[Debatte-Grundeinkommen] Öffentliches Interesse und Gemeininteresse

Joerg Drescher iovialis at gmx.de
Mi Okt 27 09:44:29 CEST 2010


Hallo zusammmen,

danke erstmal für die interessanten Antworten in Bezug auf meine Frage, inwiefern das Grundeinkommen von öffentlichem Interesse ist.

Tatsächlich knüpft die Frage ein Stück weit an die letzte Diskussion über "Recht und Pflicht" an, was durch den Umstand gegeben ist, daß ich Jellinek in beiden Fällen als Grundlage genannt hatte. Allerdings geht es in diesem Fall über die "Vorstufe" zum Recht, weshalb wir uns auch gar nicht über das Thema "Recht und Pflicht" unterhalten brauchen... Das Wort "Interesse" stammt aus dem Lateinischen und hat etwas mit der "Anteilnahme am Sein" zu tun ("inter" - zwischen, mitten; "esse" - sein), wobei das "Sein" die verschiedensten Ausprägungen annehmen kann: Dinge, Personen, Informationen, Tätigkeiten...

Aus den drei (bisherigen) Antworten zum Thema geht folgendes hervor: Das Grundeinkommen sei deshalb von "öffentlichem Interesse", da es jeden Einzelnen etwas angeht, dieser gestärkt und das Gemeinwesen (bürokratisch) entlastet wird.

Die Antworten zeigen, daß sich die Katze in den Schwanz beißt: Das Grundeinkommen geht nur dann jeden etwas an, wenn es von "öffentlichem Interesse" wäre - alles weitere sind Folgen des Gemeininteresses und nicht dessen Grundlage. Vielmehr scheint das Grundeinkommen bisher nur ein Wunsch zu sein, "öffentliches Interesse" zu wecken. Dem steht die Lebenswirklichkeit einer weitaus breiteren Öffentlichkeit (der Mehrheit) gegenüber:

Viele haben die Möglichkeit, ihre Interessen selbstbestimmt wahrzunehmen (weil sie über ausreichend Einkommen verfügen und sich "sinnvoll" beschäftigen können). Würden wir uns mit unserem "Selbstversorgtsein" zufrieden geben oder würde sich bei uns der Wunsch entwickeln, daß andere auch "versorgt" sind? Und wären wir im Fall "Selbstversorgtsein" bereit, etwas von unserem "Versorgtsein" abzugeben, damit das "Versorgtsein" der anderen (uns weitgehendst fremden Mitmenschen) gewährleistet ist? Impliziert die letzte Frage nicht die Möglichkeit, daß unser "Versorgtsein" durch die permanente Gewährleistung anderer "Versorgtseins" abnimmt? (Achtung! Die Frage beruht auf einer Mangelvorstellung, wie sie z.B. bei Hobbes und anderen vorkommt).

Es gibt hier einen wesentlichen Unterschied zwischen "Versorgtsein" (Zustand) und "Versorgung" (Tätigkeit). Manche sprechen nämlich von "Fremdversorgung", was nicht gleichzusetzen ist mit "Fremdversorgtsein", denn die "Fremdversorgung" ermöglicht uns das "Selbstversorgtsein". Aber ein Grundeinkommen würde bedeuten, daß wir "Fremdversorgt" wären (was wir im Prinzip schon heute sind, da kaum mehr jemand von "eigener-Hände-Arbeit" existiert - Selbstversorgung; vielmehr suggeriert die "Fremdversorgung" anderer ein Gefühl des "Selbstversorgtseins"). Aber hier stellt sich die Frage, ob das Gefühl (!!!) des "Fremdversorgtseins" im "öffentlichen Interesse" sein kann - zusätzlich mit der verbundenen Angst (ein Gefühl), daß das "Selbstversorgtsein" darunter leidet. Vielen, die heute auf "Leistungen des Staates" angewiesen sind, wird das Gefühl vermittelt, "Fremdversorgung" in Anspruch zu nehmen. Entsprechend ist es nicht verwunderlich, daß diese Personengruppe (zwar stetig wachsend, aber immer noch in der Minderheit) für ein Grundeinkommen Interesse zeigen, da sie sowieso schon in dem Gefühl des "Fremdversorgtseins" leben.

Vor einigen Jahren meinte ich einmal: "Denken zerstört das Gefühl" - Darf dies allerdings zum "öffentlichen Interesse" werden?

Wir haben es hier mit mehreren Spannungsverhältnissen zu tun: Intereresse und Wunsch; Selbstversorgung (Selbstversorgtsein) und Fremdversorgung (Fremdversorgtsein); Denken und Gefühl

Viele Grüße aus Kiew,

Jörg (Drescher)
Projekt Jovialismus


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