[Debatte-Grundeinkommen] Vom Recht auf Pflicht, Mensch zu sein...

Dagmar Paternoga paternoga2000 at yahoo.de
Fr Sep 24 13:50:41 CEST 2010


Lieber Jörg,
vielen Dank für Deine Antwort. Natürlich meinte ich nicht, dass Menschen in Afrika besonders "gut" sind Du sicherlich auch nicht, dass Menschen in der Ukraine besonders "schlecht" sind. Das wäre ja eine blödsinnige Debatte, oder?
In allen Ländern sowohl in Afrika als auch in Lateinamerika, in denen bisher basic income oder bedingungsloses social cash transfer (siehe auch FIAN www.fian.org) durchgeführt wird oder wurde, sehen wir ähnliche Ergebnisse. Natürlich haben Menschen immer gearbeitet für Ihr Überleben und wir wollen auch nicht die Erwerbsarbeit abschaffen, sondern die finanzielle Absicherung von der Erwerbsarbeit abkoppeln, so dass jede/r kann aber nicht erwerbsarbeiten muss. Es gibt darüber hinaus auch noch viele andere sinnvolle Tätigkeiten, Alte pflegen, Kinder erziehen, sich politisch engagieren, künstlerisch tätig sein etc. Bei Umfragen, die wir des öfteren in Bonn auf dem Marktplatz oder bei Veranstaltungen gemacht haben: Was würden Sie tun, wenn Sie z. B. € 1.000 Grundeinkommen bekämen?  gab es niemanden, der oder die äußerte, sie würden von nun an nie wieder etwas tun. Was sie tun wollen und wieviel Zeit sie dafür einbringen wollen, das war
 natürlich  unterschiedlich. Wir hatten vor einigen Jahren (Du wirst Dich sicher erinnern, Du bist ja ein "alter Hase" in dieser Debatte) den Slogan geprägt "Von Arbeit muss mensch leben können und ohne Arbeit auch".

Nun kommen wir eigentlich zum Arbeitsbegriff, mit dem wir ein Seminar füllen können. Nur kurz: Im umfassenden Sinne bedeutet Arbeit alles, was Menschen tun. Dazu gehören so unterschiedliche Tätigkeiten wie Weizen ernten, Atombomben entwerfen, Kinder erziehen, Bilder malen usw.usw. 
Arbeit meint also all die Tätigkeiten, die eine Gesellschaft für wichtig und notwendig hält, die getan werden müssen, damit eine Gesellschaft funktioniert.Im kapitalistischen Wirtschaftssystem zählt nur als Arbeit, was bezahlt wird, also die Erwerbsarbeit. Das ist ein Problem, denn nicht alle sinnvollen Tätigkeiten werden bezahlt (Kinder erziehen, Oma und Opa pflegen u.a.).
Die Frage ist aber, ob das in der heutigen Zeit noch gelten kann, bei einem hohen Arbeitslosensockel bei uns, in der EU und weltweit. Außerdem nimmt die Zahl der prekär Beschäftigten und Niedriglohnverdiener zu, die von ihrer "Arbeit" nicht mehr leben können. 

Du willst zurück zur Vollbeschäftigung: Vollbeschäftigung gab es in einem kurzen historischen Moment nur in den westlichen Industriestaaten unter ganz speziellen Bedingungen und blieb auf weisse Männer als "Familienernährer" beschränkt. Frauen waren in der Regel Hausfrauen oder "Zuverdienerinnen". Die Erwerbsarbeit und daraus erworbene sozialversicherungsrechtliche Ansprüche bildeten die männliche Form der Existenzsicherung, während (Haus)Frauen vom Erwerbseinkommen des Mannes abhängig blieben. Die unbezahlt von Frauen geleistete Familienarbeit, wurde nicht bezahlt, es ergaben sich keine eigenen sozialrechtlichen Ansprüche und diese Arbeit wird bis heute abgewertet. Männliche Vollbeschäftigung war nur möglich auf Kosten der Ausgrenzung von Frauen. In den Ländern des Südens gab es nie Vollbeschäftigung in diesem Sinne.

Da tauchen ja auch weitere Fragen auf: Vollbeschäftigung für mehr als 6 Milliarden Menschen auf der Welt? Was sollen die denn alles produzieren und wer soll das kaufen? Würde unsere Erde das ökologisch eigentlich verkraften? Reichen die Ressourcen für noch mehr Massenproduktion?
Wenn der Anspruch auf ein gutes Leben für alle realer werden soll, dann muss sich nicht nur die Verteilung des Reichtums ändern. Dann muss auch hergestellt werden, was ein gutes Leben für alle möglich macht. Dann darf die Produktion nicht mehr nach dem Marktwert ausgerichtet werden, sondern nach den Bedürfnissen der Menschen.

Noch kurz zum Recht auf ein gutes Leben. Das ist übrigens seitt langem Attac-Psoition, dass alle Menschen allein auf Grund ihrer Existenz das Recht auf ein gutes Leben haben, unbedingt und ohne Gegenleistung. Das ist natürlich in der politischen Debatte nicht unumstritten. Besonders frühere sozialdemokratische Bundeskanzler haben sich darin hervorgetan, Pflichten vor Rechten zu betonen. Gerhard Schröder erklärte, es gebe keine Rechte ohne Pflichten und wollte Arbeitslose vor allem fordern. - Die Folgen sehen wir bei Hartz IV. Menschenrechtlich gibt es Rechte ohne Pflichten z.B. Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Menschenrechte sind immer bedingungslos. Sie begründen zwar auch Pflichten, aber nicht derjenigen, die die Rechte trägt, sondern derjenigen, die sie verletzen könnten. So besteht ihr Charakter gerade darin, dass sie eine vorbehaltlose Bejahung der anderen darstellen. Menschenrechte können verletzt werden und das
 geschieht leider auch dauernd. Was das Menschenrecht auf soziale Teilhabe angeht, so ist es nicht nur eine Forderung, sondern in in der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte"  festgeschrieben. Dort heißt es: "jeder Mensch hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet - einschl. Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztlicher Versorgung und notwendigte soziale Leistungen ... sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust siener Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände." Dieses Recht wird von vielen Staaten auch der Bundesrepublik verletzt und es könnte durch ein bge zumindest teilweise wieder hergestellt werden.


Viele Grüße
Dagmar

--- Joerg Drescher <iovialis at gmx.de> schrieb am Fr, 24.9.2010:

Von: Joerg Drescher <iovialis at gmx.de>
Betreff: Re: [Debatte-Grundeinkommen] Vom Recht auf Pflicht, Mensch zu sein...
An: paternoga2000 at yahoo.de, debatte-grundeinkommen at listen.grundeinkommen.de, "Martina Steinheuer" <m3stein at yahoo.de>
Datum: Freitag, 24. September, 2010 05:49 Uhr



 
 

Hallo Dagmar,
 
danke auch für Deine Antwort...
 
Die Geschichten aus Afrika zeigen ein Ergebnis auf 
Basis einer bestimmten Kultur... Jene Menschen fühlen sich vielleicht eher 
selbstverpflichtet, mit ihren Möglichkeiten etwas anzustellen. Daraus zu 
schließen, das wäre eine allgemeine menschliche Eigenschaft führt mich zu der 
Frage, weshalb wir dann nicht in einer "guten Welt" leben. Kollidieren nicht 
genau diese unterschiedlichen Vorstellungen einer "guten Welt", weshalb es nicht 
so ist? Oder will mir jemand sagen, daß die rechtlichen Rahmenbedingungen nicht 
für eine "gute Welt" gedacht sind?
 
Wir haben ein Recht zu leben - Zustimmung! - Wir 
haben ein Recht, ein gutes Leben führen zu können - Zustimmung! - Aber dürfen 
wir das auch? Wer hält uns davon ab? Die Behauptung, die "Pflicht zur Arbeit" 
empfinde ich als Entschuldigung...
 
Es ist übrigens nicht richtig, daß man sich diese 
Rechte nicht erarbeiten muß und auch nicht dazu gezwungen wird. Das geht sogar 
aus der "Natur des Menschen" hervor, was wir aber offensichtlich vergessen haben 
(weil wir in einer solchen Kultur leben). Man braucht sich nur allein auf eine 
einsame Insel versetzen und ganz schnell wird man merken, daß man durch den 
natürlichen Stoffwechsel "gezwungen" wird, etwas zu unternehmen.
 
Hannah Arendt meinte auch, daß die Menschenrechte 
eine allgemeingültige, bedingungslose Angelegenheit wäre - mußte aber 
feststellen, daß dem nicht so ist. Sie wollte aus diesem Grund ein Recht, Rechte 
zu haben (was es übrigens nach Art. 6 der UN-Menschenrechte gibt). Nur, damit 
wiederhole ich mich, was nützt mir jeder Recht, wenn ich es einerseits nicht 
einklagen kann, was zwei Dinge voraussetzt: Jemand fühlt sich verpflichtet und 
jemand hat das Recht, diese (seine) Pflicht umzusetzen.
 
Wer genug Geld hat, könnte ja mal versuchen, ein 
BGE-Pilotprojekt in einem ukrainischen Dörfchen zu machen. Einerseits dürfte das 
mit den rechtlichen Vorbedingungen schwierig werden, andererseits könnten die 
Ergebnisse (im Vergleich zu Afrika) sehr überraschen. Aber das sind 
Spekulationen...
 
Viele Grüße aus Kiew,
 
Jörg (Drescher)
Projekt Jovialismus
 

  ----- Original Message ----- 
  From: 
  Dagmar 
  Paternoga 
  To: debatte-grundeinkommen at listen.grundeinkommen.de 
  ; Martina 
  Steinheuer 
  Sent: Thursday, September 23, 2010 10:44 
  AM
  Subject: Re: [Debatte-Grundeinkommen] Vom 
  Recht auf Pflicht,Mensch zu sein...
  

  
    
    
      Hier eine kurze Rückmeldung:
Ich kann mich den 
        Ausführungen von Martina nur anschließen und möchte darauf hinweisen, 
        dass  sowohl beim basic income Projekt in Nambia und auch bei 
        ähnlichen Projekten im südlichen Afrika, z.B. Sambia, die Ergebnisse 
        zeigen, dass die Menschen auch ohne Bedingungen und Vorschriften genau 
        wissen, wie sie sinnvoll mit dem Einkommen umgehen (siehe auch 
        bignam.org).
Abgesehen davon bin ich der Meinung, dass Menschenrechte 
        ein Recht sind für jeden Menschen auf Welt gültig, ohne dass zuerst 
        Bedingungen daran geknüpft werden. Wir haben das Recht zu leben und ein 
        gutes Leben führen zu können, das muss sich niemand erarbeiten oder dazu 
        gezwungen werden.
Viele Grüße
Dagmar

--- Martina Steinheuer 
        <m3stein at yahoo.de> schrieb am Mi, 22.9.2010:

        
Von: 
          Martina Steinheuer <m3stein at yahoo.de>
Betreff: Re: 
          [Debatte-Grundeinkommen] Vom Recht auf Pflicht, Mensch zu 
          sein...
An: 
          debatte-grundeinkommen at listen.grundeinkommen.de
Datum: Mittwoch, 
          22. September, 2010 22:52 Uhr


          Der Versuch einer 
          Antwort:

MIR gefällt der Text zu den "Menschenpflichten" 
          überhaupt nicht. Nicht, dass ich inhaltlich großartig etwas daran 
          auszusetzen hätte; im Großen und Ganzen steht ja nichts umwerfend 
          Neues darin. 

Doch was für ein Menschenbild steckt denn 
          eigentlich hinter solch einem "Pflichtenkatalog"?

Soll ich mir 
          das so vorstellen, dass ein Mensch geboren wird und dann irgendwann, 
          mit Erlangung der nötigen Reife quasi zwei Entscheidungsmöglichkeiten 
          zur Auswahl hat: "Gut" zu werden und sich diesen ganzen Pflichten zu 
          beugen oder eben "schlecht" zu werden um den Preis von 
          Sanktionen.

Sind wir Menschen denn tatsächlich bloß eine Art 
          leeres Gefäß, dass man erst mit einem Katalog von ethischen Werten 
          füllen muss?

Ich finde das einigermaßen lächerlich. Wenn ich 
          ein solches Menschenbild hätte, würde ich mich wohl kaum für ein 
          Grundeinkommen einsetzten und schon gar nicht für ein 
          "bedingungsloses" in dem Sinne, dass ich eben NICHT das Akzeptieren 
          eines "Pflichtenhefts der Menschlichkeit" fordere, sondern schlichtweg 
          davon ausgehe, dass der Mensch, wenn man ihm denn die Muße und die 
          Freiheit gibt, sein Leben - materiell grundgesichtert durch ein BGE - 
          SELBST zu gestalten, aus sich selbst heraus bestrebt ist, es nicht nur 
          sich selbst, sondern auch seinen Mitmenschen gut gehen zu 
          lassen.

Was ist mit matriachalen Gesellschaftsentwürfen? Was 
          mit Allmende, an vielen Orten der Welt lange und erfolgreich im Sinne 
          des Gemeinwohls praktiziert? Auch ohne Pflichtenheft haben Menschen 
          schon vor langer Zeit gemerkt, dass Kooperation und Gemeinsinn für ein 
          friedliches Miteinander zuträglicher sind, als Habgier und Egoismus. 
          

Die Tatsache, DASS es aber all die negativen Auswüchse unseres 
          menschlichen Daseins gibt, ist kaum ein Beweis dafür, dass wir nicht 
          irgendwo tief drinnen eine Ahnung davon hätten, was uns eigentlich 
          wichtig ist.

...und mit den paar untherapierbaren Soziopathen, 
          die es sicher - aus den unterschiedlichsten Gründen - geben mag (1 bis 
          4 pro 100, habe ich mal gelesen), werden wir als menschliche 
          Gemeinschaft sicher fertig, wenn wir nur aufhören, deren Eigenschaften 
          für besonders ehrenvollen Handlungsweisen zu halten und sie auch noch 
          belohnen. 

Nein, auch ich bin der Meinung, es braucht KEIN 
          "Recht zur Pflicht". Damit verbiegen wir nämlich gleich schon wieder - 
          kleingeistig und ängslich; Thomas Hobbes im Hinterkopf, der Mensch sei 
          dem Menschen doch bloß ein Wolf...

Gruß,
Martina 
          Steinheuer


Am 17.09.2010 16:56, schrieb Joerg 
          Drescher: 
          Hallo zusammen, 

offenbar ist 
            diese Diskussionsliste etwas eingeschlafen, was hoffentlich nicht 
            heißt, daß es keine Diskussion mehr über das Grundeinkommen gibt. 
            Ich möchte hiermit einen Austausch anstoßen, der sich auf das 
            "Grundeinkommen als Recht" bezieht. 

Wer sich ein bisschen 
            mit Recht beschäftigt, sollte prinzipiell darauf kommen, daß es 
            jemanden geben sollte, bei dem dieses Recht "einklagbar" ist. Dies 
            ist in Bezug auf Nichtstaatsbürger interessant, wenn es um das 
            "Grundeinkommen als Recht" geht. Hannah Arendt forderte zum Beispiel 
            in Bezug auf die Menschenrechte ein "Recht, Rechte zu haben". 
            

Wer den Film von Häni/Schmidt gesehen hat, dürfte die 
            Aussage kennen (die im Beiheft auf Seite 18 zu finden ist), daß es 
            kein "Recht auf Pflicht" gäbe. Seit ich den Film zum ersten Mal sah, 
            stieß mir diese Aussage sauer auf, da für mich dieses "Recht auf 
            Pflicht" eine zentrale Bedeutung hat und ich es sogar als 
            fundamentales Naturrecht betrachte. Nun ist leider (wie so vieles in 
            dem Film) unklar, was damit eigentlich gemeint ist. 

Welche 
            Folgen allerdings die Aussage "Es gibt kein Recht auf Pflicht" haben 
            würde, kann man sich an der "Allgemeine Erklärung der 
            Menschenpflichten" vom 1. Sept. 1997 ausmalen, die ich im 
            Zusammenhang mit der Einführung eines Grundeinkommens für essentiell 
            sehe: 
http://www.interactioncouncil.org/udhr/de_udhr.html 
            

Vor allem Art. 9 ist Voraussetzung für ein Grundeinkommen... 
            Aber wenn es niemand mehr als sein Recht ansieht, solche Pflichten 
            zu erfüllen (weil es ja laut Häni/Schmidt kein "Recht auf Pflicht" 
            gibt), möchte ich nicht wissen, was mit der Menschheit passieren 
            würde... 

Ich hoffe, auf der Liste sind noch ein paar Leute, 
            die an einem Austausch über das Thema "Grundeinkommen als Recht" 
            interessiert sind. 

Viele Grüße aus Kiew, 

Jörg 
            (Drescher) 
Projekt Jovialismus 
            
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