[Debatte-Grundeinkommen] Krise

Dr. Gero Jenner info at gerojenner.com
Do Dez 15 09:55:12 CET 2011


Wirtschaft ohne Wachstum - warum das gegenwärtige Wirtschaftssystem eine Entwicklung zur Nachhaltigkeit ausschließt

(von Gero Jenner, 16. 12. 2011, aktualisiertes Original unter:
http://www.gerojenner.com/portal/gerojenner.com/Wirtschaft_ohne_Wachstum.html)

Seit der Club of Rome 1972 zum ersten Mal die Folgen eines grenzenlosen Wachstums auf dramatische Weise beschwor, wurde weltweit das Bewusstsein für den Zusammenhang zwischen Wachstum und Naturvernichtung geschärft. Doch schon damals war vielen klar: Misstrauen, das man gegen das Wachstum schürt, muss auch den richtigen Gegner treffen. Wachstum an sich ist kein Übel. Jede Gesellschaft ist nur so lange lebendig, wie sie Phasen des Wachstums durchläuft. Sie altert und schlittert in eine Phase des Siechtums, wenn jedes weitere Wachstum unmöglich ist. Es handelt sich also zunächst einmal darum, schädliches Wachstum eindeutig von positiven Wachstumsverläufen zu unterscheiden. Als zerstörerische Kraft für die Zukunft des Globus erweist sich allein jenes quantitative Wachstum, das im Wesentlichen aus einem ständig anschwellenden Güterumsatz besteht und dem dafür erforderlichen Raubbau an nicht erneuerbaren Ressourcen. Alles Wachstum, das auf erneuerbaren Quellen beruht - und natürlich auch alles Wachstum, das in einer Steigerung menschlichen Wissens und Könnens besteht - gehört dagegen zu den größten Errungenschaften einer jeden Gesellschaft.

Wissen ist schon jetzt in ausreichendem Maße vorhanden

Menschliches Wissen und Können waren nie so hochgradig entwickelt, sie waren nie auf so viele und so unterschiedliche Bereiche, angefangen von der Insektenkunde bis zur Astrophysik, verteilt wie gerade in unserer Zeit. Das trifft auch auf unser Vermögen zu, die optimalen Bedingungen für den Übergang zu einem nachhaltigen Wirtschaften zu bestimmen. Die entsprechenden Pionierarbeit hatte der US-amerikanische Ökonom Herman Daly in wegweisenden Schriften wie Steady-State Economics (1977) schon vor mehr als drei Jahrzehnten geleistet. Aus diesen Anfängen ist inzwischen nicht nur eine Fülle kaum noch überschaubarer Forschungen und Modelle für nachhaltiges Wirtschaften hervorgegangen, sondern es steht auch eine Vielzahl konkreter technischer Verfahren für nachhaltiges Wirtschaften bereit. Längst können führende Wissenschaftler der Politik und den Wählern beweisen, dass auch ein Industriestaat wie Deutschland auf nicht erneuerbare (fossile und nukleare) Energielieferanten verzichten könnte, ohne wesentliche Abstriche an seinem bisherigen Wohlstand hinnehmen zu müssen.

Auch die künftigen Folgen unseres Nicht-Handelns sind uns bewusst

Es liegt also nicht an mangelndem Wissen und Können, wenn der Übergang zur Nachhaltigkeit immer noch in weiter Ferne liegt. Es liegt auch nicht an fehlendem Bewusstsein im Hinblick auf unterlassenes oder verspätetes Handeln. Das Menetekel von Klimakatastrophen, nuklearen Verseuchungen oder ganz allgemein eines für kommende Generationen nicht mehr bewohnbaren Planeten steht allen vor Augen. Längst malen auch die Medien entsprechende Horrorvisionen aus – und zumindest teilweise sind diese wissenschaftlich fundiert. Von „fünf Minuten vor zwölf“ ist dabei immer wieder die Rede – zuletzt Dezember 2012 auf der Klimakonferenz von Durban. Umso stärker muss uns die Frage beunruhigen, warum sich vor einer echten Wende zur Nachhaltigkeit dennoch haushohe Barrieren auftürmen? Warum denkt selbst in den reichsten Staaten der Welt keine Partei und keine Regierung in wirklichem Ernst daran, das Ruder herumzureißen? Warum sieht – gerade jetzt in der Schuldenkrise - die ganze Welt die Rettung einzig im Wachstum, obwohl es doch gerade der Wahn eines uneingeschränkten Wachstums ist, der uns mit apokalyptischen Gefahren bedroht?

Rücksichtslosigkeit verschafft Vorteile gegenüber verantwortungslosem Verhalten

Eine nahe liegende Antwort ergibt sich aus dem Konkurrenzverhalten der Staaten. Es stimmt zwar, dass ein Staat, der seine Wirtschaft ganz auf erneuerbare Energien und Nachhaltigkeit umstellt, seiner Bevölkerung immer noch einen Lebensstandard zu bieten vermag, der nicht oder nicht wesentlich hinter dem bisherigen zurücksteht, dennoch ist es zweifellos richtig, dass ein konkurrierender Staat, der einerseits zwar auch erneuerbare Energien zum Einsatz bringt, doch zur gleichen Zeit auch weiterhin die fossilen Lager ausbeutet, eine vergleichsweise höhere Produktion und Wettbewerbsfähigkeit erlangt und seiner Bevölkerung daher auch ein entsprechend größeres Lebensniveau zu bieten vermag. Es macht eben einen Unterschied, ob ich nur die Kraft der Sonne ausnutze, wie sie mir hier und jetzt zur Verfügung steht, oder ob ich noch zusätzlich ihre in Jahrmillionen gespeicherte Kraft ausschöpfe. Anders gesagt, verschaffen diejenigen Staaten sich im Wettbewerb einen Vorteil, die ihren eigenen Übergang zu erneuerbaren Quellen so lange wie möglich verzögern.

Deshalb stellt die Angst im internationalen Wettbewerb zurückzufallen, eine gewaltige Barriere auf dem Weg zu einer nachhaltigen Wirtschaft dar. Vor allem den Entwicklungsländern sitzt sie im Nacken, die sich deswegen auch hartnäckig gegen eine für sie unvorteilhafte Reduktion der fossilen und nuklearen Abhängigkeit sträuben. Sie wollen diesen Schritt erst dann vollziehen, wenn sie in ihrer Entwicklung auf gleicher Höhe mit den führenden Industriestaaten stehen. Mit anderen Worten, sie wollen keine Einschränkungen beim quantitativen Wachstum hinnehmen.

Die größere Bedrohung geht von den Ländern des Nordens aus

Dennoch sollte man sich hüten, die Schuld vor allem bei den Entwicklungsländern zu suchen. In Wahrheit geht die größte Bedrohung von den Ländern des Nordens aus, die mit ihrem Güterumsatz ebenso wie mit ihrer Umweltbelastung pro Kopf (ökologischer Fußabdruck) weit an der Spitze liegen. Gerade die frühen Industrienationen halten am Imperativ des Wachstums wie an einem kollektiven Fetisch und Mantra fest. Das ökologische Bewusstsein kämpft gegen diesen von offizieller Seite nie ernsthaft in Frage gestellten Imperativ wie gegen einen allgegenwärtigen und übermächtigen Feind – und zieht dabei doch regelmäßig den Kürzeren. Es ist keinesfalls fehlendes Wissen über die Möglichkeit und Machbarkeit einer nachhaltigen Ökonomie, es ist nicht einmal ein Mangel an gutem Willen. Denn immerhin gilt ja festzuhalten, dass der Aufruf zu einer ökologischen Wende inzwischen vom ganzen Spektrum der politischen Farben kommt. Von links, von grün und inzwischen ebenso auch von rechter Seite. Meinhard Miegel, ein dem rechten Lager verbundener Autor, hat ein aufrüttelndes Buch gegen den Wachstumswahn geschrieben.

Die sozialen Verhältnisse sind nicht danach

Wenn die ökologische Wende in aller Munde ist und von allen Seiten gefordert wird, woran fehlt es uns dann? Die Antwort fällt eher ernüchternd aus. Es fehlt nicht an gutem Willen, es fehlt an den politisch-sozialen Voraussetzungen. Meinhard Miegel hat sich in seinem Buch Exit weitläufig über den Wachstumswahn ausgelassen. Doch damit hat er zu kurz gegriffen. Ein Wahn lässt sich durch Aufklärung beheben. Wir müssen ihn nur als solchen erkennen, um unser Bewusstsein davon zu befreien. Doch so einfach ist es gerade nicht. Die führenden Industriestaaten der Welt leben mit etwas viel Schlimmerem: Sie leben mit einem Wachstumszwang – und ein Zwang lässt sich nicht durch bloße Aufklärung beseitigen, sondern allein dadurch, dass man die ihm zugrunde liegenden Ursachen beseitigt. Unser gegenwärtiges Wirtschaftssystem verstößt gerade deswegen so radikal gegen alle Forderungen auf Nachhaltigkeit, weil es auf Wachstum wie auf einer lebenserhaltenden Droge beruht. Ohne Wachstum könnte unser gegenwärtiges Wirtschaftssystem zwar nachhaltig werden, zunächst aber bricht es erst einmal zusammen. Hier liegt mehr als nur das Dilemma unseres gegenwärtigen Wirtschaftssystems, hier liegt – es sei mit allem Pathos ausgesprochen - eine existenzielle Tragödie, weil sie unsere Existenz auf dem Planeten betrifft.

Die ökologische Wende – in erster Linie ein soziales Problem

Der Übergang zu einem nachhaltigen Wirtschaftssystem ist daher erst an zweiter Stelle eine technische Aufgabe - die technischen Fragen sind bereits heute weitgehend gelöst - er ist vor allem ein politisch-soziales Problem. Wir wissen, dass wir mit weiterem den Güterumschlag ständig hinaufschraubenden Wachstum die Natur unheilbar zerstören, doch ebenso wissen wir, dass wir ohne ein derartiges Wachstum die Gesellschaft in ihrer jetzigen Form vernichten. So lautet, auf die einfachste Formel gebracht, die Herausforderung, vor der wir uns heute gegenüber sehen.

Die Politik sieht sich daher vor eine Entscheidung zwischen zwei elementaren Übeln gestellt. Soll sie es zulassen, dass die Natur weiter geschädigt wird – möglicherweise bis zu einem Punkt „of no return“ - oder soll sie, auf Wachstum verzichtend, einen Schaden am Körper der Gesellschaft zulassen, der die Ablösung der Regierung und darüber hinaus möglicherweise auch soziale Unruhen und Aufstände zur Folge hat? Die Antwort steht von vornherein fest, weil die Folgen durchaus nicht symmetrisch sind. Selbst wenn wir den extremen Fall annehmen, dass weite Teile des Globus bei weiterem Wachstum von global 3-4% jährlich nach spätestens hundert Jahren unbewohnbar sein werden – manche Wissenschaftler halten diese Annahme für durchaus realistisch – so sind doch nicht jene Menschen davon betroffen, auf die eine für die kommenden fünf Jahre gewählte Regierung vor allem Rücksicht zu nehmen hat, nämlich die mittleren Jahrgänge der gerade lebende Generation. Dagegen hätte eine jetzt und hier vollzogene Abkehr von weiterem Wachstum unmittelbare Auswirkungen auf die gerade jetzt lebenden Wähler. Diese Folgen wären hier und jetzt mit größter Schmerzhaftigkeit zu spüren.

Hier liegt der Grund für unsere Schizophrenie. Fast jeder halbwegs aufgeklärte Bürger befürwortet heute eine ökologische Wende, aber nur die allerwenigsten sind bereit, diese Wende mit einem zumindest kurzfristig erst einmal sehr deutlichen Rückgang ihres bisherigen Lebensstandards zu bezahlen. Doch genau das wäre mit einem Verzicht auf weiteres Wachstum verbunden. Denn Wachstum erfüllt längst nicht mehr die früher damit verbundene Hoffnung auf einen noch höheren materiellen Lebensstandard. Inzwischen brauchen wir Wachstum, damit die Bevölkerungsmehrheit auch weiterhin den schon erreichten Lebensstandard genießt. Rückläufiges oder gar ausbleibendes Wachstum, also eine stationäre Ökonomie, bedeutet nicht – wie man naiv glauben könnte - die Erhaltung des schon errungenen Lebensstandards; unter den gegenwärtigen Bedingungen bedeutet sie dessen dramatischen Einbruch.

Der Wachstumszwang beruht auf Verschuldung

Wer Zukunft will, muss ökologische Nachhaltigkeit erstreben. Aber es gehört zur bedrohlichen Komplexität unserer Zeit, dass dies nicht genügt, ja, dass all unser Wissen um die notwendigen Maßnahmen zur Verwirklichung dieses Ziels null und nicht sind, solange wir nicht gegen den Wachstumszwang ankämpfen. Das aber ist ein ehrgeiziges Ziel, das wir nur mit einer grundlegenden Umgestaltung unseres gegenwärtigen Wirtschaftssystems erreichen. Wir verbauen uns die eigene Zukunft, solange wir mit diesem System leben und daran gekettet sind. Eine solche Feststellung muss Argwohn erregen. Sie klingt wie ein Aufruf zur Revolution, wie eine fundamentalistische Mahnung zur radikalen Selbsterneuerung oder wie eine Anstiftung im Auftrag einer religiösen oder politischen Ideologie.

Doch sie ist weder dieses noch jenes. Sie beruht auf einigen wenigen, für jedermann verständlichen Parametern und Kennziffern unserer gegenwärtigen ökonomischen Situation. Alle frühindustrialisierten Länder haben ein Staatsschuldenniveau nahe bei 100% erreicht. Um die daraus erwachsende, nur ausnahmsweise die Mindestmarke von 2% unterschreitende Zinslast zu bedienen, brauchen sie ein Wachstum von zwei Prozent jährlich – nur dann wird diese Last vom erwirtschafteten Zuwachs aufgefangen, andernfalls zehrt der Staat von der Substanz: Er muss den Lebensstandard bei jenem Teil der Bevölkerung vermindern, welcher die meisten Steuern zahlt. Verschuldung erzwingt also Wachstum, wenn der Staat den Lebensstandard der gesamten Bevölkerung auf gleichem Niveau erhalten will.

Dieser Zwang wird umso größer, je höher das Maß der Verschuldung. Rechnet man für Deutschland die implizite Verschuldung des Staates hinzu (hier sind die künftigen Rentenverpflichtungen einbezogen), so kommt man auf einen aktuellen Wert von ca. 200% des BIP.*1* Bei einem Mindestzinssatz von 2% braucht Deutschland daher in Wahrheit ein permanentes Wachstum von mindestens 4%, um den derzeitigen Lebensstandard zu erhalten. Doch selbst dieses Bild ist unvollständig. Es fehlt nämlich der dreimal so hohe zweite Teil der gesamten Verschuldung: die Unternehmensschulden. Rechnet man diese hinzu, dann beträgt die Gesamtverschuldung 8 Billionen Euro oder das Vierfache des BIP. Die Unternehmen bezahlen für ihre Schulden in Gestalt von Dividenden und Zinsen, die sie natürlich im Preis der von ihnen erzeugten Produkte verrechnen. Mit wachsender Verschuldung werden diese daher zunehmend teurer. Das schränkt den Lebensstandard der Bürger ebenso ein wie eine zunehmende staatliche Steuerflut.

Eine Gesamtschuldensumme von acht Billionen Euro oder dem Vierfachen der volkswirtschaftlichen Leistung erlaubt wiederum eine einfache Berechnung künftiger Lasten. Selbst wenn Staat und Unternehmen in Deutschland dafür nur 1% an Dividenden oder Zinsen entrichten müssten (tatsächlich zahlen die Unternehmen weit höhere Sätze), würde die Wirtschaft mindesten 4% pro Jahr wachsen müssen, um den bisherigen Lebensstandard zu bewahren. Bei 2% Zinsen und Dividenden würde dieser Wert schon ein jährliches Wachstum von 8% erzwingen!

Eine simple Rechnung wie diese macht deutlich, warum die zunehmende Verschuldung Politiker sämtlicher Couleurs zu gedanken- und besinnungslosen Anhängern eines forcierten Wachstums macht und bei ihnen jegliche Rücksicht auf dessen Folgen verdrängt. Sie macht aber auch begreiflich, warum der Misserfolg einer derartigen Politik von vornherein feststeht. Denn außer in Schwellenstaaten wächst die Wirtschaft nirgendwo schnell genug, um die Bedienung der Schulden wettzumachen.

Doch erst in Verbindung mit zunehmender Ungleichheit entfaltet Wachstum sein bedrohliches Potential

Der Zusammenhang zwischen Verschuldung und Wachstum ist in Wahrheit noch um eine Stufe komplexer. Angenommen Vermögen und Einkommen wären unter den Deutschen völlig gleichmäßig verteilt, so würde das auch für die von ihnen zu tragende Zins-, Dividenden- und Steuerlast gelten. Jeder Deutsche würde daher genau so viel an Zinsen und Dividenden für Bankguthaben bzw. Aktien gewinnen, wie er andererseits an Steuern für den Staat entrichtet und in den Preisen der von ihm gekauften Produkte an die Unternehmen bezahlt. Schulden und Guthaben sind – sofern der Staat nicht gegenüber dem Ausland verschuldet ist – stets in der Summe identisch. Im Fall einer gleichmäßigen Verteilung wären sie dies aber auch bei jedem einzelnen Bürger. In diesem Fall würde der Lebensstandard auch durch eine wachsende Verschuldung nicht eingeschränkt werden - selbst dann nicht, wenn die Verschuldung von Staat und Industrie ein Mehrfaches des BIP betrüge. Politiker würden sich nicht zum Wachstum getrieben sehen und Verschuldung würde das Land nicht in die Armut führen. Die Umstellung der Wirtschaft auf ein nachhaltiges System wäre in diesem Fall kein Problem.

Ihre ganze Brisanz gewinnt Verschuldung erst dann, wenn ein Teil der Bevölkerung – stets eine Minderheit - immer mehr Guthaben anhäuft, während ein anderer Teil – stets die Mehrheit – immer mehr Schulden trägt, anders gesagt, mit zunehmender Ungleichmäßigkeit der Verteilung. Bis um die Mitte der achtziger Jahre war die materielle Ungleichheit in Deutschland noch relativ gering, seitdem hat sie beängstigend zugenommen. Heute verfügen etwa zehn Prozent der Bevölkerung über 60% aller zins- und dividendentragenden Guthaben (Vermögen), d.h. über etwa 4,8 der insgesamt 8 oben genannten Billionen. Diese Zinsen und Dividenden müssen die unteren 90% mit ihrer Arbeit erwirtschaften. Gelingt ihnen das nicht durch ein Wachstum im zuvor beschriebenen Ausmaß, dann schneiden die Ansprüche der oberen zehn Prozent direkt in ihr Fleisch: Sie müssen mit ihrem erworbenen Lebensstandard den Luxus der oberen zehn Prozent bezahlen. Genau dies ist seit den neunziger Jahren in sämtlichen frühindustrialisierten Staaten der Fall, weil diese kein ausreichendes Wachstum zustande brachten. An der Spitze wachsender Glanz und üppige Verschwendung, unten ein Prekariat, das sich wie ein hässlicher Schimmel immer weiter ausbreitet. Bis zum Mittelstand frisst sich der Pilz beginnender Armut inzwischen durch, weil Steuer, Zins- und Dividendenlast immer schwerer zu tragen sind. Die Spitze aber ist die ganze Zeit nur noch fetter geworden. Selbst in den Finanzturbulenzen der vergangenen Jahre habe nur jene Reichen wirklich verloren, die ihr Vermögen ausschließlich in Geld angelegt hatten. Wer rechtzeitig in Sachwerte flüchtete, hatte keine Mühe, den Abstand zu den nicht-privilegierten Schichten in vollem Umfang zu wahren.

Ungleichheit und Schulden fachen das Wachstum an

Es trifft also zu, was zu Anfang behauptet wurde: Der Wachstumszwang hält gerade jene Staaten in Bann, die aufgrund ihres angesammelten Wissens und Könnens am ehesten in der Lage wären, einen schnellen Übergang in eine nachhaltige Wirtschaft zu vollziehen. Ungleichheit und Verschuldung bilden das unheilige Tandem, das sie in eine genau entgegengesetzte Richtung zwingt, nämlich zu einem weiteren gewaltsamen Ankurbeln des Energie- und Ressourcenverbrauchs. Um eine Bevölkerungsmehrheit zufriedenzustellen, die von den wachsenden Ansprüchen einer minoritären Vermögensoligarchie aufgrund der Verschuldungsmechanik immer stärker ausgequetscht wird, bleibt der Politik – da sie mit den Stimmen der Mehrheit gewählt wird – nichts anderes übrig, als ewiges Wachstum zu predigen und zu praktizieren – bis hin zur völligen Zerstörung der Umwelt. Doch was sie auch unternimmt, kein Wachstum reicht aus, um bei zunehmender Ungleichheit die Last der Verschuldung wettzumachen. Letztlich wird nicht nur die Umwelt, sondern auch das soziale Gefüge zerstört. Um es auf drastische Weise zu sagen: Wir haben unserem Wirtschaftssystem eine Zeitbombe eingebaut, welche die Selbstzerstörung zu einem mathematisch vorausberechenbaren Ergebnis macht.

Der Friede mit der Natur setzt den sozialen Frieden voraus

Wie kommen wir zu einer nachhaltigen Gesellschaft, die sich vom Wachstum verabschiedet, indem sie sich nur noch auf erneuer- und wieder verwertbare Quellen verlässt? Die technischen Lösungen für dieses größte Problem unserer Zeit sind, wie gesagt, weitgehend vorhanden. Was uns nach wie vor fehlt, ist eine überzeugende soziale Antwort. Die Frage lautet daher in Wahrheit: Wie können wir die sozialen Voraussetzungen für den Übergang zu einer nachhaltigen Gesellschaft herstellen? Nach dem zuvor Gesagten wird es kein nachhaltiges Wirtschaft geben, solange wir uns nicht vom Imperativ ewigen Wachstums befreien. Aber von diesem Imperativ kann die Politik sich nicht lösen, solange die soziale Verfassung durch übermäßige Verschuldung und Ungleichheit gekennzeichnet ist. Die Perspektive für eine künftige Gesellschaft im Frieden mit der Natur setzt daher den Frieden in der Gesellschaft, den sozialen Frieden, voraus.

Auf welchem Wege wir diesen erreichen, sollte nach dem zuvor Gesagten kein Geheimnis sein. Einerseits müssen wir den Hebel bei den Schulden und den ihnen entsprechenden Guthaben ansetzen. Andererseits müssen wir Strategien gegen die zunehmende Ungleichheit entwickeln. Die sozialen Bedingungen für eine Wirtschaft ohne Wachstum – eine nachhaltige Wirtschaft im Frieden mit der Natur – stehen daher grundsätzlich fest. Wir finden sie in einer Gesellschaft ohne Schulden und/oder einer nach oben begrenzten Ungleichheit. Das scheint eine Forderung von größter logischer Einfachheit zu sein - in der Praxis haben wir es allerdings mit einem Problem von immenser Komplexität und Schwierigkeit zu tun.

Die Herausforderung des 21. Jahrhunderts

Haben sich Schulden nämlich erst einmal zu einem hohen Berg aufgetürmt, sind sie prinzipiell unbezahlbar. Das gilt natürlich nicht für den einzelnen Schuldner im Verhältnis zu seinem Gläubiger. Es gilt ebenso wenig für einen Staat, der gegenüber einem anderen Staat verschuldet ist. In beiden Fällen besteht die Möglichkeit, das gesamte Eigentum des Schuldners (einschließlich Staatsgebiet) zu konfiszieren. In früheren Zeiten hatten Schuldner sogar noch mit ihrem eigenen Leben zu haften: Sie wurden zu Schuldknechten oder auch einfach versklavt. Die prinzipielle Unbezahlbarkeit übermäßiger Schulden gilt für die Gesamtverschuldung innerhalb eines Staates. Die größten Gläubiger setzen ja ihr überflüssiges Vermögen gerade deshalb zur Gewinnung von Zinsen und Dividenden ein, weil ihr Einkommen jeden möglichen Konsum längst überschritten hat. Zinsen und Dividenden werden daher ihrerseits zur Gewinnung weiterer Zinsen und Dividenden genutzt. Geld erfüllt nur noch den Zweck, neues Geld zu schaffen. Es wird zu einem Mittel des ökonomischen und politischen Machtgewinns.

Daran ändern auch Privatisierungen nichts, mit denen ein Staat sich seiner Schulden scheinbar entledigt. Denn der Umfang der Gesamtverschuldung wird durch Privatisierungen nicht verändert, sondern im Gegenteil noch erhöht. Aus den von ihnen frisch erworbenen Unternehmen (bzw. dem entsprechenden Aktienbesitz) fließt den Gläubigern danach derselbe Geldstrom in Dividendenform zu, den sie vorher in Gestalt von Zinsen für Staatsobligationen bezogen. Da sie die betreffenden Unternehmen aber meist zu Schleuderpreisen erwarben, hat sich der gesamte aus Staats- plus Privatschulden zusammengesetzte Schuldenstand tatsächlich noch erhöht. Anders gesagt, pflegen die oberen zehn Prozent (in den USA das oberste ein Prozent) nach Privatisierungen noch reicher und die unteren 90% dementsprechend ärmer zu sein.

Welche sozialen Maßnahmen führen zu einer nachhaltigen Wirtschaft?

Übermäßige Schulden sind prinzipiell unbezahlbar, sie können sich nur bis zum Kollaps des Systems weiter und weiter vermehren. Wenn das so ist, hilft keines der heute vorgeschlagenen Programme, ob wir nun von Eurobonds sprechen oder dem kürzlich vorgestellten Modell des Deutschen Sachverständigenrats. Es gibt es nur eine Art Schulden einzuschränken, nämlich indem man sie selbst oder die ihnen entsprechenden Guthaben auf mehr oder weniger drastische Art reduziert. Wie der amerikanische Wirtschaftsökonom Michael Hudson und der Anthropologe David Graeber zeigten,*2* wurden seit der Zeit der Sumerer übermäßige Schulden immer wieder in Revolutionen und Kriegen gewaltsam vernichtet. Zwischendurch aber wurden sie auch durch das bewusste Eingreifen mächtiger Herrscher gelöscht. Das waren dann Schuldenerlässe, welche eine große Zahl Menschen aus der Schuldknechtschaft erlösten.

Der Weg zu einer Wirtschaft ohne Wachstum, einer nachhaltigen Ökonomie mit einem auf erneuerbare Ressourcen begründeten Güterverbrauch, wird in unserer Zeit in gleicher Richtung verlaufen müssen. Die bestehenden Schulden der großen Industrienationen sind prinzipiell unbezahlbar. Das trifft auch auf Deutschland zu.*3* Damit unsere Gesellschaften dadurch nicht zu ewigem Wachstum gezwungen sind, muss man sie löschen. Dafür aber kommen grundsätzlich nur zwei Vorgehensweisen in Frage: Entweder wird das Geld und damit auch das bestehende Geldvermögen entwertet oder es kommt zu einem Schuldenerlass, also einer direkten, zumindest partiellen Enteignung der Gläubiger. Die erste Alternative, eine galoppierende Inflation, kann Schulden und die ihnen entsprechenden Guthaben über Nacht auf Null reduzieren. Sie trifft aber die Masse der Bevölkerung mit besonderer Härte, während sie gerade die reichsten Gläubiger verschont, da diese sich gewöhnlich im rechten Moment in Sachwerte flüchten. Hyperinflationen treiben das Volk auf die Barrikaden und zerrütten das Staatsgefüge. Die Politik hat daher allen Grund, sich vor einer großen Geldentwertung zu fürchten.*4*

Enteignungen der Gläubiger führen hingegen zum Aufruhr der privilegierten Schicht, die den ganzen Apparat der von ihnen bezahlten Medien, Lobbyisten und industriellen Kräfte zum Widerstand aufruft: Statt von unten wird der Staat in diesem Fall von oben destabilisiert. Es ist eine Entscheidung wie zwischen Scylla und Charybdis. Vergangenes politisches Fehlverhalten: nämlich eine übergroße Verschuldung verbunden mit übermäßiger Ungleichheit, stellt die Politik vor Alternativen, die in ihren Folgen für Staat und Gesellschaft unabsehbar sind. Auf den ersten Blick erscheint die Situation schon deshalb ausweglos, weil man keinem der beiden Lager, die sich hier als Schuldner und Gläubiger konfrontieren, ein Verhalten gegen die Gesetze, also schuldhaftes Vorgehen, nachsagen kann. Das „System“ selbst hat sie zu ihrem Handeln ermuntert. Bis zum Ausbruch der Krise galt ihr Verhalten nicht nur als völlig normal, sondern schien sogar im Sinne des Gemeinwohls geboten. Wirkliche Bosheit ist eher selten der Grund für das Versagen von Staaten, diese Rolle nimmt eher die Dummheit ein – nämlich die Unfähigkeit der Politik, die langfristigen Wirkungen eigenen Handelns vorauszusehen.

Schulden erzwingen Wachstum – doch Wachstum erzwingt auch Schulden

Die Wende zu einer nachhaltigen Wirtschaft werden wir solange nicht schaffen, wie Schulden den Lebensstandard der Bevölkerungsmehrheit belasten und Wachstum daher das einzige Mittel ist, um diese Last zu erleichtern. Denn im Zweifelsfall wird immer der soziale Frieden – das Wohlergehen der gerade jetzt lebenden Generation – mehr zählen als der Frieden mit der Natur: Wir können auch vom Frieden für kommende Generationen sprechen.

Dieses Bild einer fundamentalen Bedingtheit der ökologischen durch soziale Nachhaltigkeit ist jedoch in einem Punkt noch zu einfach. Tatsächlich haben wir es hier mit einer gegenseitigen Abhängigkeit zu tun. Schulden erzwingen Wachstum, doch umgekehrt erzwingt Wachstum seinerseits Schulden, und zwar auch ein gutes qualitatives Wachstum, auf das wir auch in einer nachhaltigen Wirtschaft schwerlich verzichten können. Unsere geltende Wirtschaftsordnung ist darauf begründet, dass Menschen mit Ideen aber ohne Geld auf das Kapital von Menschen mit Geld aber ohne Ideen zugreifen. Sie setzt voraus, dass Individuen und Korporationen, einzelne Forscher, Labore, Konzerne etc. sich über Börsen und Banken mit Kapital versorgen. Die Entwicklung der frühen Industrienationen ebenso wie der kometenhafte Aufstieg ihrer heutigen Nachfolger im fernen Osten wäre nicht möglich ohne Verschuldung. Wachstum, gleichgültig ob quantitativer oder qualitativer Art, führt also seinerseits zu Schulden.

Ein vollständiger Verzicht auf Wachstum und Schulden ist nicht möglich

Zweifellos kommt auch eine Gesellschaft im Frieden mit der Natur, die ihren Güterumsatz sukzessive auf ein Niveau beschränkt, das sie durch erneuerbare Quellen und Wiederverwertung abdeckt, nicht ohne Forschung aus. Im Gegenteil, sie wird sehr viel Forschung benötigen, um ihr Ziel ohne eine wesentliche Einschränkung des erreichten Lebensstandards zu erreichen. Forschung aber verlangt Investitionen und damit Verschuldung. Selbst wenn wir auf dem Weg der Nachhaltigkeit schon sehr weit gekommen wären, würden wir nie ganz ohne Verschuldung auskommen. Daher besteht eine wesentliche Aufgabe der politischen Ökonomie in der Suche nach Wegen und Strategien, mit der wir die negativen Folgen der Verschuldung beherrschen.

Das Japan der drei Goldenen Dekaden

Zumindest eine unter den frühen Industrienationen hat der Welt zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die 90er Jahre gezeigt, auf welchem Wege dieses Ziel erreicht werden kann. Die materielle Ungleichheit war innerhalb dieses Zeitraums in Japan geringer als in irgendeinem anderen hochindustrialisierten Staat. Selbst die schon damals exorbitant hohe Staatsverschuldung des Landes hat die soziale Kluft deshalb kaum vergrößert. Der Durchschnittsjapaner besaß per Saldo ebenso viele Guthaben wie Schulden. Anders gesagt, zahlte er beim Konsum und für Steuern in etwa die gleiche Summe für die die Schulden von Staat und Unternehmen, die er dann später auf seinem Bankkonto als positives Zinsguthaben wieder einnahm. Denn Unterschiede in der materiellen Entlohnung spielten im Land der aufgehenden Sonne eine vergleichsweise untergeordnete Rolle. Um 1990 betrug der Verdienst eines Topmanagers in den USA das 93fache, der eines japanischen Topmanagers dagegen nur das Elffache eines durchschnittlichen Arbeiters.*5* Die relativ geringe materielle Ungleichheit – ein großer Vorsprung auch vor den Ländern des real existierenden Sozialismus mit Ausnahme des maoistischen China - sorgte für die soziale Unschädlichkeit selbst einer extrem hohen Binnenverschuldung.

Gibt es einen friedlichen Übergang zu einer nachhaltigen Wirtschaft?

Die Zeit der geringsten materiellen Ungleichheit, die sich vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die neunziger Jahre erstreckte, war auch die Zeit des größten Wirtschaftserfolgs der Japaner und eines ungebrochenen sozialen Friedens. Vielen galt das ostasiatische Land damals als ein Vorbild für die übrige Welt. Diese Tatsache sollte zu denken geben. Der japanische Staat hat sich in der Zeit seiner größten Prosperität bei seinen eigenen Bürgern verschuldet. Nicht einmal, um die Deflation der 90er Jahre zu überwinden, hat er zur Geldbeschaffung die Notenbankpresse anwerfen lassen, obwohl ihm das ohne weiteres möglich gewesen wäre. Die Vernichtung exorbitanter Schulden von Staat und Unternehmen auf dem Wege einer ungebremsten Versorgung mit Geld war auch in Japan eine nahe liegende und verlockende Option, die dem Land zudem noch von so renommierten Ökonomen wie Paul Krugman ausdrücklich empfohlen wurde. Das egalitäre Japan hat sich diesem Drängen verweigert, weil es die eigenen Bürger (vor allem die Bezieher von Renten) nicht durch Geldentwertung enteignen wollte.

Im Europa der Schuldenkrise wird das Anwerfen der Notenpresse dennoch als Rezept für die Überwindung der Krise empfohlen, unter anderen von so hellsichtigen und klugen Ökonomen wie Michael Hudson.*6* Zweifellos ist es ein Ausweg – einer der beiden möglichen. Ich fürchte aber, dass wir dafür bitter bezahlen müssten. Die Sorge um die Natur wird mit Sicherheit in noch weitere Ferne gerückt.

Doch, wie gesagt, die ungebremste Versorgung mit Geld durch die Europäische Notenbank und die daraus folgende Inflation zur Vernichtung der Schulden stellt nur eine von zwei grundsätzlichen Strategien gegen die Krise dar. Der zweite Weg besteht in einem Schuldenerlass oder, anders gesagt, einer sozial verträglichen Reduktion der großen Guthaben (Vermögen). Auf welche Art dieser historisch immer wieder beschrittene Weg heute durchgeführt werden könnte, sei an dieser Stelle nur angedeutet, da ich darauf andernorts ausführlich eingehe. Zwei Maßnahmen halte ich für geeignet, um einen Ausweg aus der gegenwärtigen Zwangslage galoppierender Verschuldung aufzuzeigen.

1. Die Einführung einer Obergrenze für privates (im Unterschied zu betrieblichem, privat nicht nutzbarem) Vermögen. Der Staat sollte sie so bemessen, dass privates Vermögen ausschließlich dem aufgeschobenen Konsum im Alter, bei Krankheit, Arbeitslosigkeit etc. dient, aber nicht wie heute üblich über jeden möglichen Konsum hinaus angehäuft werden kann, um eine ganz andere, sozial schädliche Funktion zu erfüllen, nämlich die eines Markers für persönlichen Status und persönliche Macht. Würde der Staat nur dieses sozial dysfunktionale „Macht-Vermögen“ der oberen zehn Prozent einziehen, um die darauf beruhenden Schulden der unteren 90% zu löschen, so wäre auf einen Schlag der größte Teil aller bestehenden Guthaben und der ihnen entsprechenden Schulden aufgehoben, ohne dass die hiervon Betroffenen außer einem Verlust an Macht eine Einbuße an Lebensqualität hinnehmen müssten. Man vergesse nicht, dass das gesamte Guthabenvolumen in Deutschland etwa das Vierfache des BIP beträgt (8 Billionen Euro). Eine solche Steuer schafft maximalen Nutzen für das Gemeinwohl, ohne den Betroffenen anderen als psychischen Schmerz (über ihren Machtverlust) zuzufügen. Allerdings ist ein solcher Schuldenerlass nicht ohne einschneidende flankierende Maßnahmen durchzuführen, andernfalls werden sich gerade die größten Vermögen vorher ins Ausland absetzen. Vor dieser Herausforderung stehen übrigens auch die Befürworter einer freizügigen Geldversorgung von Seiten der EZB. Sie pflegen darüber hinwegzusehen, dass sie zu denselben Maßnahmen gezwungen sind – nur mit einiger zeitlicher Verzögerung.*7*

Mit einer Begrenzung der privaten Vermögensakkumulation erreicht man mehr als nur einen einmaligen Schuldenerlass – eine übermäßige Ansammlung von materiellem Reichtum in wenigen Händen wird auch für die Zukunft verhindert.*8*

2. Die Einführung einer progressiven Besteuerung des individuellen Konsums und einer Besteuerung des Ressourcenverbrauchs der Unternehmen, verbunden mit der Abschaffung der Mehrwert- wie sämtlicher Steuern auf Arbeit. Diese grundlegende Reform dient der sozialen Gerechtigkeit ebenso wie einer konsequent ökologischen Ausrichtung staatlichen Handelns. In der Krise aber wird damit ein weiterer Effekt erzielt: Die Aufhebung aller Steuerlast auf Arbeit führt zu einer außerordentlichen Konjunkturbelebung und einer sprunghaft steigenden Nachfrage nach Arbeit: eine wirksame Medizin angesichts der verheerenden Folgen, die vom verordneten Todsparen in der Krise ausgehen.*9*

Und wie ist es mit radikalen Lösungen für eine Gesellschaft der sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit?

Die Idee des Wachstum – auch eines unbegrenzten quantitativen Wachstums – gehört zum ideologischen Inventar des Neoliberalismus. Sie wurde und wird aber ebenso auch vom real existierenden Sozialismus gepredigt, der dieses Projekt nur aus den Händen der konkurrierenden Einzelnen nimmt, um daraus seine nationalen Fünf-Jahres-Pläne zu machen. Man sollte betonen, dass das ökologische Bewusstsein an sich weder linke noch rechte Farben trägt. Es führt aber, wie oben gezeigt, in Richtung einer Stärkung egalitärer Tendenzen. Je größer die materielle Ungleichheit, desto schneller kommt es zu einer gefährlichen Anhäufung von Guthaben und Schulden. Es braucht nicht betont zu werden, dass die Stärkung egalitärer Tendenzen sich mit einem linken ebenso wie mit einem christlichen Weltbild verträgt.

Die ökologische Wende baut vor allem auf Gemeinsamkeit und Kooperation: Ohne eine solche Geisteshaltung sind egalitäre Tendenzen kaum denkbar. Sie setzt aber keineswegs die Abschaffung des Wettbewerbs voraus oder gar die Überführung privaten in kollektives Eigentum. So entscheidend die Begrenzung des Eigentums und eines ungebändigten Wettbewerbs ist - mit der Abschaffung beider hätten wir das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Mit Ausnahme kleinerer religiöser Gruppierungen und der ebenso kleinen frühen Stammesgesellschaften des Teilens und Schenkens hat keine historische Gesellschaft ein solches Experiment je unbeschadet begonnen, geschweige denn sich dauerhaft damit eingerichtet. Denn auf dem Weg eines gewaltsamen Kollektivismus wird jene belebende Dynamik beseitigt, welche die individuellen Kräfte einer ganzen Gesellschaft auf maximale Art mobilisiert.*10* Nicht der Wettbewerb an sich ist von Übel, sondern der Verlust des Gleichgewichts, der immer dann eintritt, wenn ein Zuviel an Konkurrenz das Fundament der Kooperation aushöhlt und schließlich zum Einsturz bringt. Dieser Verlust findet seinen sichtbaren Niederschlag in der Konzentration von Eigentum in immer weniger Händen.

Als unerlässliche soziale Bedingung für die ökologische Wende habe ich hier die teilweise Aufhebung von Schulden und Guthaben gefordert. Hartgesottene Vertreter des Neoliberalismus sehen darin einen Frontalangriff auf einen ihrer heiligen Glaubensartikel. Die Begrenzung privater Vermögen halten sie für einen ganz und gar inakzeptablen Eingriff in Eigentumsrechte. Andererseits werden diese Vorschläge den Gefolgsleuten von Marx, die das Eigentum und den Wettbewerb am liebsten ganz abschaffen möchten, immer noch als Verteidigung bourgeoiser Verhältnisse erscheinen und daher auf ihren vehementen Widerstand stoßen. Diesen gleichzeitigen Protest von Seiten linker wie rechter Fanatiker könnte man auch als ein Gütesiegel verstehen. Ist Vernunft nicht gut beraten, wenn sie sich zwischen den Vertretern des Extremismus ihren Weg in der Mitte sucht?*11*

1 Schon im Jahr 1995 machte der »Economist« warnend darauf aufmerksam, dass die laufende Staatsverschuldung in Wahrheit nur einen Bruchteil der längerfristig übernommenen Rentenverpflichtungen abbilde – und zwar in sämtlichen führenden Volkswirtschaften. So betrug die laufende US-amerikanische Staatsverschuldung damals 85% des Bruttoinlandsprodukts, rechnete man jedoch die ungedeckten Rentenschulden hinzu, dann ergab sich ein Gesamtbetrag in Höhe des Anderthalbfachen des BIP (151%) – weit höher als die offiziell genannten Zahlen. Die entsprechenden Zahlen für Deutschland beliefen sich damals auf 53/213, für Großbritannien auf 52/238, für Frankreich auf 56/272 und für Japan betrugen sie 97/297 (The Economist, 8. Juli 1995, S. 115. Quelle: OECD. Zitiert in Public Sector Finances. Vgl. hierzu auch ein kürzlich veröffentlichtes Papier des Chef-Volkswirts der Basler Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) Stephen Cecchetti, The Future of Public Debt. 2. 2. 2010).
2 Graeber in seinem Buch Debt, Hudson in: http://michael-hudson.com/2011/12/democracy-and-debt/.
3 Mit ungewöhnlicher Ehrlichkeit hat ein amtierender Bundeskanzler - Werner Faymann - diese Tatsache für Österreich ausdrücklich zugegeben. In einem Interview mit dem Wiener Stadtmagazin Falter (vom 5. 8. 2009) sagte er: „Die europäische Verschuldung, bei der wir immer im Mittelfeld liegen, wird in zwei, drei Jahren um ein paar Prozent höher sein. Ich glaube nicht daran, dass irgendein Staat das zurückbezahlt.“
4 Michael Hudson, ein hellsichtiger, weil auch historisch geschulter US-Ökonom, definiert die Aufgabe einer Notenbank geradezu als Drucken von Geld (ohne Orientierung an Wirtschaftsleistung und Preisstabilität) und verweist dabei auf das Vorgehen der englischen Notenbank seit Ende des 17. Jahrhunderts (http://michael-hudson.com/2011/12/europe’s-transition-from-social-democracy-to-oligarchy/). Kann die englische Notenbank uns als Vorbild dienen? Wohl kaum. Damals war die britische Wirtschaft in permanentem Wachstum begriffen: Die freizügige Geldversorgung spiegelte diesen Prozess. Die hochentwickelten Industrienationen steuern hingegen auf das Ende ihres quantitativen Wachstums zu, überschüssiges Geld fließt daher in den Finanzsektor oder wird in die Schwellenländer geleitet. Schneidet man ihm diesen Ausweg ab, dann wirkt es in der Realwirtschaft inflationär. Unberücksichtigt lässt Michael Hudson auch, dass die USA mit dem Dollar über die Weltleitwährung verfügen und daher von vornherein weit größere Geldmengen drucken können, ohne damit Inflation zu riskieren. Ebenfalls unberücksichtigt bleibt, dass die USA – ebenso wenig wie etwa die Schweiz – für die Schulden der Bundesstaaten aufkommen, z.B. für die Kaliforniens oder Missouris. Genau das aber würde eine EZB tun, welche die Staatsobligationen der Peripheriestaaten aufkauft.
5 Jeremy Rifkin: The End of Work, Tarcher/Putnam 1995; S. 173 sowie David E. Sanger: Japan to U.S.: Tighten Up. U.S. to Japan: Loosen Up, New York Times, 27.3.1991.
6 Hierzu Anm. 4.
7 Der Politik scheint der erste Weg einer ungebremsten Versorgung mit Geld auf den ersten Blick die weit einfachere Alternative zu bieten. Die Einführung von Kapitalverkehrskontrollen (wie sie schon Jörg Huffschmid gefordert hatte) bedroht deutsche Exportinteressen ins außereuropäische Ausland und stößt daher – vorerst – noch auf erbitterten Widerstand. Eine inflationäre Politik der EZB würde dagegen zu Beginn nur segensreich wirken, obwohl mit dem frisch gedruckten Geld zunächst einmal nur die Gläubiger des Staates, überwiegend also die oberen zehn Prozent, in In- und Ausland ausbezahlt werden. Damit die Realwirtschaft überhaupt etwas merkt, muss der Staat daher ein zweites Mal – diesmal nicht zum Zweck der Entschuldung, sondern für eigene Investitionen - Geld drucken lassen (eine Art Marschallplan durch die Druckerpresse wie Erhard Glötzl sie propagiert). Das heizt die Inflation zusätzlich an, zumal es auf diesem Weg keine natürliche Grenze gibt. Warum soll der Staat nur Investitionen in Höhe von, sagen wir, 10% des BIP mit frisch gedrucktem Notenbank vornehmen, warum nicht gleich Investitionen in Höhe von 50 oder 100%? Und warum soll er dies nur ein einziges Jahr, warum nicht jährlich tun? Mit anderen Worten, wenn Geld kostenlos ist, wird aus einer kleinen sehr schnell eine galoppierende Inflation.
Der scheinbar so einfache Weg, die Schuldenkrise über die Notenpresse zu regeln, bietet auch nur zu Anfang den bequemeren Weg. Statt die Gläubiger zu verärgern, werden sie ordnungsgemäß ausbezahlt. Doch der Staat wird schnell entdecken, dass er der Einführung von Kapitalverkehrskontrollen auch in diesem Fall nicht entgeht, da das große Vermögen sich aus berechtigter Furcht vor Entwertung erst einmal in Sachwerte flüchtet und dann aus Furcht, dass der Staat auch auf die letzteren zugreift, dieses abstößt, um sein Geld im Ausland in Sicherheit zu bringen (woraus sich dann neue Schulden gegenüber dem Ausland ergeben, die weiteres Gelddrucken und noch höhere Inflation bewirken). Der scheinbar einfachere Weg entpuppt sich letztlich als ein überaus gefährliches Spiel mit dem Geld. Dennoch wird die Politik diesen Weg mit größter Wahrscheinlichkeit wählen. Die Inflation tritt mit Verzögerung ein, daher sind zunächst weit geringere Widerstände als bei einem Schuldenerlass zu überwinden. Ich fürchte allerdings, dass diejenigen, die diesen Weg jetzt so lautstark als den einzig richtigen proklamieren, in spätestens zwei Jahren entsetzt sein werden: So hätten sie es doch gewiss nicht gemeint!
8 Hierzu vgl. Jenner: http://www.gerojenner.com/portal/gerojenner.com/Neuer_Fiskalismus.html sowie http://www.gerojenner.com/portal/gerojenner.com/Vermoegenssteuer.html.
9 Hierzu Jenner: Wohlstand und Armut (Marburg 2010) sowie http://www.gerojenner.com/portal/gerojenner.com/Neuer_Fiskalismus.html).
10 http://www.gerojenner.com/portal/gerojenner.com/Zukunft_der_Demokratie.html.
11 Selbst ehemalige Kommunisten sind inzwischen zu dieser Einsicht gelangt. Im Spiegel (11/50; S. 29) heißt es: „Die früher als Kommunistin verfemte Sahra Wagenknecht, darf im Feuilleton der „FAZ“ ganzseitig darlegen, warum der Staat private Großvermögen zur Krisenbewältigung heranziehen soll. In der „Zeit“ zeigen sich deutsche Millionäre offen dafür, endlich höher besteuert zu werden.“

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