[Debatte-Grundeinkommen] Weg mit dem "offenen Strafvollzug Hartz IV" - Novum im Deutschen Bundestag!

Werner Popken Werner at Stuerenburg.com
Mo Mai 30 21:08:55 CEST 2011


Lieber Martin,

Martin Brucks schrieb am Montag, 30. Mai 2011, 19:36:07:
> ich habe mich ja zunächst geschmeichelt gefühlt, dass du mir so
> ausführlich geantwortet hast - aber das hast du ja jedem.

ich wollte Dir nicht schmeicheln, sondern Dich und Deinen Beitrag
würdigen. Wenn ich anderen ebenfalls ausführlich antworte, schmälert
das meine Würdigung Deines Beitrags keineswegs.

> Überraschanderweise stellst du in einer nicht erwarteten Intensität die
> Frage nach dem Sinn des Lebens was ich sehr spannend finde, gleichzeitig
> aber auch völlig überflüssig. [...]

Na klar, Gott ist tot, schon ziemlich lange, aber das ändert nichts an
der Tatsache, daß wir - jedenfalls soweit wir das beurteilen können -
die einzigen Lebewesen sind, die beispielsweise ein Gefühl für
Schönheit haben. Schönheit, was ist das? Liebe, was ist das? Trauer,
was ist das? Freundschaft, Ehre, Wahrhaftigkeit, Wahrheit, Logik,
Witz, Humor - das sind alles Eigenschaften und Fähigkeiten, die Tieren
vielleicht nicht ganz abgehen, aber im Menschen zur Blüte kommen.

Wir werden da sicher noch Überraschungen erleben, und man kann mit Fug
und Recht behaupten, daß gewisse Vögel in Australien durchaus ein
Gefühl für Schönheit haben und daß dieses Gefühl auch mit den
Darwinschen Prinzipien zu tun hat, da das Weibchen entscheidet, welche
Brautgeschenke es bevorzugt und den betreffenden Schöpfer erwählt,
Vater ihrer Küken zu sein.

Wir würden aber vermutlich doch zu weit gehen, wenn wir annehmen
würden, daß das Vogelweibchen etwas über Vererbung wüsste, denn wir
vermuten mit gutem Recht, daß es selbst bei uns Menschen noch nicht so
lange her ist, daß das Geheimnis der Vaterschaft gelüftet wurde.

Insofern würde ich auch annehmen, das das Gefühl für Schönheit, so es
das Vogelweibchen besitzen sollte, doch ein etwas anderes ist als bei
einem Kunstkenner, der vor einem Rembrandt, Monet, van Gogh, was immer
erschauert, oder einem Musikliebhaber, dem bei Schubert eine Gänsehaut
den Rücken hochkriecht, und das obwohl die Gesänge der Vögel durchaus
Schönheit beanspruchen dürfen, jedenfalls manchmal - aber was wissen
wir über das Schönheitsempfinden der Vögel?

Der Mensch kann eine Menge denken, beispielsweise die Unendlichkeit.
Tiere können zwar auch zählen, und manche sogar erstaunlich weit, aber
jeder Zehnjährige entdeckt innerhalb von 5 Minuten die Unendlichkeit,
wenn man ihm die richtige Frage stellt, nämlich die nach der größten
Zahl. Damit hat er dann zwar nur die abzählbare Unendlichkeit
gefunden, aber die ist schon unglaublich komplex, so dass Autoren wie
Raymond Smullyan höchst interessante Bücher darüber schreiben können
(diese tieferen Erkenntnisse über die Unendlichkeit sind übrigens den
Menschen auch erst seit etwa 120 Jahren bekannt).  

Manche Menschen verwirklichen ihr spezifisches Potenzial noch mehr.
Andere hingegen sind zufrieden, daß sie leben und halten dies für den
Sinn des Lebens, weil angeblich für den Rest der Natur genau dies der
Sinn des Lebens ist: Zu leben und sich zu reproduzieren und zu
sterben.

Möglicherweise unterliegen wir dabei aber einen Irrtum. Was wissen wir
schon über das Bewusstsein eines Vogels?

Solltest Du damit zufrieden sein, einfach nur zu überleben, täte es
mir sehr leid um Dich. Es fällt mir in diesem Zusammenhang Carl Sagan
ein, der nicht müde wurde, die Wunder der Natur und des Universums zu
preisen, der auch die Gefühle zu den nächsten Angehörigen zu würdigen
wusste, jedenfalls diese ins Spiel gebracht hat, um die
Fernsehzuschauer emotional zu fesseln, aber außer seiner Mathematik,
Physik, Chemie, Astronomie hatte er vermutlich nicht viel, was ihn als
Mensch interessierte - was zweifellos schon wesentlich mehr war, als
die meisten Leute erreichen. So verstieg er sich in die Vorstellung,
die Menschen müssten diesen Planeten verlassen und andere Planeten
bevölkern - statt das Paradies auf Erden zu errichten, was vermutlich
sehr viel einfacher sein dürfte, wenn man es wirklich will.

Eine der fundamentalsten Fragen, die Menschen stellen können, ist
zugleich eine der ältesten Fragen: Wo kommen wir her, wir sind wir, wo
gehen wir hin? Diese Fragen werden natürlich nur von Leuten gestellt,
die nicht um das nackte Überleben kämpfen müssen.

> Haben die Menschen erst einmal begriffen, dass Überleben nicht bedeutet
> du oder ich werden sich Alle uns heute vertrauten Dinge rigoros ändern.

Das finde ich sehr optimistisch von Dir! Im Laufe der
Menschheitsgeschichte hat es immer wieder mehr oder weniger große
Gesellschaftsschichten gegeben, die nicht um das Überleben kämpfen
mussten, und nur ganz wenige dieser Gesellschaften haben wirklich
hochstehende Kulturen entwickelt, namentlich die Griechen, auf deren
Kultur die Römer aufbauten und der ganze Westen bis zum heutigen Tage.

In den dazwischenliegenden 2000 Jahren ist nicht viel Nennenswertes
passiert. Es war eine Handvoll Männer, Päderasten vermutlich, die im
Gespräch mit ihren Lieblingen die Grundlagen für unsere Kultur gelegt
haben. Es waren Sklavenhalter, die müßiggehen konnten.

Umgekehrt ist der Müßiggang nicht hinreichend, interessante oder
bedeutende Einsichten zu gewinnen. Er ist noch nicht einmal
hinreichend, glücklich zu werden, so dass manch ein Müßiggänger seinem
Leben ein Ende setzt. Das machen noch nicht einmal die Tiere.

Nicht umsonst hat Pieter Breughel sich das Schlaraffenland als
Gesellschaft von Couchpotatoes vorgestellt, von Leuten, die zu faul
sind, zu denken und zu fühlen und zu kommunizieren, die einfach nur
vor sich hinvegetieren und im Grunde schon tot sind, es nur noch nicht
merken. Insofern würde ich also keine Prognose wagen, was passieren
würde, wenn jedem die gebratenen Tauben nach Wunsch in den Mund
fliegen würden.  

> Das von dir propagierte Bandbreiten Modell hat Reize, der Nachteil ist,
> es wird nur durch Verordnung von oben nach unten funktionieren.
> An diesem Punkt setzen meine Bedenken ein was die Realisierbarkeit angeht.

Das sehe ich anders. Um das Bandbreitenmodell durchzusetzen, müssen
zwei Gesetze eingeführt werden. Jeden Tag werden Gesetze geändert oder
neu eingeführt, das scheint niemanden zu stören.

Von oben heißt: Das Volk wählt, die gewählten Vertreter beschließen
die Gesetze, und der Staat wacht darüber, daß die Gesetze eingehalten
werden. Wo ist hier oben und wo ist unten?

> Der freiwillige Verzicht der Besitzenden auf Besitz, der Vermögenden auf
> Vermögen oder der Mächtigen auf Macht kann nicht erwartet werden - aber
> genau diese Gruppen sind in der Politik aktiv oder nehmen erfolgreich
> Einfluss darauf.
> Das Volk ist schon lange außen vor - (weil es das so will.)

Im Moment haben wir sicher keine Demokratie, da stimme ich Dir zu. Wir
haben aber Wahlgesetze, die sicher auch dann eingehalten werden, wenn
Parteien Erfolg haben, die den jetzigen Strippenziehern nicht
gefallen.

Sollte also eine Partei antreten, die ein Wahlprogramm hat, das die
Mehrheit der wählenden Bevölkerung überzeugt, steht der Einführung
dieser beiden Gesetze gar nichts im Wege. Nichts wäre einfacher als
das. Das Volk wählt - nicht die Strippenzieher.

> Erst ernsthafte Krisen werden das Volk zur Stellungnahme bewegen können,
> dann aber deutlich.
> Und sie werden kommen - die Krisen, einige Nachbarn haben sie schon und
> bei uns sind sie nur vertagt.

Ich halte nichts davon, Krisen auf sich zukommen zu lassen, ohne ein
tragfähiges Konzept zu besitzen. Wie die Geschichte lehrt, kommt dabei
nichts Gutes heraus. Des Volkes Zorn kann zwar gewaltig sein, aber das
Volk ist normalerweise blind und dumm, was die schlechtesten
Voraussetzungen sind, um bessere Verhältnisse herbeizuführen.

Deshalb bin ich sehr dafür, daß man sich beizeiten Gedanken über
Lösungen macht, über ein zukunftsfähiges Konzept, das erkennbar alle
gravierenden Probleme unserer Zeit lösen kann. Wenn dieses Konzept die
Natur des Menschen, der bekanntlich nicht einfach nur gut ist, nicht
mit einbezieht, kann man es vergessen, dann ist es nicht realistisch,
dann ist es nicht wünschenswert, und dann würde es wahrscheinlich bei
Wahlen auch nicht mehrheitsfähig sein.

Wenn man sich so umhört, gibt es jede Menge Ideen, eine abgefahrener
als die andere, aber keine hält den Stresstest aus. Man muß sich nur
mal vorstellen, ob eine solche Idee realisierbar wäre und wie und
wann, um nach wenigen Minuten einzusehen, daß es so nicht geht.

Das Bandbreitenmodell hält jetzt schon seit fünf Jahren jeden
Stresstest aus. Ich warte noch auf den, der zeigt, daß das
Bandbreitenmodell einen fundamentalen Fehler hat und nicht
funktionieren kann.

Ich habe keinen gefunden, aber das will nicht viel heißen; zwar bin
ich nicht ganz dumm, aber von Betriebswirtschaft und Volkswirtschaft
habe ich nicht so sehr viel Ahnung. Da verlasse ich mich dann lieber
auf andere Leute, die mehr davon verstehen, und lasse mich von denen
gerne überzeugen. Zwar haben schon viele Fachleute sich das
Bandbreitenmodell genau angeschaut, aber niemand hat bisher einen
Haken gefunden.  

Bisher hat mich allerdings nur das Bandbreitenmodell überzeugt, das
aber desto mehr, je länger ich mich damit beschäftige.

Mit freundlichen Grüßen
Werner 

-- 
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Martin Brucks schrieb am Montag, 30. Mai 2011, 19:36:07:
> Lieber Werner,

> ich habe mich ja zunächst geschmeichelt gefühlt, dass du mir so
> ausführlich geantwortet hast - aber das hast du ja jedem.

> Überraschanderweise stellst du in einer nicht erwarteten Intensität die
> Frage nach dem Sinn des Lebens was ich sehr spannend finde, gleichzeitig
> aber auch völlig überflüssig.
> Ein Blick in die Natur genügt - der Sinn des Lebens ist das Leben
> selbst, besser noch, das Überleben. Wo immer du hinguckst, jede Spezies
> versucht zu überleben.
> Das Grundeinkommen ist der Kompromiss einer denkenden Gesellschaft an
> ihre Mitglieder, die das Überleben sichert, ohne wie sonst üblich im
> Kampf dafür andere (,erfolglose) hinter sich lassen zu müssen.

> Einmal beschlossen, setzt das Grundeinkommen Mechanismen in Kraft von
> denen wir heute noch garnicht wissen, was sie bewirken werden
> Ich finde es mutig, darauf zu vertrauen, dass sich diese Mechanismen
> positiv für alle auswirken werden.
> Haben die Menschen erst einmal begriffen, dass Überleben nicht bedeutet
> du oder ich werden sich Alle uns heute vertrauten Dinge rigoros ändern.

> Das von dir propagierte Bandbreiten Modell hat Reize, der Nachteil ist,
> es wird nur durch Verordnung von oben nach unten funktionieren.
> An diesem Punkt setzen meine Bedenken ein was die Realisierbarkeit angeht.


> Der freiwillige Verzicht der Besitzenden auf Besitz, der Vermögenden auf
> Vermögen oder der Mächtigen auf Macht kann nicht erwartet werden - aber
> genau diese Gruppen sind in der Politik aktiv oder nehmen erfolgreich
> Einfluss darauf.
> Das Volk ist schon lange außen vor - (weil es das so will.)
> Erst ernsthafte Krisen werden das Volk zur Stellungnahme bewegen können,
> dann aber deutlich.
> Und sie werden kommen - die Krisen, einige Nachbarn haben sie schon und
> bei uns sind sie nur vertagt.


> Beste Grüße

> Martin




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