[Debatte-Grundeinkommen] "Gegenleistung" fürs BGE [Re: Recht auf Pflicht (Joerg)]

Joerg Drescher iovialis at gmx.de
Fr Okt 8 20:28:16 CEST 2010


Hallo AgneS, und wen's sonst noch interessiert,

die moralische Frage und Begründung mag in Deinen Augen keinen Sinn haben, weil eben irgendwelche "Mächte" dagegen sprechen, dennoch "wunderte" sich schon Darwin (wertneutral):
Unter den Wilden werden die an Körper und Geist Schwachen bald eliminiert; die Überlebenden sind gewöhnlich von kräftigster Gesundheit. Wir zivilisierten Menschen dagegen tun alles mögliche, um diese Ausscheidung zu verhindern. Wir erbauen Heime für Idioten, Krüppel und Kranke. Wir erlassen Armengesetze, und unsere Ärzte bieten alle Geschicklichkeit auf, um das Leben der Kranken so lange als möglich zu erhalten.

Macht ist eine Kraft, die Goethe im Faust durch Mephistos Selbstverständnis erklärbar ist: Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft. Jellinek spricht deshalb (da er öfters auf Goethe Bezug nimmt) von der "normativen Kraft des Faktischen". Um das zu verstehen, sollte man allerdings das Original lesen: "Allgemeine Staatslehre" , Kapitel 11, Staat und Recht. http://www.archive.org/details/allgemeinestaats00jelliala (ist deutsch).

Wenn man das durch hat, wird man wahrscheinlich verstehen, wie Recht entsteht. Damit sollte klar werden, warum wir noch kein Grundeinkommen haben und wie wir es vielleicht doch erreichen: das Faktische muß eine normative Kraft entwickeln.

Die von mir so gern genannte "Pflicht" hat in meinem Verständnis viel mit Reife zu tun. Und es entwickelt sich weltweit eine neue "Kultur der Reife", die mit LOHAS, LOVOS oder "Creative Culture" umschrieben wird. Die "einfachen Leute" kommen weniger mit propagierten Freiheiten durch ein Grundeinkommen zurecht, als mit nachahmungswürdigen Vorbildern, die zeigen, wie man leben kann/soll. Deshalb entwickelt sich diese Kultur auch wesentlich schneller und konkreter als die abstrakte und erklärungsbedüftige Idee eines Grundeinkommens, die erst irgendwann in Zukunft "möglicherweise" Erfolg hat und keine praktische Anwendung aufzeigt: Außer einem begründeten "Ich will, ich will, ich will..." kommt nicht viel rüber, was eher Unreife zeigt. Wenn diese "neue Kultur" allerdings normative Kraft entwickelt, wäre ein Grundeinkommen in meinen Augen problemlos möglich... Ich bin zuversichtlich, denn das Leben könnte so einfach sein :-)

Viele Grüße aus Kiew,

Jörg (Drescher)
Projekt Jovialismus


  ----- Original Message ----- 
  From: Agnes Schubert 
  To: debatte-grundeinkommen at listen.grundeinkommen.de ; Joerg Drescher 
  Sent: Friday, October 08, 2010 12:58 PM
  Subject: "Gegenleistung" fürs BGE [Re: Recht auf Pflicht (Joerg)]


  Hallo Mitleser, 
  hallo Jörg, 

  Dein Anliegen, eine Rechtfertigung für das BGE zu finden, die außerhalb des schlichten Wollens der BGE-befürworter liegt, ist absurd und nutzlos. 
  Ob wir die kleinen Kinder ("... wie kleine Kinder da stehen und kreischen: Ich will! Ich will! Ich will!...") sind, oder die Eltern in dem Spiel, zeigt sich eben letztlich daran, ob wir die Macht haben, es durchzusetzen.
  Haben wir die Macht hingegen nicht, dann kann es immer noch sein, dass quengeln (etwa in der Art: "Ich will, ich will, ich will") hilft, wenn "den Eltern" die Entscheidung für oder gegen BGE nicht so wichtig scheint und sie aber Ruhe bzw. sozialen Frieden wollen.

  Wenn man sein Verlangen bekundet (z.B. geliebt zu werden), dann ist das ein Fakt, der gar keiner Begründung bedarf. Diese alberne ständige Suche nach moralischer Rechtfertigung ist eine Absurdität. Wenn Unternehmen die Umwelt mit ihrer Produktion versauen, dann begründen sie es in der Regel mit dem Schaffen/Erhalten von Arbeitsplätzen - dabei geht es eigentlich nur um ihre Kapitalrendite, wenn Kriege um Öl oder überhaupt um Einfluss geführt werden, begründet man es gerne mal mit den Menschenrechten, ... 
  Wenn man Arbeitslosengeld, Hartz4, ... zur Sicherung des sozialen Friedens und somit des ungestörten Fortgangs der Geschäftemacherei von staatlicher Seite gewährt, dann verkauft man es den dafür zur Kasse gebetenen Steuerzahlern als Wohltätigen Akt, der dem Mitleid geschuldet sei. 
  Doppelte Moral vorzuwerfen ist aber fehl am Platze. Noch jede Moral ist letztlich in dieser Art doppelt. Man suggeriert mit der moralischen Begründung sein eigenes Anliegen als Teil einer höheren Bestimmung, eines höheren Wertes, in der Hoffnung, das andere sich diesem höheren Wert anschließen. Es ist aber eine alberne Rechtfertigung, die oft genug nur genau dann aufgeht, wenn die anderen eben schon unabhängig von der moralischen Begründung ein persönliches Interesse an eben diesem Anliegen haben.
  Was heißt das jetzt fürs BGE?
  Klar kann man sagen, eine "freie Gesellschaft" hat die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass alle Menschen (/alle Menschen die unter ihrer Hoheit leben / oder: alle Menschen die unter den Bedingungen, die diese Gesellschaft in der Welt setzt existieren müssen) ein "Recht" auf Existenz haben, das heißt, dass alle Menschen existieren können. Wenn man genügend Anhänger findet, die eine "freie Gesellschaft" auch so definieren und auch eine solche wollen, kommt man der Sache dann näher. Es reicht aber auch zu sagen, ich will existieren, ohne mich all zu sehr zu verbiegen, oder immerzu auf Knien zu rutschen. Dann fragt man seinen Nachbarn, ob man er das für sich auch will, und ob man vielleicht gemeinsam dafür streiten will, usw. Findet man dann auch noch welche, die kein Interesse daran haben, in der Fußgängerzone ständig angebettelt zu werden, oder aber selber mit Existenzsorgen in die ungewisse Zukunft zu schauen, so kann man vielleicht auch jene zu Mitstreitern machen. Schaut man dann mal warum FDPler meinen, dass die Wirtschaft besser brummt, wenn man ein negative Einkommenssteuer und Kombilohnmodell auf die Beine stellt, dann kann man schauen, ob man mit ihrem Anliegen ein Kompromiss machen kann, wenn man sie denn für die Erlangung einer Mehrheit (für die Machtfrage) braucht.

  Wozu also die scheinheiligen moralischen Rechtfertigungsversuche? Selbst wenn du dabei etwas findest, was dich selbst total "überzeugen" könnte, heißt das nicht, dass BGE-Gegnern dann gleich ihre eigenen Anliegen egal sind und sie jetzt die deinen übernehmen müssen. 

  Und hier - zum eigenen Hohn dessen, was ich gerade geschrieben habe - ein paar Floskeln, die deinem wohl dennoch anhaltenden Wunsch  nach moralischer Rechtfertigung eines BGE Rechnung ( "mir fehlt es in der Diskussion an außerrechtlichen, ethischen und rein menschlichen, nichtmonetären Werten - zumindest als "Gegenleistung" für die Auszahlung eines Grundeinkommens.") tragen sollen:

  - Stillhalteprämie, mit dem BGE verpflichten sich die Mitglieder der Gesellschaft nicht grob vorsätzlich gegen wesentliche Regeln des entsprechenden sozialen Systems zu verstoßen. Das heißt, dass man z.B. noch etwas wieder verlieren kann, wenn man in den Knast geht (Abstandsgebot der Stillhalter gegenüber den Straftätern, wie das immer angeführte: Abstandsgebot der Einkommen der Mitläufer gegen die Einkommen der Stillhalter) 

  oder aber noch mehr B im BGE: 
  - Stillhalteanreiz: Wer gegen den Staat und seine Einnahmequellen handelt, wird nicht persönlich mit Abzug bestraft, sondern untergräbt tatsächlich seine eigene Existenz, wenn der Staat eben die Höhe seines eigenen BGE festlegt. 

  Noch eine besonders witzige Rechtfertigung, wie ich finde:
  - Sicherung der Arterhaltung "Mensch" durch Erhalt der verschiedensten Lebensentwürfe, auch wenn sie sonst in der jeweiligen Gesellschaft allein ohne Hilfe so nicht existenzfähig sind. Das führt zur Diversifizierung und somit stabilisiert es die Menschliche Gesellschaft wie sogar letztlich und besonders die Menschliche Art gegen Änderung der Existenzbedingungen. Das macht man mit allen möglichen Pflanzen- und Tierarten. Wer auf die Rücksicht nimmt, und wirtschaftliche Opfer bringt, um diese zu erhalten, kann auch ein paar menschliche Gene oder Verhaltensmuster stützen, die nicht zur Anpassung an die Marktwirtschaft des 21.Jh. passen. 

  - pauschale Krankenhilfe: Wer bei einem so tollen System wie der Marktwirtschaft (die ja das Ideal einer menschlichen Wirtschaftsform darstellt) sich nicht mit seinem ganzen physischen und intellektuellen Können einbringen will, um so auch seine Existenz zu sichern und ein wenig Luxus abzugreifen, muss psychisch krank sein. Als krank und hilfebedürftig gelten ja schließlich auch jene, die auf Grund von anderen menschlichen Besonderheiten  (Legasthenie, Kurzsichtigkeit, Kleptomanie,  Veranlagung zu ADS/ADHS , ...) zwar in der aktuellen Gesellschaft benachteiligt werden oder störend auffallen, nicht aber grundsätzlich in allen bisherigen oder potentiell möglichen Gesellschaftsordnungen.

  - im Nahmen der Freiheit und der Menschenrechte: Wo der Staat so viel Eigentum garantiert und der Staat die Bürger damit zuerst in die Pflicht nimmt, dieses Eigentum auch zu achten - selbst dann und gar besonders dann, wenn man kein Tum sein eigen nennen kann - hat der Staat auch die "Pflicht zum Recht" auf Nutzung Lebensnotwendiger Güter. Man stelle sich vor, bestimmtes notwendiges Gebrauchsgut wie Trinkwasser wäre nicht frei verfügbar. Man muss dem Eiogentümer etwas dafür anbieten. Nun sind aber alle Eigentümer so reich, dass sie es nicht sehr nötig haben, etwas gegen Wasser einzutauschen. Sie fordern dann Sklavenarbeit, Prostitution, Organ"spende", Auftragsmord, Schuheputzen, Lohnarbeit,... . Welche diese Forderung in der jeweiligen Gesellschaft als dem  Menschen unwürdig gelten soll, ist sehr unbestimmt. Die eigene  Würde dem menschen selber zu geben, heißt aber auch, ihn selbst bestimmen zu lassen, was er mit seiner würde vereinbaren kann.  Das geht aber nur, wenn  man  ihm die grundsätzliche Freiheit zu einer solchen Entscheidung einräumt. Wie es das Wegerecht gibt, dass Grundeigentümer verpflichtet, andere bei entsprechender Notwendigkeit durch das Grundstück durchkommen zu lassen, so gibt es auch im Grundgesetz jenes "Eigentum verpflichtet." und mit "Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen." wird das Eigentum wieder ein Stück Gemeingut. Nichts anderes bedeutet BGE. In einer Gesellschaft, wo man immer weniger Plätze zum freien Aufenthalt und Übernachten findet, wo Nahrungsmittel der Natur immer weniger zur Verfügung stehen, wo Trinkwasser nicht mehr im Fluss sondern nur noch industriell aufbereitetes als solches zählen kann, wo selbst Wasserlassen Geld kostet, muss der Staat dafür sorgen, dass die Bürger auch ohne Zwangsunterwerfung Schlafen Essen und Pinkeln können. (Solange die Eigentümer noch Interesse am Tausch haben, hat der Staat die Möglichkeit die Bewahrung des Eigentums als Gemeingut noch mittels Geld = BGE zu gewähren. man stelle sich vor, die Eigentümer der Ländereien hätten es nicht nötig mit Gewöhnlichen zu tauschen, also überhaupt Geld anzuhäufen, ...) 
  ...

  Gruß AgneS




  Jörg schrieb: 

    Hallo Peter, und wen's sonst noch interessiert,

    betrachten wir einmal folgende Fragen völlig wertfrei:
    Mit welchem Recht verlangen wir, menschenwürdig behandelt zu werden? Was verstehen wir denn überhaupt unter Menschenwürde? Sollen wir als Menschen für unsere Würde mit einem Grundeinkommen bezahlt werden und entwerten wir damit nicht die Würde zu einem reinen Geldwert? Mit welchem Recht verlangen wir überhaupt ein Grundeinkommen?

    Entschuldigung, manchmal kommt mir die Grundeinkommensdiskussion so vor, als ob wir wie kleine Kinder da stehen und kreischen: Ich will! Ich will! Ich will!... Ist das nicht ein bisschen so, als ob jemand verlangt, geliebt zu werden und dies damit begründet, weil er einfach nur existiert. Mit der alleinigen Existenz begründet er einen bedingungslosen Anspruch auf Geld, das wiederum nichts anderes ist, als von anderen irgendetwas verlangen zu "dürfen".

    So gut ich die "Bedingungslosigkeit" auch verstehen kann, so gut ich die Situation der Hartz-Geplagten nachvollziehen kann, so gut ich die monetäre Welt wahrnehmen kann, mir fehlt es in der Diskussion an außerrechtlichen, ethischen und rein menschlichen, nichtmonetären Werten - zumindest als "Gegenleistung" für die Auszahlung eines Grundeinkommens. Ich bin der festen Überzeugung, daß wir damit dem "bedingungslosen Grundeinkomen" viel näher wären, als mit einer rein geldlichen Vergütung unserer Menschenwürde...

    Letztes Jahr gab ich ein Interview und darin sagte ich:
    Ein nichtmonetäres Grundeinkommen ist sofort umsetzbar, indem jeder damit beginnt, in seinem Umfeld, in seiner Familie, im Berufsleben und in der Nachbarschaft für mehr Menschlichkeit, mehr Geduld, mehr Verständnis und mehr Achtung vor dem Andersdenkenden zu sorgen. Wir sollten öfters Danke sagen, Hilfe anbieten und die Situation anderer verstehen. Aber leider erwarten wir viel zu oft Gegenleistungen für unser Tun, weil wir von etwas leben müssen. Doch dabei vergessen wir, dass auch "Luft und Liebe" zum Leben notwendig sind.

    Viele Grüße aus Kiew,

    Jörg (Drescher)
    Projekt Jovialismus


      ----- Original Message ----- 
      From: Peter Scharl 
      To: debatte-grundeinkommen at listen.grundeinkommen.de 
      Sent: Wednesday, October 06, 2010 6:46 AM
      Subject: Re: [Debatte-Grundeinkommen] Vom Recht auf Pflicht,Mensch zu sein...


      Hallo @lle, 


      BEDINGUNGSLOS muss bleiben!  Es macht klar, dass jedwede Prüfung und jeder Druck entfallen MÜSSEN,  ... denn damit wird die Menschenwürde aller geHA(r)TZ-IVteilten momentan erheblich verletzt. In der Diskussion mit Bürgern ist diese BEDINGUNGSLOSIGKEIT auch ein sehr wichtiges Argument, das meist sofort verstanden wird.


      Mir ist auch wichtig, dass wir kein "Schlaraffenland"-Einkommen fordern, sondern dass klar wird, beim BGE handelt es sich um ein GRUND-Einkommen. JEDEr  Frau / Mann ohne Handicaps ist zuzumuten, dass sie / er, womit auch immer, für zusätzliche Bedarfe selbst sorgt. Das ist dann mit einem BGE auch stressfrei möglich.


      Bewusst machen müssen wir uns, dass die erste Einstiegsstufe eines BGE wahrscheinlich nur in relativ geringer Höhe möglich sein wird. Das wäre mir auch ziemlich egal, wenn es nur BEDINGUNGSLOS ist. In den "Häufig gestellten Fragen" auf  www.FreiheitStattVollbeschaeftigung.de ist das hervorragend skizziert.


      Ciao Peter Scharl - seit über 12 Jahren für Bürgergeld und BGE "unterwegs"
      ... Jahrgang 1942 - ... und ich möchte das BGE noch erleben!



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