[Debatte-Grundeinkommen] Freiheit

Dr. Gero Jenner info at gerojenner.com
Mi Nov 16 09:33:49 CET 2011


Freiheit und Wunder – das allzu lange verschüttete Weltbild der Wissenschaften

von Gero Jenner (14.11.2011; aktualisiertes Original mit Kursiv- und Fettdruck unter:
http://www.gerojenner.com/portal/gerojenner.com/Freiheit_und_Wunder.html)

Teil I: vierhundert Jahre Dogma und Selbstverleugnung
Seit dem 17. Jahrhundert scheint sich Wissenschaft kein anderes Ziel zu setzen als das der Entzauberung und Enträtselung. In hartem Kampf gegen die Kirche hat sie das Wunder mit dem Stahlbesen aus der Natur getrieben. „Es geht alles mit ganz natürlichen Dingen zu“ – das ist der Slogan, der uns in den Ohren dröhnt. Die Natur wurde sterilisiert, das Geheimnis sollte und durfte in ihr keinen Platz einnehmen. An dieser Entzauberung hat sich die Philosophie machtvoll beteiligt. So heißt es etwa bei Leibniz (1646 - 1716): „dass alles durch ein festgestelltes Verhängnis herfürgebracht werde ist ebenso gewiss, als drei mal drei neun ist. Denn das Verhängnis besteht darin, dass alles aneinander hänget wie eine Kette, und ebenso ohnfehlbar geschehen wird, ehe es geschehen, als ohnfehlbar es geschehen ist, wenn es geschehen... so gar, dass wenn einer eine genugsame Insicht in die inneren Teile der Dinge haben könnte, und dabei Gedächtnis und Verstand genug hätte, um alle Umstände vorzunehmen und in Rechnung zu bringen, würde er ein Prophet sein, und in dem Gegenwärtigen das Zukünftige sehen, gleichsam als in einem Spiegel“.

Mit anderen Worten, die Natur ist im Prinzip – „wenn nur einer Gedächtnis und Verstand genug hätte“ - eine durch und durch berechenbare Maschine, ein Uhrwerk, wo alles nach unverbrüchlichen, ewigen Gesetzen geschieht. Drei Jahrhunderte später finden wir bei einem Denker von vergleichbarer Statur, bei dem großen Mathematiker und Philosophen Bertrand Russell (1872 - 1970), denselben Gedanken nur in eine etwas modernere Form gegossen: „Man geht davon aus, dass die Materie aus Elektronen und Protonen besteht, die von endlicher Größe sind und von denen es nur eine endliche Zahl in der Welt gibt... Die Gesetze dieser Änderungen lassen sich anscheinend in einer kleinen Zahl sehr allgemeiner Prinzipien zusammenfassen, welche die Vergangenheit und Zukunft der Welt determinieren, sobald irgendein kleiner Ausschnitt des Weltgeschehens bekannt ist“. Kein Geringerer als Albert Einstein hat diese Überzeugung auf die kürzeste jemals für die Welt als Uhrwerk gefundene Formel gebracht. Einsteins Diktum lautet in aller Knappheit: „Gott würfelt nicht“. Mit anderen Worten: Gott hat eine Maschine erfunden, die nach Gesetzen funktioniert und wo Freiheit – der Würfel – keinen Platz haben kann.

Einstein hat sich darin als begeisterter Schüler des Philosophen Baruch Spinoza (1632 - 1677) erwiesen - auch für diesen hat es in der gesamten Natur nicht den Funken von Freiheit gegeben. Wenn wir von Zufall sprächen, würden wir damit allein die Tatsache ausdrücken, dass wir bestehende Notwendigkeiten noch nicht als solche durchschauen. „Nachdem ich hier sonnenklar gezeigt habe, dass es ganz und gar nichts in den Dingen gibt, weswegen sie zufällig heißen dürften, will ich jetzt mit ein paar Wörtern auseinandersetzen, was wir unter zufällig zu verstehen haben... /zufällig/ heißt ein Ding... allein im Hinblick auf einen Mangel unserer Erkenntnis und sonst aus keiner anderen Ursache.“

Freiheit und Wunder? Wo sind diese im heutigen Weltbild der Wissenschaften zu finden? Haben diese nicht alles, was daran erinnern könnte mit herrischer Vernunft aus der Natur hinausgetrieben? Ist die Natur unter ihrem analytischen Griff nicht zu einem toten Gehäuse geworden, entleert von allem Geheimnis und letztlich vom Leben, weil Natur nicht mehr als bloße Mechanik sei - von Physikern, Biogenetikern, Chemikern usw. restlos in ihre abstrakten Grundelemente zerlegt?

Die kurzlebige Erschütterung durch die Quantenphysik

Vor einem Jahrhundert sah es zeitweilig anders aus. Die in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts zu plötzlicher Prominenz aufgerückte Quantenphysik schien dem Ehrgeiz der totalen Enträtselung Einhalt zu gebieten. Der Nobelpreisträger Werner Heisenberg (1901 - 1976) wies das bis dahin geltende Grundprinzip der klassischen Physik zurück, wonach man jeder bestimmten Wirkung auch eine ganz bestimmte Ursache zurechnen könne. Eine Wirkung wie der Zerfall eines bestimmten Atoms besaß nur noch eine numerisch präzisierbare Tendenz auf bestimmte Anfangsbedingungen zu folgen. Heisenberg drückt das auf folgende Weise aus. „Zum Beispiel kann ein Radiumatom ein Alpha-Teilchen aussenden. Wenn die Aussendung des Alpha-Teilchens beobachtet wird, so fragen die Physiker ...nicht mehr nach einem vorausgehenden Vorgang... Logisch wäre es durchaus möglich, nach einem solchen... Vorgang zu suchen... Warum hat sich nun die wissenschaftliche Methode... in dieser sehr grundlegenden Frage geändert? ... Wenn wir den Grund dafür wissen wollen, warum das Alpha-Teilchen eben in diesem Augenblick emittiert wurde, so müssten wir dazu den mikroskopischen Zustand der ganzen Welt, zu der auch wir selbst gehören, kennen, und das ist sicher unmöglich.“

Man beachte, der Determinismus – die mechanistische Sicht auf Mensch und Natur – ist auch bei Heisenberg keineswegs aufgegeben. Er weicht nur einer vorsichtigeren Formulierung. Wir können den mikroskopischen Zustand der ganzen Welt unmöglich kennen. Nur weil uns solche Allwissenheit für immer versagt bleibt, werden wir die Mechanik des uns umgebenden Geschehens nie ganz entschlüsseln können. Würden wir jedoch nach Art einer unendlichen Intelligenz den gesamten Zustand der Welt vor Augen haben, dann dürften wir immer noch mit Einstein behaupten, dass Gott auch im Allerkleinsten nicht würfelt. Denn Gott würde wissen, warum ein bestimmtes Atom gerade jetzt zerfällt. Aus Heisenbergs philosophischen Bemerkungen zur Quantenphysik lässt sich keineswegs folgern, dass die moderne Physik der Natur die verlorene Freiheit zurückgegeben hätte. Eine derartige Rolle haben ihr nur Enthusiasten angedichtet, zu denen etwa Fritjof Capra gehört. Er und andere Vertreter des New Age schwärmten vom „Tao der Physik“: einem Weltbild der Freiheit, das sie aus der Quantenphysik ableiten wollten. Von solchen Bemühungen ist inzwischen kaum mehr die Rede. Obwohl die praktische Bedeutung der Quantenphysik in den vergangenen Jahrzehnten mit jedem Tag größer wurde, ist es um ihre vermeintlich revolutionären Auswirkungen auf unsere Weltsicht recht still geworden. Die Quantenphysik hat die Welt nur noch weiter enträtselt – das Geheimnis hat sie ihr nicht zurückgegeben.

Bleibt der Mensch als Refugium der Freiheit?

Nun, das war jetzt ein rasender Höhenflug über vierhundert Jahre Geschichte der wissenschaftlichen Natursicht. Wer aus solcher Entfernung nach unten schaut, sieht nichts mehr von Hügeln und Tälern. Die aber waren natürlich immer vorhanden. Deutsche Romantik und philosophischer Idealismus, Vitalismus und nicht zuletzt der Existenzialismus haben gegen das später so genannte „mechanistische Weltbild“ mit aller Kraft protestiert. Sie haben es hinterfragt, zu widerlegen oder mindestens zu relativieren versucht. Es bleibt aber die Frage, was von ihren Bemühungen übrig blieb? So gut wie nichts, muss man wohl sagen, wenn man sie im Hinblick auf ihre Nachhaltigkeit bewertet. Nach wie vor gehen die Naturwissenschaften davon aus, dass die Welt eine Maschine sei, die sie in ständig fortschreitendem Maße enträtseln. Ihr Erfolg, so wie er sich in der siegreichen wissenschaftlich-technischen Zivilisation unserer Zeit manifestiert, scheint ihnen recht zu geben.

Muss der Leser nicht umso mehr über den seltsamen Titel erstaunen? Freiheit und Wunder? Ja, wo findet man diese im Weltbild der Wissenschaften?

Oder sind hier etwa die Geisteswissenschaften gemeint? Diese haben es bekanntlich mit dem Menschen zu tun; Physik, Chemie, Astronomie, Atomphysik usw. dagegen ausschließlich mit der nicht-menschlichen Natur. Die empirischen Naturwissenschaften haben die Freiheit aus der Welt als Uhrwerk eskamotiert, aber läuft das zwangsläufig darauf hinaus, dass sie nun auch im Menschen keinen Platz mehr findet? Ist es den Wissenschaften vom Menschen gelungen, das tote Uhrwerk der Natur wieder mit Leben und Freiheit aufzufüllen?

In der frühesten Form seiner Wissenschaft von Mensch und Natur - zu der wir die verschiedenen Spielarten der Religion rechnen können - hat der Mensch vorzugsweise sich selbst eine Stellung an der Spitze der Schöpfung vorbehalten. Er hat sich über die Natur gestellt, wollte mehr und etwas Höheres sein als diese. Warum sollte er nicht Geheimnis, Spontaneität und Kreativität – die Attribute der Freiheit - für sich selbst reservieren, während er die Dinge der ihn umgebenden Natur dem Zwang der Gesetze ausliefert?

Auf diese Frage hat der brillante Spötter Voltaire (1794 - 1878) eine für die Folgezeit autoritative Antwort gegeben: „Es wäre schon recht erstaunlich“, schrieb der französische Aufklärer, „wenn alle Sterne ewiger Gesetzhaftigkeit unterliegen, während nur ein unscheinbares Tier von fünf Fuß Größe sich nach Belieben ihnen widersetzen darf, gerade wie seine Launen es ihm gebieten. Dann würde es dem Zufall gehorchen, aber man weiß, dass der Zufall ein Nichts ist. Dieses Wort haben wir erfunden, um die bekannte Wirkung für eine nicht bekannte Ursache zu bezeichnen.“ In diesem Diktum spiegelt Voltaire die Auffassung der Wissenschaften, wonach die Natur eine Einheit sei. Wäre es nicht unsinnig, sie in zwei Hälften zu zerlegen, so als würden die Gesetze der einen Hälfte nicht für die andere gelten? Das entspräche einem vorwissenschaftlichen Weltbild. Bertrand Russell, der sich auch hier auf den in der Wissenschaft vorherrschenden Standpunkt stellt, bleibt zwei Jahrhunderte später ganz auf der Linie des großen Franzosen. „Wir wissen nicht, auf welche Weise sie /die Einzeller/ sich am Anfang entwickelten, aber ihre Entstehung ist nicht geheimnisvoller als die der Heliumatome. Es gibt keinen Grund für die Vermutung, dass die lebende Materie Gesetzen unterworfen ist die verschieden von denen sind, welchen die nicht-lebende gehorcht. Und es gibt gute Gründe anzunehmen, dass theoretisch alles im Verhalten der lebenden Wesen in den Begriffen der Physik und der Chemie erklärt werden kann.“

Bei Heidegger wird die Natur in zwei Hälften zerrissen

Ungefähr zu derselben Zeit, als Russell dieses Statement abgab, hat ein existenzialistischer Denker, Martin Heidegger, das darin formulierte Weltbild gewaltsam durchbrochen. Er tat dies allerdings nicht wie der englische Philosoph in der Tradition rationalen Denkens, sondern indem er sich von diesem losriss und einfach einen Ukas erließ. Der Mensch sollte frei sein. Dem Verdikt der Wissenschaften stellt der deutsche Prophet sein Credo entgegen. Der Mensch entwerfe sich selber, kraft seiner Freiheit löse er sich aus den Zwängen der Natur, er überwinde sie durch seine Selbstbestimmung. Wohlgemerkt, nur der Mensch. Die Natur bleibt von dieser dekretierten Befreiung ausgenommen. Auch bei Heidegger bleibt sie, was sie für die Wissenschaft ist: ein sinnloses, mechanisches, im Prinzip nach Belieben manipulierbares Gegenüber. Heideggers Welt ist gespalten in eine unfreie Natur, die den Gesetzen verfallen ist, und einen freien Menschen, der sich in diese sinnlose Gesetzesmaschinerie geworfen findet. So geraten wir unversehens in ein vorwissenschaftliches Weltbild zurück. Während die Naturwissenschaften die Welt als unteilbares Ganzes sehen – ihre Gesetze gelten gleichermaßen für Steine, Wolken und lebende Wesen -, reißt Heidegger sie mit Gewalt auseinander. Hier die toten Dinge der Welt als Maschine und Uhrwerk, dort der heillos einsame Mensch, der als einziger die Freiheit zur Selbstbestimmung besitzt.

Das war – sieht man von der New-Age-Bewegung einmal ab - der bisher letzte Ausbruchsversuch aus dem „mechanistischen Weltbild“. Die Naturwissenschaften selbst haben davon so wenig Notiz genommen wie von der machtvollen Esoterikwelle, die seit Jahrzehnten rund um den Globus schwappt. Welch ein schroffer Gegensatz! Während überall auf der Welt Mathematiker, Ingenieure, Atomphysiker und Astronomen mit Formeln hantieren, um die Natur auf ein verlässliches Regelmaß zu reduzieren, besiedeln Esoteriker in heftiger Geschäftigkeit die kahle Maschinerie eines entzauberten Alls mit selbsterschaffenen Geistern, Gespenstern, Feen, Sandmännern und Dämonen. Dazu bedienen sie sich aller Versatzstücke, die sie aus dem kulturellen Nachlass sämtlicher Weltkulturen von der Edda bis zum tibetanischen Totenbuch schöpfen. Während die einen unablässig entzaubern, sind die anderen mit künstlicher Verzauberung beschäftigt. Verzweifelt und mit zweifelhaften Mitteln bemühen sie sich, einer unter den Händen der Wissenschaftler zum mechanischen Spielzeug erstarrten Welt Leben und Atem einzuhauchen.

Teil II. Die Wissenschaften selbst beschwören Freiheit und Wunder

Wissenschaftler pflegen darüber den Kopf zu schütteln. Sie hören auf Beweise, aber sie ignorieren bloße Behauptungen. Und darin haben sie zweifellos recht: Ihr ganzer inzwischen vierhundertjähriger Erfolg beruht auf dieser Methode. Sämtliche Errungenschaften der modernen Technik, angefangen von der Dampfmaschine bis zum Computer setzen die sorgfältige Beobachtung der Natur voraus. Sie beruhen auf der Erkundung ihrer verborgenen Ordnung: auf Beweisen für geltende Gesetze und der Zurückweisung bloßer Behauptungen. Wer Natur und Mensch anders sieht als die Wissenschaft, muss dafür unwiderlegbare Gründe vorbringen. Andernfalls wird er im günstigsten Fall ignoriert, schlimmstenfalls rechnet man ihn voller Hohn dem Lager der Phantasten und Spinner zu, die uns die Wirklichkeit nicht erklären, sondern sie stattdessen mit ihren zerebralen Ausgeburten bevölkern. Beweis und bloße Behauptung sind für den Wissenschaftler nicht weniger weit voneinander entfernt als das moderne Zeitalter der Wissenschaften von der Vergangenheit einer Jahrtausende lang bloß fabulierenden Menschheit.

Die vorangehenden Zeilen mag der Leser als Einleitung betrachten, um ihn auf die im Titel ausgesprochene Ankündigung vorzubereiten. Ja, die Wissenschaften wollten vier Jahrhunderte lang das Leben auf Physik und Chemie reduzieren, die Freiheit aus der Natur vertreiben. Ihre philosophischen Wortführer von Spinoza über Leibniz bis hin zu Bertrand Russell glaubten, die Natur entzaubert, sie zur bloßen Maschine gemacht zu haben. Doch sie haben sich auf eine merkwürdige, in der Geistesgeschichte wohl einzigartige Weise geirrt. In Wahrheit ist Natur unter ihren Händen zum großen Geheimnis geworden. Ohne es selbst zu bemerken - ja, sich absichtlich gegen diese Einsicht sträubend - zeigen sie uns eine Natur, die ohne Freiheit prinzipiell nicht einmal denkbar ist. Und diese Befreiung der Natur führen die empirischen Wissenschaften nicht etwa beiläufig oder auf eine Weise herbei, über die man sich streiten könnte, sondern aufgrund ihres alltäglichen Vorgehens, nämlich durch die Methode des wissenschaftlichen Experiments. Mit dieser zeigen sie logisch zwingend, dass Gesetzhaftigkeit für sie nur eine Dimension des Wirklichen bildet, Freiheit aber dessen zweite fundamentale Kategorie - und zwar nicht allein die Freiheit des Menschen, sondern die der gesamten Natur. Damit widersprechen sie – wenn auch bisher ohne sich dessen bewusst zu sein - einer vierhundertjährigen Verleugnung der Freiheit.

Kein Experiment ohne die Voraussetzung der Freiheit

Die Wissenschaften der Natur zeigen Regelmäßigkeiten des uns umgehenden Geschehens auf. Diese beschreiben sie als Gesetze. So stellen sie etwa fest, dass Wasser unter normalen atmosphärischen Bedingungen stets bei hundert Grad Celsius aus dem flüssigen in den gasförmigen Zustand übergeht, oder sie beschreiben mit mathematischer Exaktheit die parabelartige Flugbahn einer abgeschossenen Kanonenkugel. Über ihre gesamte Dauer lassen sich derartige Geschehnisse gesetzmäßig beschreiben: unter gleichen Bedingungen zeigt der Verlauf in seinen einzelnen Stadien immer dieselbe Entwicklung. Die fortschreitende Erkundung derartiger gesetzhafter Gleichförmigkeiten hat Wissenschaft und Philosophie zu den vorher zitierten theoretischen Stellungnahmen geführt und dem sich daraus ergebenden Weltbild. Doch das ist nicht alles. Die Wissenschaft musste zur gleichen Zeit darauf bestehen – denn dadurch verbürgte sie die Wahrheit dieser Gesetze - dass die entsprechenden Geschehnisse jederzeit im Experiment überprüfbar seien. Mit anderen Worten, die empirische Wissenschaft behauptete nicht nur die Existenz gesetzhafter Abläufe, sondern sie musste zur gleichen Zeit darauf bestehen, dass diese Abläufe an beliebigen Orten zu beliebiger Zeit wiederholbar seien.

Mit diesem zweiten Teil ihrer Aussage über die Wirklichkeit stellt die Naturwissenschaft eine Bedingung auf, die der Notwendigkeit radikal widerspricht. Während die Kugel, einmal abgeschossen, sklavisch der Parabel und der von ihr beschriebenen Notwendigkeit folgt, gibt es für den Abschuss selbst, d.h. für den Beginn, keine Formel, keine Notwendigkeit, kein Gesetz – all dies kann es nicht geben, denn dieser Abschuss soll ja - so das Postulat der Wissenschaft - der Möglichkeit nach überall und zu jeder Zeit möglich sein. Der gesetzhafte Verlauf – die genau festgelegte Bahn einer abgeschossenen Kugel – und der willkürliche Beginn dieses Ereignisses, gehören zwei grundsätzlich unterschiedenen Dimensionen des Wirklichen an. Nur weil der Anfang des Verlaufes in völliger Freiheit erfolgt und erfolgen soll, ist es überhaupt möglich, dass die Wissenschaft Gesetze durch das Experiment zu beweisen (bzw. durch dessen Misslingen zu falsifizieren) vermag. Würde - wie Philosophen und Wissenschaftler von Spinoza über Leibniz bis zu Bertrand Russell unisono behauptet haben - alles Geschehen ausschließlich der Notwendigkeit gehorchen, so ließe sich keines der von ihr gefundenen Gesetze durch das Experiment beweisen, denn jedes regelmäßige Geschehen - wie etwa der Abschuss einer Kugel - wäre ja seinerseits das notwendige und damit gesetzmäßige Ergebnis eines vorangehenden Geschehens. So wie wir die Flugbahn der Kugel mathematisch genau beschreiben könnten, müsste es gleichfalls Gesetze geben, die genau vorauszusagen erlauben, warum nur eine Person soundso an dem Ort und zu jener bestimmten Zeit eine Kanonenkugel abschießt. Das aber wäre das Ende für das Selbstverständnis der empirischen Wissenschaften. Denn für diese ist ja – um es noch einmal zu sagen - gerade die Behauptung grundlegend, wonach jedermann zu jeder Zeit das Experiment willkürlich auslösen kann.

Damit leugnet die Wissenschaft in ihrem praktischen Vorgehen, was sie theoretisch als Dogma verficht: Sie leugnet mit aller Entschiedenheit und prinzipiell eine durchgängige Gesetzhaftigkeit der Natur. Und diese Leugnung vollzieht sie nicht etwa auf der oberflächlichen Ebene des Experiments, dessen Ergebnisse durch einen späteren Versuch immer noch annulliert (falsifiziert) werden könnten, sondern auf eine weit tieferen und in der Tat fundamentalen Ebene, nämlich in ihren Voraussetzungen.

Die Wissenschaften von der Natur setzen Freiheit aber nicht allein für den Menschen voraus, der als Experimentator jederzeit aufgrund seines Wollens eine neue Kette gesetzmäßiger oder zufälliger Ereignisse lostreten kann. Sie befreien nicht nur den Menschen, sondern zwangsläufig auch die Natur. Die von Spinoza bis Heisenberg geltende Auffassung, wonach alle Geschehnisse eine Kette von Zeitpunkten bilden, wo jeweils der spätere Punkt mit Notwendigkeit auf den jeweils früheren folgt (auch wenn das nur eine vollkommene Intelligenz zu erkennen vermag), wird durch die genannte Voraussetzung ad absurdum geführt. Der Mensch würde in diese Kette nicht nach Belieben eingreifen können, wenn es nicht überall Punkte gäbe, die zwar zeitlich aufeinander folgen, aber ohne Notwendigkeit - eine andere Abfolge ist jederzeit möglich. Um es in einem Bild auszudrücken: Das Gewebe der Notwendigkeiten, die wir als Gesetze beschreiben, ist mit Lücken übersät, in die der Mensch eingreifen kann. Nur deswegen kann er seine Umwelt nach eigenen Vorstellungen auf tausenderlei Weise gestalten. Es muss sich nach den Vorgaben bestehender Gesetze richten, aber auf unendliche Art kann er diese für seine Zwecke benutzen.

Naturwissenschaften und Philosophen in ihrem Gefolge haben die Freiheit dogmatisch geleugnet. Warum sie dies taten, lässt sich unschwer begreifen. Wenn man Natur mit ihren Mitteln erklären will, setzt man die Existenz von Gesetzen voraus, will man die Natur restlos erklären, darf es in ihr ausschließlich Gesetze geben - die Anerkennung von Freiheit hätte der Erklärung von vornherein unüberwindbare Grenzen gesetzt. In diesem Sinne war die Verbannung der Freiheit aus der Natur nichts anderes als ein Machtspruch der siegreichen Wissenschaften: Seit dem 17. Jahrhundert melden diese den Anspruch auf totale Erklärung und Enträtselung an. Sie mussten daher darauf dringen, dass kein Phänomen der Natur sich der Gesetzhaftigkeit entziehe. Schon David Hume, der große englische Skeptiker, hatte Bedenken angemeldet. Wenn ein Ereignis auf ein anderes folge, könnten wir, streng genommen, nie von einer Notwendigkeit sprechen, da wir immer nur eine endliche Zahl von Vorfällen kennen. Karl Popper verwies das Kausalitätsprinzip überhaupt in das Reich der Metaphysik, also des prinzipiell Unbeweisbaren.

Doch beide Denker sind mit ihrer Kritik nicht weit genug gegangen. Denn die Annahme einer durchgängigen Gesetzhaftigkeit der Natur ist nachweisbar falsch. Sie ist nicht nur falsch, weil der Mensch nie so allwissend sein wird wie der Dämon von Laplace oder ein Quantenphysiker, der nicht darauf hoffen darf, jemals den mikroskopischen Zustand der Welt zu kennen. Sie ist falsch, weil sie das logische Fundament der Naturwissenschaften zerstört. Man kann nicht von der beliebigen – also durch keine Gesetzmäßigkeit bedingten - Wiederholbarkeit gesetzhafter Geschehen im Experiment ausgehen und zur gleichen Zeit die durchgehende Gesetzhaftigkeit der Natur postulieren. Das eine Mal wird eine Welt der Freiheit, das andere Mal eine Welt der Notwendigkeit postuliert. Wissenschaft ist erst in dem Augenblick widerspruchsfrei, wo sie beide Dimensionen als Voraussetzung ihrer eigenen Methode und Weltsicht anerkennt: die Notwendigkeit undund die Freiheit.

Teil III: Das Wunder und die Lücken im Gewebe der Notwendigkeiten

Meines Wissens begegnen wir dieser Einsicht weder in den Naturwissenschaften noch bei jenen Philosophen, die sich um deren Deutung bemühten. Dagegen hat sie ein Dichter in genialer Intuition auf den Punkt gebracht. „Der Mensch…, sagt Friedrich Schiller, „hat… das Vorrecht, in den Ring der Notwendigkeit… durch seinen Willen zu greifen und eine ganz frische Reihe von Erscheinungen in sich selbst anzufangen. Der Akt, durch den er dieses wirkt, heißt… eine Handlung, und diejenigen seiner Verrichtungen, die aus einer solchen Handlung herfließen,… seine Taten.“ Sieht man bei diesem Text davon ab, dass die Freiheit in der Natur zu eng gefasst wird, weil sie sich nur auf den Menschen und sein Handeln bezieht, so spricht Schiller hier eine Wahrheit aus, die dreihundert Jahre lang beflissen unterdrückt worden ist.

Was geschieht bei solchen Eingriffen in den „Ring der Notwendigkeit“? Zum Beispiel stößt dann ein Mensch einen auf der Kippe stehenden Stein mit leichtem Fingerdruck in die Tiefe und löst damit einen gesetzmäßigen Vorgang der Fallbeschleunigung aus. Subjektiv erleben wir das als einen Akt unserer Freiheit, denn es bleibt uns überlassen, ein solches Geschehen willkürlich auszulösen oder auch nicht. Bringt dagegen ein Beben oder ein Windstoß die gleiche Wirkung hervor, so bezeichnen wir das identische Ereignis mit dem abwertenden Begriff des Zufalls. Doch liegt der Unterschied wohl nur darin, dass wir im einen Fall eine Innensicht auf die Freiheit in der Natur besitzen, die uns als eigener Antrieb sinnvoll und selbstverständlich erscheint, während im anderen das Ereignis für uns kein Sinn ergibt und wir deswegen von bloßem Zufall sprechen.

Die empirischen Wissenschaften wollten die Welt entzaubern, in Wahrheit haben sie Zauber und Freiheit als gleichberechtigte Dimension in die Wirklichkeit eingeführt oder, anders gesagt, diese in Wahrheit nie wirklich aus ihr vertrieben. Das geht so weit, dass selbst das Wunder ihren Voraussetzungen keineswegs widerspricht. Die Naturwissenschaften gehen davon aus, dass menschliches Wollen Gesetzmäßigkeiten im Experiment jederzeit abspulen lassen kann - sie lassen diese Gesetzmäßigkeiten also auf einem Sockel von Freiheit ruhen. Durch diese Einbeziehung von Freiheit nehmen sie der Natur den größten Teil ihrer Berechenbarkeit. Unzählige Wesen – nicht nur Menschen - können jederzeit kraft ihrer Freiheit unzählige gesetzmäßige Vorgänge auslösen (oder auch nicht auslösen) – wie dies ja nicht nur in Tausenden von Laboren überall in der Welt geschieht, sondern mit jedem Akt, den wir täglich verrichten, sei es auch nur, indem wir eine Beleuchtung ein- oder ausschalten. Je nachdem, was diese Wesen tatsächlich tun oder nicht tun, entstehen unbegrenzt viele alternative und freie Ereigniswelten, die dennoch in jedem Fall den gleichen Naturgesetzen gehorchen.

Nehmen wir an, dass auch die Eingriffe eines übermenschlichen Wesens zu diesem Sockel der Freiheit gehören, so könnte die Welt wesentlich durch dessen Eingreifen geformt und bestimmt sein, doch würden wir dies nicht einmal bemerken, weil ja kein uns bekanntes Naturgesetz dadurch verletzt wird. Das übermenschliche Wollen würde sich die Lücken im Gewebe der Notwendigkeiten zunutze machen, die Punkte also, auf welche die Freiheit zugreifen kann.

Mit diesem Abschluss will ich nicht der metaphysischen Spekulation oder gar dem Obskurantismus Vorschub leisten; ich möchte nur zeigen, dass wir diese Möglichkeit in einem Universum, dessen gleichberechtigte Dimension neben der Notwendigkeit die Freiheit ist, nicht grundsätzlich ausschließen dürfen. Das Wunder besteht in der Vielzahl möglicher Welten, die wir alle für ganz normal halten würden.

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