[Debatte-Grundeinkommen] Piraten beschließen BGE - FAZ-Artikel

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Di Dez 6 19:12:42 CET 2011


Liebe Freunde des BGE,


möchte Euch auf einen FAZ-Artikel hinweisen, in dem der Parteitagsbeschluss der Piraten zum bedingungslosen Grundeinkommen zum Anlass genommen wurde, dieses Thema zu behandeln. 

Der im Folgenden wiedergegebene Artikel hat den Titel „Die Freibier-für-alle-Partei“:



Die Freibier-für-alle-Partei 

Bisher war die Piratenpartei auf der Suche nach Inhalten zu ihrer schon gefundenen Form. 
Nun legt sie sich fest: Das Bedingungslose Grundeinkommen für alle soll kommen. 
Von Philipp Krohn   

Frankfurt, 5. Dezember

Die Mehrheit war denkbar knapp. 66,9 Prozent der Piraten, die am Wochenende am Bundesparteitag teilnahmen, stimmten für ein „Bedingungsloses Grundeinkommen“. Gerade mal 0,2 Prozentpunkte über den Durst, könnte man sagen. Denn die Partei stellt an Forderungen für ihr Parteiprogramm eine hohe Hürde: Eine Zwei-Drittel-Mehrheit muss zustimmen. „Die Vollbeschäftigung ist eine Illusion, die wir uns erstens nicht mehr leisten können, und zweitens brauchen wir sie auch gar nicht“, sagte Bundesgeschäftsführerin Marina Weisband. Viele Freibeuter überzeugte das. 
Ihr Argument ist einer der zentralen Gedanken einer Bewegung, die Ideen so unterschiedlicher Denker wie Thomas Morus, Ralf Dahrendorf und Milton Friedman zusammenführt und in den vergangenen Jahren enormen Zulauf erhalten hat. Als „effizienteste Form der Armutsbekämpfung“ bezeichnete der radikalliberale Ökonomie-Nobelpreisträger Friedman ein solches Einkommen, das jedem Bürger gezahlt werden solle, ohne dass erst die Bedürftigkeit geprüft werde. Nach der Vorstellung der Befürworter soll es eines Tages alle Sozialtransfers ersetzen und damit einen großen Teil der Sozialbürokratie überflüssig machen. Zudem soll es für die Bürger eine sichere Einnahmequelle sein – in Zeiten, in denen die Wirtschaft angeblich nicht mehr so stark auf Erwerbstätige angewiesen ist.
Doch jenseits dieser klaren Grundkonzeption unterscheiden sich die Varianten erheblich voneinander. Die Gruppe der Pragmatiker stellt sich ein niedriges Grundeinkommen in Höhe von 600 bis 800 Euro im Monat vor – je nachdem, ob Krankenkassenbeiträge schon eingerechnet sind oder nicht. Was die einen als Schrumpfversion ihrer Idee verunglimpfen, beschreibt der Hamburger Ökonom Thomas Straubhaar als „sozialpolitische Revolution“, die neue Arbeitsanreize setzen werde. Den charismatischen Visionären der Bewegung dagegen – wie dem Drogeriemarkt-Gründer Götz Werner und der Greifswalder Tagesmutter Susanne Wiest – schwebt eher ein Betrag von 1000 bis 1500 Euro monatlich vor.
Zwischen Schrumpfversion und Vision scheinen auch die Konzeptionen der Piratenpartei zu schwanken, wie auf dem Parteitag sichtbar wurde. Der stellvertretende Bundesvorsitzende Bernd Schlömer verwies auf Straubhaars Berechnungen und erklärte schmallippig: „Es wird wahrscheinlich im dreistelligen Bereich liegen.“ Genaueres soll erst eine Bundestags-Enquetekommission ermitteln, die nach einem möglichen Einzug der Partei ins deutsche Parlament eingesetzt werden soll. Weisband, die eher Sympathie für die offensivere Variante erkennen lässt, will am Ende ohnehin die Bürger entscheiden lassen. „Wir werden verschiedene Modelle durchrechnen müssen und Modelle abwägen. Das wird nun unsere Aufgabe sein“, sagte sie.
Die Bewegung für ein Bedingungsloses Grundeinkommen weist viele Züge der Piratenpartei auf; so überrascht es wenig, dass es gerade in ihrem Umfeld mehrheitsfähig geworden ist. In zahllosen deutschen Städten haben sich Bürgerinitiativen gebildet, die über ein loses Netzwerk miteinander verbunden sind. Neue Interessenten werden häufig gewonnen, indem der 100-minütige Filmessay „Grundeinkommen“ der beiden Künstler Daniel Häni und Enno Schmidt öffentlich gezeigt wird, der auch im Internet frei heruntergeladen werden kann. 
Die Bewegung ist basisdemokratisch organisiert und kommuniziert vor allem über das Internet miteinander. Weil es keine erklärte Spitze der Initiative gibt, war die Verwunderung groß, als vor zwei Jahren Tagesmutter Wiest eine Petition an den Bundestag formulierte, in der sie forderte, das Grundeinkommen einzuführen. Nach einem kurzen Schreckmoment unterzeichneten mehr als 50 000 Befürworter die Petition. Viele von ihnen berichten, dass sie die Idee aus einer politischen Lethargie befreit habe, und tauschen sich seither regelmäßig aus.
Unumstrittener Kopf der Bewegung aber ist Unternehmer Werner, der seit Jahren in Vorträgen für seine Idee wirbt. Seine sympathische, durchaus vom Glauben an das Gute im Menschen hergeleitete Logik: Erst mit einem Grundeinkommen könne ein Arbeitnehmer einem Arbeitgeber auf Augenhöhe begegnen. Sei die Stelle für ihn nicht attraktiv genug, habe er die Macht, darauf zu verzichten. 

Werner glaubt, dass durch den umgestalteten Sozialtransfer eine Lücke geschlossen wird. Denn als sich die Gesellschaft von einer Gemeinschaft der Selbstversorger zum Fremdversorgungssystem entwickelt habe, wurde Arbeit zur wichtigsten Entlohnungsquelle. Werde die Produktivkraft nicht mehr benötigt, müssten Menschen anders am Volksvermögen beteiligt werden. Seine jüngste Publikation zu dem Thema trägt den Untertitel „Freiheit, Gleichheit, Grundeinkommen“. Dass er seine Idee zu 100 Prozent über eine erhöhte Mehrwertsteuer finanzieren will, was vor allem Geringverdiener treffen würde, legen ihm einige Gegner als bewusste Festschreibung der aktuellen sozioökonomischen Verhältnisse aus.
Weitaus grundlegender ist die Kritik von Ökonomen und Sozialphilosophen an seinem Modell. Selbst die „Schrumpfversion“, die Ökonom Straubhaar und der ehemalige thüringische Ministerpräsident Althaus vorgelegt haben, würde zu Mehrkosten von 220 Milliarden Euro führen, errechneten Ökonomen um den Finanzwissenschaftler Clemens Fuest. Selbst in der zurückhaltendsten Variante wäre also jeder neu geschaffene Job mit mehr als einer halben Million Euro subventioniert. Die Wirtschaftsweisen sprechen deshalb von einem „wirtschaftspolitischen Vabanquespiel“. Auch die Zielgenauigkeit stellen Fachleute in Frage, weil viele Bürger den Transfer erhalten würden, die nicht darauf angewiesen seien.
Und aus philosophischer Sicht ist folgende Kritik zu hören: Der Staat würde noch mehr als ohnehin schon als Auszahlstelle von Sozialtransfers wahrgenommen werden. Welche Folgen ein Grundeinkommen auf die Bereitschaft hätte, etwas für den Staat zu leisten, ist unabsehbar. Und auf die Frage, ob der Staat unabhängig von der Bedürftigkeit seine Bürger alimentieren soll, haben die liberale, die sozialdemokratische und die katholische Soziallehre dieselbe ablehnende Antwort.

 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 06.12.2011 Seite 18



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