben. ( Eine sehr schöne Schilderung eines Zeitgenossen findet
sich hier:
http://leserli.tumblr.com/post/7569841935/stalinismus-es-kischt )

Wenn man nicht einmal mehr Hoffnungen haben kann, was bleibt dann?

Das Bandbreitenmodell hat jedoch ebenfalls keine Chance, wenn es keine
Begeisterung wecken kann, wenn es keine Anhänger findet, wenn eine
Durchsetzung unmöglich erscheint. So gesehen wäre dann jeder Einsatz
für das Grundeinkommen in welcher Form auch immer reine
Energieverschwendung. Ich müsste mich ermahnen, meine Energie und
Lebenszeit sinnvoller einzusetzen.

Mit freundlichen Grüßen
Werner Popken

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